Von Karl Kieser
Ihre verzweifelten Schreie zwingen mich zu gewagten Fahrmanövern. Mein Kiefer krampft, der Körper angespannt. Mit heulendem Motor schießen wir an den gemächlich fahrenden anderen Autos vorbei. Immer nur kurz nach rechts reindrängeln, um den Gegenverkehr eine Chance zu lassen. Kreischende Bremsen und empörtes Hupen begleiten uns. Tut mir leid, Notfall an Bord. Meine kleine Tochter wimmert nun nur noch aber das Krankenhaus ist fast erreicht. Wenn ich meinem armen Liebling doch nur helfen könnte.
Die Kinderabteilung hat ein eigenes Haus. Mein Auto springt über die Bordsteinkante und kommt abrupt direkt vor dem Eingang zum Stehen. Eine Radkappe kreiselt scheppernd davon. Schnell jetzt! Ich fummele die Dreijährige mit bebenden Fingern aus dem Kindersitz, nehme sie auf den Arm und renne hinein. Ich kenne mich aus. Wir sind nicht zum ersten Mal hier.
In der Eingangshalle, in der Ecke mit der Glaswand, blitzt etwas Grünes auf. Ich bin kurz irritiert, aber jetzt habe ich andere Sorgen. Noch bevor ich zur Anmeldung komme, läuft mir Dr. Rodes über den Weg. Sie kennt uns, nimmt mir die wimmernde Susi ab und eilt mit ihr davon.
Ich bin unendlich erleichtert, die Verantwortung für unser Sorgenkind in kompetente Hände übergeben zu haben, aber die Angst bleibt. Ich kann mich nur ein paar Schritte von der Milchglastür mit der Aufschrift ‚KEIN ZUTRITT‘ entfernen.
Endlich: Dr. Rodes lächelt beruhigend. „Es ist nicht so schlimm. Unser kleiner Sonnenschein hat etwas dramatisiert. Wir behalten sie erst mal hier. Sie schläft jetzt. Braucht absolute Ruhe. Morgen telefonieren wir.“
Sie ist kurz und knapp wie immer. Trotzdem muss ich gegen die Versuchung kämpfen, sie in den Arm zu nehmen. Ich weiß ja, das mag sie nicht. Und ich weiß auch, dass sie mich mit diesen Worten nach Hause schickt. Quengeln und Betteln zwecklos.
Mit einem Mal ist der Flur wieder hell. Ich kann endlich frei atmen. Mein Augenstern ist in guten Händen. Ich kann der Kleinen am meisten damit helfen, indem ich sie jetzt ungestört schlafen lasse.
Dr. Rodes ist schon wieder verschwunden. Erleichtert, fast beschwingt mache ich mich auf den Weg zum Auto. In der Eingangshalle fällt mir sofort die Ecke mit dem grünen Arrangement auf. Das muss neu sein.
Ein älteres Paar steht davor. Vielleicht sind sie hier, um ein Enkelkind zu besuchen. Der alte Herr schüttelt den Kopf. Er gibt sich keine Mühe, leise zu sprechen, als er sich an seine Frau wendet:
„Was soll das denn? Du bist doch so kulturbesessen, Else. Also, erklär mir das mal.“
Doch Else ist zunächst genauso ratlos wie ihr Gatte. Außerdem ist ihr sein Auftritt wohl etwas peinlich.
„Sei doch bitte nicht so laut, Hans. Es muss doch nicht jeder wissen, was für ein Kunstbanause du bist.“
„Das ist mir doch wurscht. Wenn ich sowas sehe, dann fühle ich mich provoziert.
Ist da nicht irgendwo ein Schild, wo draufsteht, was wir uns dabei denken sollen?“
Hans hat seine Lautstärke nur unwesentlich heruntergefahren. Ich muss ihm heimlich recht geben. Ich hätte auch gerne gewusst, was sich die Klinik bei diesem Aufbau gedacht hat.
Else hat sich inzwischen mit dem Gebilde auseinandergesetzt und kommt zu einem vorläufigen Ergebnis:
„Jetzt sei doch nicht so ungeduldig. Ich glaube, ich weiß, was uns dieses Werk sagen soll. Nur die Bedeutung des zielenden Försters kann ich mir noch nicht erklären.“
„Werk? Das ich nicht lache! Und Förster? Das sind alberne Frösche mit Hut, die auf ihren Hinterbeinen stehen. Und dann der Kleine in der Mitte. Soll das ein Rollator sein, an dem er sich festhält? Da ist doch ein Schild an dem Wägelchen. Was steht da? Rente? Fährt er mit dem Ding seine Rente spazieren? Die ist dann natürlich in bar. Womöglich in Münzen? Ja, genau und dein Förster ist sein Bodyguard.“
Hans ist in seiner Empörung immer lauter geworden. Seine Else zischt ihn an:
„Sei bitte leise, Hans. Ich erkläre es dir ja, soweit ich es verstehe.“
Doch Hans hat inzwischen den vollen Durchblick. Kaum leiser, aber mit Triumph in der Stimme tönt er:
„Es ist doch völlig klar, was hier dargestellt wird. Mit etwas logischem Denken kommt auch jeder drauf: Die dicke Krankenschwester winkt uns heran, damit wir uns in dem Wägelchen an der Rente bedienen und der Bodyguard will das mit seinem Schießgewehr verhindern.“
Ich bin überrascht darüber, zu welchen Rückschlüssen Hans gekommen ist. Hätte nicht auch ein räuberischer Überfall dargestellt werden können? Else dagegen, kommt zu einem gänzlich anderen Ergebnis.
„Also wirklich, Hans. Wie kannst du bei diesem Bild nur auf so kriminelle Ideen kommen. Du musst doch das Gesamtkonzept im Auge behalten. Wir sind hier in einem Krankenhaus, einem Kinderkrankenhaus.“
„Ja eben, eine Krankenschwester mit goldlackierten Finger- und Fußnägeln ist mir gleich frivol vorgekommen.“
Else scheint unangenehm berührt. „Was du dir da nun wieder zusammenreimst. Ich könnte mir vorstellen, dass der Künstler von der Klinikleitung die folgenden Auflagen bekommen hat: Die Kreation soll lustig sein, einen Bezug zum Krankenhaus haben und beruhigend wirken.“
Hans ist unbeeindruckt. „Bei mir wirkt der Anblick eher blutdrucksteigernd.“
„Wie wäre es, wenn du dir meine Erklärung einmal in Ruhe anhörst!“ Das war keine Frage. Else spricht so leise wie zuvor, aber ihre Stimme ist jetzt scharf wie ein Rasiermesser. Hans kennt wohl die Anzeichen. Er lenkt sofort ein.
„Okay, schieß los.“
„Die Glaswand flutet diese Stelle mit viel Licht. Früher hat die Ecke daher eher kalt gewirkt. Nun, mit den großblättrigen Pflanzen im Hintergrund und den Figuren im Vordergrund, wird viel Grün angestrahlt und grün ist beruhigend.
Und für Kinder sind Tiere in so einem Kunstwerk Ideal. Stell dir dagegen eine Lebensgroße Figur von Hippokrates oder Sauerbruch vor. Das wäre in dieser Umgebung eindeutig zu kopflastig.“
„Na schön,“ brummt Hans „aber warum Frösche? Nur weil sie grün sind?“
„Frösche sind harmlose, aggressionslose Tiere. Und lustig sind sie auch. Denk nur an Kermit oder Friedolin und Kröti vom Wetterbericht.
„Und was fällt dir zu der dicken Krankenschwester ein, die uns heranlockt? Es könnte auch sein, dass das der Stinkefinger ist, den sie uns zeigt. Außerdem versteckt sie wahrscheinlich eine riesige Spritze hinter ihrem Rücken, die sie den armen Kindern hinterhältig in den Arm rammen will.“
Ich muss gestehen, dass diese Figur auch auf mich einen eher heimtückischen, gewalttätigen Eindruck macht und bin auf Elses Erklärung gespannt.
„Manchmal frage ich mich, wie ich es so lange mit dir aushalten konnte. Die Krankenschwester ist doch eindeutig der Bezug zum Krankenhaus. Sie strahlt sowohl Autorität als auch Willkommen aus und steht auch für die medizinische Hilfe.“
Hans ist nicht überzeugt. „Ich kenne den Typ. Wir hatten so eine in der Firma. Die war zwar keine Krankenschwester, sondern Controllerin, aber sie konnte genauso tückisch gucken.
Okay, in dem Fall bin ich vielleicht negativ vorgepolt, aber was sagst du zu dem Rollatorschieber?“
„Der symbolisiert uns, die Generation der Großeltern, die im Hintergrund immer bereitsteht, um mit ihrer Rente bei einem unvorhersehbaren Unglück helfend einzuspringen.“
„Vielleicht hat der Verursacher dieser grünen Ecke solche Großeltern. Die wird er auch brauchen, denn von seiner sogenannten Kunst wird er nicht leben können. Auf der anderen Seite wirst auch du schon davon gehört haben, dass es Rentner gibt, die sich jeglichen Luxus verkneifen müssen und deren Rente nicht mal für das eigene Leben reicht.
Aber jetzt kommen wir zu dem Frosch, der ein Gewehr im Anschlag hält.“
Hans ist sichtlich gespannt und auch ich bin auf Elses Erklärung neugierig. Doch sie ist eher kleinlaut und muss zugeben:
„Das ist ja der Aspekt, den ich nicht verstehe. Aber den Punkt werde ich in meiner Autorengruppe diskutieren. Dafür gibt es ganz sicher eine plausible Erklärung.“
„Na, er will selbst an den Renten-Schatz. Das wäre eine plausible Erklärung. Zielt er nicht auch auf den Rentner?
Kunst ist das jedenfalls nicht. Das verlassene Auto vor der Tür würde da schon eher passen.“
Du lieber Himmel, damit kann Hans nur mein Auto meinen. Wo werde ich das wohl wiederfinden? Mit schlechtem Gewissen renne ich hinaus.
Das Auto ist noch da. Gegen jede Regel direkt vor der Eingangstür abgestellt, zur Hälfte auf dem Bürgersteig, Fahrertür und Fondtür weit offen.
Glück gehabt. Es sieht ja auch sehr nach einem Notfall aus.
Ich muss grinsen bei der Vorstellung, jemand könnte mein Auto für ein Kunstwerk halten. Als ein Sinnbild für einen Notfall zum Beispiel. Kunst am Bau eben.
Ich werde Missverständnissen lieber mal vorbeugen: Das kommt hier weg!
Version 2