Von Brigitte Noelle
Das kleine Mädchen blickte sich erstaunt um. In welchem Wunderland war es da gelandet! Bäume ragten empor wie die Säulen einer grünen Kathedrale, Farne, beinahe so hoch wie es selbst, bildeten eine dschungelartige Wildnis. Die Stille, selten unterbrochen durch einen einsamen Ruf eines Vogels, war ein einziger lautloser Schrei. Wie ein warmes Bad umfing es die weiche, warme, leicht modrig riechende Luft.
All diese Wunder waren nur wenige Meter vom Garten getrennt verborgen gewesen, bis das Kind die schmale Lücke im Zaun zwischen den Sträuchern entdeckt hatte. Vom geheimnisvollen Zauber dieser fremden Welt angezogen, stapfte es weiter. Die Sohlen der kleinen Sandalen sanken im tiefen, feuchten Moos ein, während das Mädchen einem quarrenden Ruf folgte, dessen Ursprung es entdeckten wollte. Inzwischen suchte die Mutter, zunehmend verzweifelt, nach ihrer Tochter.
Diese hatte das Farndickicht hinter sich gelassen. Sie stampfte mit ihren Sandalen im nassen Schlick und zog sie heraus, indem die Sohlen ein lustiges, schmatzendes Geräusch machten. So näherte sich die Kleine dem Rande des Tümpels, und hier erblickte sie ihn: Er saß auf einem abgestorbenen Ast, der aus dem Wasser ragte, blähte seine Kehle auf und erzeugte dieses Quaken. Neugierig trat sie näher, einen Schritt, noch einen Schritt, und dann hatte das Abenteuer ein Ende. Sie rutschte am steilen, schlammigen Ufer aus und fiel ins Wasser. Während sie unterging, erhaschte sie noch den Blick des Frosches, der sie aus seinen kupferfarbigen Augen mit den riesigen schwarzen Pupillen anstarrte.
*
Polizeiinspektor Hundsthaler nippte an seinem Kaffee, während er gelangweilt die Serie verfolgte, die im Fernseher lief. Dieser stand auf einem der Schränke in der Dienststelle, eine gemeinschaftliche Anschaffung der Belegschaft. Der Papierkram war erledigt, und es versprach ein ruhiger Sonntag zu werden. Erst am Nachmittag waren die ersten Einsätze zu erwarten: Familienstreitigkeiten, Alkohol am Steuer, das Übliche eben.
Doch nein, seine Erwartung wurde getäuscht: Eben klingelte es an der Tür. Hundsthaler warf einen Blick auf den Überwachungsmonitor. Er kannte den Mann, einer aus dem Ort, er leitete die Regionalstelle der Versicherung, wohnte gleich neben dem Wald … wie hieß er noch mal?
„Peter Pauls“, stellte sich der Besucher vor. Hundsthaler musterte ihn. Normalerweise eine distinguierte Erscheinung, war Herr Pauls diesmal unrasiert und nachlässig gekleidet. „ich bin sofort zu Ihnen gekommen, als ich es gesehen habe! Schauen Sie sich das an!“
Er zog ein Tablet hervor und präsentierte dem Inspektor ein Foto. Der musterte es ungläubig. „Sind Sie betrunken? Wollen Sie sich lustig machen über mich? Was soll das? Drei verkleidete Frösche neben Orchideentöpfen?“
Herr Pauls atmete tief ein, versuchte sich zu beruhigen und fuhr fort: „Entschuldigen Sie, natürlich wirkt das verrückt. Aber erlauben Sie, dass ich Ihnen die Hintergründe erkläre.“
Auf Einladung des Polizisten nahm er Platz und begann zu erzählen.
„Vor zehn Jahren hatte meine Tochter Gertie einen schrecklichen Unfall.“
Hundsthaler erinnerte sich. Das kleine Mädchen wurde praktisch in letzter Minute gerettet.
„Sie lag danach wochenlang im Koma. Schließlich erwachte sie – aber sie war nicht mehr dieselbe. Das lebhafte, aufgeweckte kleine Kind war nicht mehr da. Die Ärzte sagten, körperlich wäre alles in Ordnung, doch seitdem spricht sie nicht mehr, zeigt keinerlei Interesse an ihrer Umgebung, reagiert auf nichts mehr – es scheint, als ob sie in einer anderen Welt leben würde. Wir haben alles versucht, um sie wieder zurück zu bringen, gingen mit ihr zu unzähligen Ärzten, Psychologen, Therapeuten, doch es war alles nutzlos.“
Der Inspektor nickte. Es war wirklich tragisch. Er dachte an seine kleine Tochter und war froh, dass sie gesund war.
„Schließlich fanden wir eine Psychologin, die dem Kind Plastilin zu spielen gab, Sie wissen, diese Knetmasse? Und damit erzielte sie zumindest einen Fortschritt: Gertie begann, damit Figuren zu formen, erstaunlicherweise aber nur Frösche. Ja, Frösche wie die auf dem Foto, die wie Menschen Kleider tragen, auf zwei Beinen gehen und sich wie wir verhalten. So können wir ansatzweise verstehen, was in ihr vorgeht, denn es gibt bei den Szenen, die sie darstellt, immer einen Bezug zu unserer aktuellen Situation.“
„Erstaunlich“, warf Hundsthaler ein, „aber was ist mit diesem Foto, das Sie mir gezeigt haben?“
„Darauf komme ich gleich, doch die Vorgeschichte: Vergangenes Jahr hatte mein Schwager einen schweren Autounfall. Gertie war schon Tage davor unruhig, und wir konnten uns ihr Verhalten nicht erklären. Sie modellierte damals einen Frosch in einem Auto, das sie anschließend brutal flach drückte – das hatte sie noch nie getan. Im Nachhinein fragten wir uns, ob sie vielleicht etwas geahnt haben könnte, aber wir maßen dem Vorfall keine Bedeutung bei.“
Pauls wischte sich den Schweiß von der Stirn und erzählte, immer hastiger werdend, weiter: „Dann, vor einem halben Jahr, wieder die Unruhe, sie warf ihre Figuren, insgesamt neun Stück, aus dem Fenster. Und knapp danach dieses schlimme Unglück mit dem Heißluftballon, Sie wissen doch?“
Der Inspektor erinnerte sich. Keiner der neun Personen hatte überlebt. Er betrachtete mit plötzlich erwachtem Interesse das Foto am Tablet. Sollte dahinter womöglich mehr stecken? Doch sein Gesprächspartner ließ ihm keine Zeit für lange Überlegungen.
„Heute früh war Gertie schon vor uns auf, und aufgeregt zog sie meine Frau und mich in ihre Bastelecke. Dort haben wir das gefunden.“ Er tippte auf den Bildschirm.
Hundsthaler schwirrte der Kopf. „Aber – wenn das tatsächlich auf ein Verbrechen hindeuten sollte, was könnten wir tun? Wo ansetzen, wen überwachen, und wer würde uns überhaupt glauben?“
„Haben Sie gestern die Nachrichten gesehen, Herr Inspektor? Heute zu Mittag soll doch der Präsident nach seiner Hüftoperation aus dem Krankenhaus entlassen werden, um die neue Regierung anzugeloben! Ich bin sicher, dass es darum geht. Wir müssen schnell etwas tun!“
„Zu Mittag …“, wiederholte Hundsthaler tonlos.
Die Augen beider Männer wanderten zur Wanduhr. Eben sprang der Zeiger auf zwölf Uhr und im Fernsehen begann die mittägliche Nachrichtensendung. Der Inspektor schaltete den Ton ein.
„… wird heute entlassen. Anschließend wird er sich ins Präsidialamt begeben, wo die Angelobung der neuen, von Teilen der Bevölkerung umstrittenen Regierung stattfinden wird. Wir sind live dabei.“
Im Fernsehen war ein Krankenhauskorridor zu sehen. Eben öffnete sich im Hintergrund eine Türe und Präsident Weißmann erschien. Klein, alt und gebückt, schleppt er sich mühsam mit einem Rollator vorwärts. Eine Krankenschwester ging voran, um den Weg frei zu machen. Aus dem Off ertönte die Stimme des Redakteurs. „Unser Staatsoberhaupt ist noch sichtbar geschwächt von seiner Operation, Dennoch besteht er … was ist denn das? …“
Hilflos saßen zwei Männer in einer unbedeutenden Polizeiwachstube, starrten verzweifelt auf den Bildschirm und sahen, wie sich die bewaffnete Figur ins Bild schob. Beide dachten in diesem Augenblick das Gleiche: „Zu spät!“
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