Von Rosalie Hortsch

Ein Augenblick… Nur dieser eine Augenblick…

 

Konzentriert schließt sie die Augen.

Sie beruhigt ihre Atmung, die vom schweren Anstieg noch unregelmäßig weiße Nebelwölkchen in die kalte Winterluft stößt, und befreit ihren Geist von beständig wirbelnden und flüsternden Gedanken, Erinnerungen, Träumen.

Lange kniet sie so vollkommen reglos da, weich eingebettet in frisch gefallenen Schnee, bis sie weder die frostig schimmernde Eiseskälte auf ihren blassen Händen noch die Wärme des schützenden, wattierten Hanfu auf ihrem schlanken Körper fühlt.

Erst dann, innerlich vollkommen Leer und Still, nach außen hin empfindungslos, öffnet Shue-Ying die Augen. Schwarz wie Onyx erblühen sie im Schoß einer sternklaren Nacht, schwarz wie das seidig glänzende, kunstvoll hochgesteckte Haar, und erfassen aus der inneren Leere heraus alles klar, was um sie liegt.

Die zierliche Hand, einen schlanken Pinsel aus Rosenholz haltend, beginnt vor Ehrfurcht und erregter Freude leicht zu zittern.

Erhellt von reinen Strahlen weißen Mondlichts, sich tausendfach brechend auf unberührtem Schnee, breitet sich die gewaltige, ungezähmte Schönheit rauer, eisbedeckter Berge vor Shue-Ying aus, kühl und unnahbar schimmernd unter einem breiten Band frostblauer Sterne. Ihre eigene Gestalt wirkt geradezu unbedeutend gegen die hohen, zerklüfteten Felsvorsprünge und steilen Berghänge, einzig bewachsen von perlgrauem Stein und vereinzelten, Schnee beladenen Kiefern zu deren Füßen.

Und doch könnte dieser Augenblick für Shue-Ying bedeutsamer nicht sein.

 

Genau hier… In genau dieser Nacht vor einem Jahr ist es geschehen.

 

Das schattig glimmende Licht in den Augen der jungen Chinesin zerfließt, während sie geistesabwesend mit geübten Handgriffen die Tusche anrührt. Es verwebt in silbrigen Schlieren Wirklichkeit und Traum unter dem Schein des vollen Mondes neu miteinander und legt ein vollkommen identisch und doch anders erscheinendes Bild über Shue-Yings in sich gekehrten Blick.

Direkt vor ihr, unter den blutrot leuchtenden Blütenzweigen einer Winterpflaume, lösen sich zwei schimmernde, geisterhafte Gestalten aus dem gebrochenen Licht der Sterne.

Zwei junge Frauen, gekleidet in einfache, wattierte Gewänder, die, nebeneinander stehend, die wilde Schönheit der winterlichen, grimmigen Berglandschaft betrachten. Die schlanken Finger der Einen suchen zaghaft die Hand der Anderen, berühren sie sacht und wollen sich gleich darauf schüchtern wieder zurückziehen. Doch ihre Gefährtin ergreift beherzt beide Hände der scheuen Freundin und drückt sie an ihre Brust, die leicht unter dem eiskalten Wind erzittert.

„Shue-Ying…“

Ihre weibliche Stimme, hell und süß wie ein warmer Frühlingsmorgen, hallt durch die traumverzerrte Ebene von den verschneiten Berggipfeln wieder.

„Shue-Ying… lass uns ein Jahr nach meiner Heirat wieder hier her zurückkommen. “ Sie lässt die Hände ihrer Gefährtin los und streift mit den Fingerspitzen sacht über die herabhängenden Zweige der Winterpflaume, bis sie eine der roten Blüten zwischen ihren schlanken Fingern hält. Sanft dreht sie die Blüte hin und her, bewundert in besonnener Ehrfurcht die grazile Schönheit der zarten Blätter… und steckt sie dann in einer plötzlichen, schwungvollen Geste ihrer Freundin ins Haar.

„Bald wirst auch du das rote Gewand der Hochzeit tragen und unser Dorf verlassen…“ Ein Schatten legt sich über ihr junges, hübsches Gesicht, das noch immer die weichen Rundungen der Kindheit nicht ganz verloren hat.

„Du ahnst nicht, wie sehr mich dieser Gedanke schmerzt.“

Ihr Körper beginnt wieder leicht zu zittern. Shue-Ying, deren Hände sie immer noch an ihre bebende Brust drückt, erinnert sich, wie häufig ihre Freundin in den letzten Monaten vom Eishauch des Winters heimgesucht und deren frühlingshaftes Naturell von bitterkalter Düsternis getrübt wurde, und neigt besorgt den Kopf.

„Fierst du, Chuntian? Wenn dir kalt ist, gehen wir besser zurück. Das Wetter ist zu kühl für dich, und ich möchte nicht, dass du wieder krank wirst.“

„Nein!“ Mit einem heftigem Aufschrei, der sonst so gar nicht ihrem sanften, heiteren Naturell entsprach, warf Chuntian sich ihrer Gefährtin in die Arme.

„Wir müssen nicht zurück, noch nicht. Es ist nicht der Schnee oder der frostige Wind, der mich zittern lässt…

Ich spüre die Kälte außerhalb meines Körpers nicht, Shue-Ying.

Die Kälte in mir ist zu groß.

Der Gedanke, dass du mich verlassen und nie mehr wiederkehren könntest, erfüllt mein Herz, meine Gedanken, meine Seele mit Eis.

Es zerfrisst mich von Innen, Shue-Ying, schon seit Monaten, und ich kann es einfach nicht wieder zum Tauen zu bringen… “

Mit jedem Wort wird ihre Stimmer leiser, ihr Körper schwächer. Chuntians Knie geben nach und lassen sie in den tiefen, frisch gefallenen Schnee sinken, während sie noch immer mit mondweißen Fingern Shue-Yings Hände umklammert.

„Chuntian!“

Shue-Ying fängt ihre Freundin bestürzt auf, ehe ihr zierlicher Körper ganz im weichen Schnee versinken kann, und drückt ihren Kopf an ihre Brust.

„Eine Heirat bedeutet keine Trennung für immer, Chuntian. An Neujahr werden wir beide, du und ich, jedes Jahr unsere Familien und damit einander besuchen können.

Der Winter tut dir nicht gut, er vereist dein Gemüt und lässt dich so empfinden. Bitte sag mir, wie ich deinen Inneren Frühling wieder aufblühen lassen kann.“

Chuntian hebt den Kopf und schaut ihre Freundin aus hoffnungslos kühl glänzenden Augen an, die inmitten der Nacht genauso schwarz schimmern wie Shue-Yings.

„Du…müsstest einen Schwur leisten…“ Chuntians Stimme zittert, ob vor Kälte oder Nervosität, oder vielleicht einer Mischung aus beidem, konnte ihre Freundin nicht sagen. „Ich habe… es mir schon vor langer Zeit gewünscht. Ich habe verzagt, dich zu fragen, aus Angst, die Bürde wäre dir zu groß…“ Chuntian wispert nur noch, sanft und leise wie die herabsinkende Schneeflocke, die sich auf ihre blasse Wange legt. Sie schmilzt nicht, sondern bleibt glitzernd und eisig funkelnd auf ihrer blutleeren, unterkühlten Haut liegen.

„Ich will dich zu nichts drängen, zu nichts zwingen, Shue-Ying. Egal, wie du dich entscheidest, dich trifft keine Verantwortung.“

Ihre Freundin, die bisher nur schweigend zugehört hatte, streicht ihr vorsichtig die Schneeflocke von der Wange. „Es ist schon gut, Chuntian. Ich leiste den Schwur.“

Mei-Hua stutzt „Du fragst nicht, was für ein Schwur es ist? Du stimmst einfach zu…?“

Shue-Ying lächelt. „Würde ich es nicht tun, ließe ich zu, dass dein Herz für immer in Eis und Schnee versunken bleibt. Dafür bedeutest du mir viel zu viel, Chuntian. Und es wäre doch ein wahres Verbrechen, deine neue Familie ihres eigenen sanften, heiteren kleinen Frühlings zu berauben.“

Chuntians Körper erstarrt. Ruhig liegt sie in Shue-Yings Armen, während das Eis in ihrem Inneren langsam beginnt, zu tauen.

„Ich möchte, dass wir Schwestern werden, Shue-Ying. Ich möchte auf immer mit dir verbunden sein, egal, wie weit voneinander entfernt wir leben und in welche Familien wir einheiraten. Wenn unsere Ehen unglücklich enden oder unsere neue Familie uns schlecht behandeln, können wir Trost beieinander finden und unsere Lebensfreude behalten, selbst wenn alles um uns herum im tiefsten Winter versinkt.

Ich bitte dich also: Leg zusammen mit mir den Schwur der Schwesternschaft ab.“

Shue-Ying lächelt noch einmal und legt Chuntian eine Hand auf die errötende Wange. „Dann werden wir Schwestern, Chuntian, wenn du es dir wünschst. Jetzt sofort, wenn du es willst.

Aber jetzt erst auf, sonst wirst du wirklich noch Krank.“  

Fügsam lässt Chuntian sich aufrichten und die Kleider abklopfen, bevor sie  einen weißen, seidenen Fächer aus einer ihrer langen Ärmeltaschen zieht und ihn feierlich Shue-Ying überreicht.

Derselbe weiße Seidenfächer, den Shue-Ying auch jetzt in ihren Händen hält. Nur ist er nicht mehr so blütenrein wie der Fächer von einst.

Geschwungene, schwarze Schriftzeichen und ein kunstvoll gemalter, blühender Pflaumenzweig ziehen sich in einer eleganten Linie über die obere, rechte Hälfte und verbinden mit ihren Worten das Schicksal zwei junger Frauen. Eine Verbindung, die ewig währen wird.

 

Ein Augenblick… nur dieser eine Augenblick hat mein Leben für immer verändert. Ich werde ihn auf die unberührte Seide unseres Fächers bannen, damit seine Bedeutung uns niemals verloren geht.

 

Der Wind frischt auf und trägt eine zarte, fröhliche Stimme die Berghänge hinauf. Shue-Ying horcht auf und lächelt. Sie erinnert sich an die letzten Worte Chuntians, bevor sie den Berg als Schwestern endgültig verließen.

„Deinen Namen trägst du wirklich zu allen ehren, meine liebste neue Schwester…

Du bist wirklich eine Heldin des Schnees“

 

Versunken in diesen Gedanken betrachtet Shue-Ying die roten, zarten Blütenblätter der Winterpflaume. Sie braucht nicht zurück zu schauen, um zu wissen, wer bald neben ihr stehen und zusammen mit ihr die raue Schönheit der verschneiten Berglandschaft unter den blühenden Zweigen betrachten würde. Mit einem breiten, glücklichen Lachen im Gesicht, mit blühendem Herzen und einem Bauch, der so rund war wie der volle Mond am nächtlichen Winterhimmel.

Und mit ruhiger Hand, den Blick auf die schönste all ihrer Erinnerungen unter dem süßen Duft der blühenden Winterpflaume gerichtet, beginnt Shue-Ying zu malen.