Von Winfried Dittrich

»Wir wollen, dass unser Kind die besten Chancen im Leben hat.« Dieser Satz klingt nach in meinen Ohren.

Irgendwann in diesem Winter wurde irgendwo in Deutschland ein elternloses Kind geboren und in einem Krankenhaus abgegeben. Die Eltern wollten das Kind vielleicht nicht haben. Vielleicht konnten sie auch nicht dafür sorgen. Vielleicht wollten sie es nicht, weil sie nicht dafür sorgen konnten. Jedenfalls wollten sie es nicht mit dem Kind versuchen. Eigentlich gut, dass es Babyklappen gibt. Was würde denn sonst mit solchen Kindern geschehen?

Das Kind war zwar sehr klein und schwach, atmete aber selbstständig. So wurde es erst einmal auf der Kinderintensivstation aufgenommen. Mit einer Magensonde und Infusionen wurde die Ernährung sichergestellt, denn es wollte nicht trinken.

Das Kind hatte keinen Namen, und so gaben ihm die Schwestern einen. Sie diskutierten, welcher passend wäre, und entschieden sich schließlich für »Eniella«.

Nach kurzer Zeit schon waren Adoptiveltern für Eniella gefunden. Liebe Menschen, ein Ehepaar mit lang gehegtem, leider nie erfülltem Kinderwunsch. Albert und Lena Ingmann. Nach jahrelangen Versuchen mit einem medizinischen Untersuchungsmarathon, einer ausgedehnten Fruchtbarkeitsbehandlung, zahlreichen Fehlgeburten, hatte das Ehepaar die Hoffnung auf eigenen Nachwuchs aufgegeben. Doch sie hatten, wie sie sagten, ganz viel Liebe, die sie einem Kind schenken wollten. Und so wurden sie dazu ausgewählt, Eniella zu adoptieren. Sie besuchten Eniella nun regelmäßig, um möglichst früh eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Zu Hause wurde schon alles vorbereitet, wie sie berichteten.

Eniella stabilisierte sich mit der Zeit, wollte aber weiterhin nicht trinken. Untersuchungen wurden angesetzt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei fiel auf, dass Eniella nicht auf äußere Reize reagierte. Nicht auf Wärme, nicht auf Kälte, nicht auf Licht und auch nicht auf Geräusche. Spezielle, umfassende Untersuchungen folgten, und nach Bestätigung der Ergebnisse wurden Albert und Lena Ingmann ins Krankenhaus zu einem Arztgespräch einbestellt.

»Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Eniella schwerst behindert ist. Sie ist blind, taub und unfähig, Berührungen oder Schmerz zu empfinden. Und, soweit wir es beurteilen können, wird sich das nicht mehr ändern.«

»Wir wollen, dass unser Kind die besten Chancen im Leben hat«, war die Reaktion der Ingmanns. »Was ist das für eine Behinderung? Ist bei der Geburt etwas schief gelaufen?«

Die Ärzte erklärten, dass bei Eniella dort, wo ansonsten die beiden Gehirnhälften vorhanden seien, nur zwei wassergefüllte Blasen gefunden worden wären, und eine Messung der Hirnströme eine Nullinie ergab.

»Was bedeutet das? Was ist die Prognose?«, wollten die Ingmanns daraufhin wissen.

Die Ärzte erklärten, dass davon auszugehen sei, dass Eniella für den Rest ihres Lebens künstlich ernährt werden müsse, dass sie zwar wachsen, aber ansonsten auf dem Entwicklungsstand bleiben würde, auf dem sie in diesem Moment war. Und sie erklärten, dass vergleichbar eingeschränkte Kinder normalerweise innerhalb des ersten Lebensjahres sterben würden.

»Wir wollen, dass unser Kind die besten Chancen im Leben hat. Eniella hat doch keine Chancen.« Damit schlossen die Ingmanns das Arztgespräch ab. Einen Tag später nahmen sie das Adoptionsgesuch offiziell zurück. Auch sie wollten es nicht mit Eniella versuchen. Der Name »Ingmann«, den die Schwestern schon auf dem Schild an Eniellas Bettchen eingetragen hatten, wurde durchgestrichen.

Und da liegt Eniella nun, in diesem Kinderpflegebett, lebt in den Tag hinein, von dem sie nicht weiß, dass er hell ist, dass er duften kann oder schmecken, dass er warm sein kann oder kalt, lang sein oder kurz. Vielleicht weiß sie nicht einmal, ob da jemand ist.

Was ist Eniella eigentlich?

 

Version 2