Von Theres Pötzsch

Weihnachten 2019. Wir sitzen im Wohnzimmer meiner Großeltern, wie anno dazumal. Ich reiße das Geschenkpapier von einem Paket. Auf der Verpackung sind ein lila Föhn und drei verschiedene Aufsätze abgebildet. Naja, Oma weiß es eben nicht besser. Natürlich habe ich schon einen Föhn.

„Gefällt’s dir nicht?“, fragt Oma, „Du bist ja ganz still.“

„Doch, doch, Oma“, sage ich, „vielen Dank.“

„Zeig mal her“, sagt meine Schwester und ich gebe ihr die jungfräuliche Verpackung. Mit ihren langen Haaren kann sie einen neuen Föhn eh besser gebrauchen als ich mit meinen kurzen.

Sie grinst und sagt: „Es war ja schon früher schwer, ein passendes Geschenk für dich zu finden.“

Nach der Bescherung, in der gemütlichen Sofaecke, werden dann die Anekdoten ausgepackt, die bei den Beteiligten für Gelächter oder gespielte, beziehungsweise echte Entrüstung sorgen.

 

Das war nämlich so: Bis zum Alter von fünf Jahren hatte ich mich eher für typisches Jungenspielzeug interessiert, aber so nach und nach fand ich das Puppenhäuschen im Kindergarten und die handgenähte Stoffpuppe meiner Schwester immer faszinierender. Umso hartnäckiger teilte ich meinen Eltern von nun an mit, dass ich unbedingt ganz dringend eine eigene Puppe bräuchte. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, den wir traditionell bei den Großeltern mütterlicherseits verbrachten, sollte mein Wunsch endlich erfüllt werden. Die obligatorische Weihnachtsgans am Mittag, begleitet von Vivaldi und Beethoven und das folgende Kaffeetrinken bei Plätzchen, Bratäpfeln und monotonen Erwachsenengesprächen zogen die Spannung vor der Bescherung für uns Kinder kaugummiartig in die Länge. Selbst nach dem Kaffee war es meinen Großeltern noch zu früh, um die Kerzen am Tannenbaum anzuzünden und damit die Bescherung einzuleiten, dabei war es längst dunkel.

„Das ist scheiße!“, polterte meine temperamentvolle, damals achtjährige Schwester füßestampfend, woraufhin sie fünf strafende Minuten draußen im Flur abzusitzen hatte. Auch ich fand diese schier endlose Wartezeit nicht zum Aushalten, also folgte ich ihr heimlich. Sophia war nicht mehr vor der Wohnzimmertür, deshalb ging ich ins obere Stockwerk, um zu gucken, ob sie sich auf dem Klo eingeschlossen hatte. Mit teuflischem Lächeln und hinter dem Rücken verschränkten Armen stand sie stattdessen vor der angelehnten Schlafzimmertür.

„Ich weiß schon, was wir nachher geschenkt bekommen“, verkündete sie, worauf ich mit Ungläubigkeit reagierte.

“Willst du deine Geschenke sehen?“, fragte sie und zog mich, ohne meine Antwort abzuwarten, ins Schlafzimmer. Auf einem Berg bunt eingepackter Geschenke, die sich auf der Kommode stapelten und deren geheimnisvolle Inhalte sich nur erahnen ließen, thronte eine wunderbare, blondlockige Puppe im grünen Dirndl, die mit ebenso grünen Puppenaugen an die Wand starrte.

„Die ist für dich“, sagte meine Schwester kühl, „du hast dir ja eine Puppe gewünscht.“

Daraufhin zeigte sie auf ein längliches, unförmiges Paket auf dem Boden und sagte mit vor Enttäuschung verzogener Miene: „Und das ist für mich, ein Notenständer, für den Chor. Siehst du, du kriegst was Tolles und ich bekomme wieder so einen Schrott.“

Kurze Zeit später, als wir uns wieder zum Wohnzimmer geschlichen hatten, wurde die Bescherung endlich mit Opas Kuhglocke und „Ho ho ho, der Weihnachtsmann war da!“ eingeläutet. Gierig rissen wir das Geschenkpapier von den Paketen und zu ihrer Zufriedenheit bekam meine Schwester außer dem Notenständer noch ein Memory, einen Plüschhund und ein Gesellschaftsspiel. Ich bekam außer der Puppe, deren Zauber durch die heimliche Begutachtung zunächst verflogen war, ein einfaches Holzpuzzle, das ich babyhaft fand, und natürlich Süßigkeiten. Ich ärgerte mich, unter dem Tannenbaum gar keine richtige Überraschung zu erleben und begann unter Schluchzen vorwurfsvoll „Ich hab ja viel weniger“ zu stammeln, schließlich übertraf die Anzahl der Schwestergeschenke die meine. „Gefällt dir die Puppe nicht“, fragte meine Oma besorgt und schob schnell nach: „Die ist doch niedlich!“

„Nein!“, rief ich, von plötzlichem Kindertrotz gepackt, „ich schenk sie Sophia!“

„Danke!“, jauchzte meine Schwester selig und riss mir die Puppe weg. Erst jetzt merkte ich, dass ich in Wirklichkeit das tollste Geschenk erhalten hatte und rief, nun heftiger schluchzend: „Ich meine… Ich mag sie doch! Ich will sie zurück!“

Sofort tadelten mich meine Eltern: „Du kannst sie nicht erst Sophia schenken und dann sofort zurückfordern! Heute gehört sie ihr und morgen kannst du sie wiederhaben.“

Sophia streckte mir die Zunge raus, als ich trostsuchend auf Mamas Schoß kletterte.

Die Puppe schenkte ich Sophia zu ihrem Geburtstag im Februar. Dummerweise bekam ich sie diesmal nicht am nächsten Tag wieder. Ich wünschte mir daher ein halbes Jahr später zu meinem Geburtstag wieder eine Puppe, wobei ich diesmal ausdrücklich nach einer Babypuppe mit lockigen Haaren und männlichen Genitalien verlangte, damals der letzte Schrei und von mir in einem Kinderkatalog entdeckt. Wieder sollten meine Großeltern mütterlicherseits die Auserwählten sein, die mir diesen Wunsch zu erfüllen hatten. Als sie zur Familiengeburtstagsfeier erschienen, drückten sie mir verheißungsvoll ein riesiges Paket in die Arme und sofort riss ich voller Vorfreude das bunte Geschenkpapier ab. In der durchsichtigen Plastikhülle, die darunter zum Vorschein kam, konnte man die Babypuppe mit weißem Strampelanzug erkennen – allerdings hatte sie eine Glatze. Das war fürs Erste nicht so schlimm, die Haare konnte man später mit Filzstift anmalen. Wichtiger war das Geschlecht, das sich nicht so leicht ändern ließ. Ich mühte mich mit der Verpackung ab, nahm die Puppe heraus und zog ihr sofort den weißen Strampler aus.

„Süß, sie beginnt gleich mit der Puppe zu spielen“, freute sich meine Oma, während ich schockiert feststellen musste, dass meine neue Puppe weder Männlein noch Weiblein war. Sie hatten die Genitalien einfach weggelassen!

„Die hat ja gar keinen Pullermann“, klagte ich, „da ist nur so ein Loch.“

„Ja, damit kann die nämlich pullern“, erklärte Oma in ihrem kindlich angepassten Singsang, „mit dem Puppenfläschchen kannst du ihr zu trinken geben und dann kommt´s unten wieder raus.“

„Aber die soll ja nicht pullern können, sondern ein Junge sein“, entgegnete ich niedergeschlagen, „und sie hat auch gar keine Haare.“

„Jetzt gefällt dem Kind die Puppe wieder nicht“, sagte Oma enttäuscht zu meiner Mutter. Ich war jetzt sechs und hatte aus meinen Schenkungen gelernt, weshalb ich die Puppe diesmal nicht meiner Schwester überreichte, obwohl sie mir diplomatisch mitteilte, dass sie einen Platz in ihrem Puppenschrank finden würde, wenn ich mit dem Geschenk nichts anfangen könnte. Den restlichen Tag lief ich ausgerüstet mit der kahlen Puppe und ihrem Fläschchen durch das Haus und ließ sie in sämtliche Blumentöpfe pinkeln.

 

„Das mit den Puppen haben wir dann aufgegeben“, sagt Oma, „Wir haben dir dann lieber Plüschtiere geschenkt, damit konnte man nie etwas falsch machen.“

„Wie viele hattest du nochmal am Ende?“, fragt Mama.

„139 Stück“, sage ich, noch immer ein bisschen stolz, „natürlich nicht alle von Oma und Opa.“

„Wir waren eher für die tierischen Geschenke zuständig“, sagt Papa nachdenklich und schenkt uns dabei Wein ein, „und das ging manchmal auch in die Hose.“

 

Meine Begeisterung für Puppen wurde in meinem neunten Lebensjahr durch mein steigendes Interesse an Haustieren abgelöst. Wir lebten auf einem alten Bauernhof, wo genügend Platz für ein paar Schafe und Hühner war. Meine Schwester besaß außerdem ein eigenes Kaninchen. Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, schenkten mir meine Eltern ein schwarzes Zwergkaninchen, das ich Laura taufte. Laura war leider ein stinklangweiliges Tier. Wenn ich sie hochnehmen wollte, zappelte sie verängstigt. Es war unmöglich, mit ihr zu spielen. Sie knabberte den ganzen Tag nur Heu und man durfte sie nicht mal zu dem anderen Kaninchen, einem Männchen setzen, damit sie sich nicht explosionsartig vermehren würden. So kam es, dass ich immer öfter vergaß, ihr Futter zu bringen oder das kleine Gehege auszumisten, nicht etwa aus Faulheit oder Bösartigkeit, sondern weil spannendere Dinge meine Aufmerksamkeit forderten. Meine Eltern warnten mich, ich solle mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen. Irgendwann gaben sie es auf und übernahmen selbst die Pflege des Kaninchens. Beinahe hätte ich vergessen, dass es Laura gab, bis es eines Tages Kaninchen zum Mittag geben sollte. Alarmiert rannte ich zum Kaninchengehege und musste feststellen, dass sich darin nur noch der Rammler meiner Schwester befand.

Zu meinem elften Geburtstag bekam ich von meinen Eltern ein Dornschreckenterrarium. Vermutlich dachten sie, dass es pädagogisch wertvoll sei, ein Kind Verantwortung für Tiere übernehmen zu lassen, wollten mir aber nicht noch einmal ein Säugetier anvertrauen und überließen mir deshalb die verhältnismäßig pflegeleichten Dornschrecken. Alle zwei Wochen mussten frische Brombeerzweige in das Terrarium gelegt werden, von deren Blättern sich die Insekten ernährten. Doch auch an den Schrecken hatte ich mich schnell sattgesehen und nachdem wir im Geografieunterricht über Heuschreckenplagen in Afrika gesprochen hatten, setzte ich meine Tiere in die Brombeersträucher des Nachbarn aus, um herauszufinden, ob sie dort zu einer ähnlich schlimmen Plage heranwachsen würden. Die Pflanzen blieben aber intakt und die Insekten sah ich nie wieder, sie waren wohl gefräßigen Igeln und Vögeln zum Opfer gefallen.

 

„Oft waren die Geschenke doch wirklich gut“, sage ich beschwichtigend. „Auf dem Trampolin bin ich praktisch jahrelang herumgesprungen und die Katze zum zwölften Geburtstag war das beste überhaupt.“

Meine Eltern behaupten manchmal, ich würde gar nicht sie, sondern die Katze besuchen, die ich auf dem Hof zurückgelassen habe.

„Und der selbst gebastelte Fotokalender?“, fragt mein Freund herausfordernd. Jetzt muss er auch noch anfangen.

„Da haben die Fotos überhaupt nicht zu den Monaten gepasst!“

Ich ernte Gelächter. Die Weingläser werden aufgefüllt.

 

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