Von Rosa Pessl

Noch 13 Tage

Über dem Colorado River geht die Sonne auf. Es ist ein Dienstag wie jeder andere. Auch an diesem Dienstag fährt sie mit ihrem klapprigen Auto Richtung Osten. Zweihundert Meilen liegen vor ihr. Wie jeden Dienstag hofft sie, dass ihr Auto die Fahrt hin und retour heil übersteht, denn ein neues kann sie sich nicht leisten. Diesmal trägt sie das rotgeblümte Kleid, das er so an ihr mag. Dazu einen roten Seidenschal und die rote Jacke.

Zweieinhalb Stunden später durchsucht ein Beamter ihr Fahrzeug und durchleuchtet mit einer Taschenlampe den Motorraum. Erst dann darf sie einparken. Den Seidenschal lässt sie im Auto zurück. Nur Reisepass, 10 Dollar in Münzen und den Autoschlüssel nimmt sie in einem durchsichtigen Plastikbeutel mit. “Madam Jacke ausziehen”, wird sie bei der Sicherheitskontrolle aufgefordert. Sie bekommt ein hässliches Schild mit einer Nummer umgehängt. So durchquert sie mehrere Sicherheitsschleusen, bis sie auf dem kalten Holzstuhl in der ihr zugewiesenen Zelle Platz nimmt. Links neben ihr hängt der Hörer, der ihr Sprachrohr für die nächsten zwei Stunden sein wird. Vor ihr eine dicke Glasscheibe, dahinter ein Käfig, etwa in der Größe einer Telefonzelle. Sie rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her und zupft ihr Kleid zurecht. Selbst nach über dreihundert Dienstagen hat sie sich noch immer nicht an diese Situation gewöhnt.

Jeden Dienstag durchbohrt sie dieser unsägliche Schmerz, wenn sie ihn so sieht: ihren Sohn, vorgeführt wie einen Hund. Er trägt, wie alle anderen Insassen auch, einen weißen Overall. Am Rücken sind zwei Buchstaben aufgenäht: D und R für Death Row. Sie sitzt da und beobachtet, wie er seine Hände durch den Schlitz der Tür steckt und der Wärter ihn von den Handschellen befreit. Dann nimmt er auf dem abgewetzten Hocker ihr gegenüber Platz. Er. Marwin. Vierundzwanzig.

“Hallo Mum” Marwin versucht zu lächeln. “Gut siehst du wieder aus …” Sie ist die Einzige, die ihn besucht, die ihm Abwechslung in einem Alltag bringt, den er 23 Stunden in einer Vier-Quadratmeter-Zelle verbringt. Er macht ihr gerne Komplimente und liebt es, sie aufzuziehen; und sie liebt ihn dafür. “Mum, du hast sicher einen Geliebten, so gut wie du aussiehst. Aber ich verrate es Dad nicht. Genieße es”, hatte er letzten Dienstag gesagt und ihr dabei zugezwinkert. Doch heute erstickt seine Stimme schon in der ersten Minute.

Sie atmet tief durch: “Was ist los?”

“Sie haben es mir serviert.”

“Was serviert? War das Essen wieder so miserabel?”, fragt sie inständig hoffend und doch wissend, dass er nicht vom Essen spricht.

“Mum, du verstehst nicht. Am 24. Juni, in genau 13 Tagen, ist es vorbei!”

“Nur noch ein Dienstag”, denkt sie sich. Vielleicht kann sie dann endlich wieder mit ihrem Mann in den Countryclub gehen. Einfach wieder tanzen gehen, so wie sie das früher oft taten. Im selben Augenblick hasst sie sich für diesen Gedanken. Tanzen gehen in einem Club, der in ihr seit jener Nacht im August 2014 nur die Mutter eines Mörders sieht? Der sie schneidet und verurteilt – genauso wie ihren Sohn. Sie würde am liebsten in den Boden versinken. Dort im Club und auch hier in der Zelle. In 13 Tagen wird ihr Sohn hingerichtet und sie denkt ans Tanzen. Sie sieht in die verzweifelten Augen ihres Sohnes und bricht in Tränen aus.

Noch 9 Tage

“Schaust du dir wieder diesen alten Kram an?”, gröllt ihr Mann sie betrunken an. “Es bringt doch nichts! Wir haben keinen Sohn mehr!” Seit 2250 Tagen, seit jenen Tag, an dem Marwin verhaftet wurde, betäubt ihr Mann sich mit Alkohol. Er zerwühlt die Fotos, die vor ihr liegen und beteuert lautstark: “Ich habe keinen Sohn mehr!” Bald wird er damit recht haben, denkt sie sich. Dann torkelt er mit einer Flasche Bier in der Hand ins Schlafzimmer. Sie nimmt jedes einzelne Foto, schaut Marwin ins Gesicht, in seine Augen. Sie durchforstet seine Kindheit, seine Jugendzeit. Wie so oft erinnert sie sich an jede Schramme, die Marwin sich zugezogen hat. Sie analysiert jede Träne, die ihr Sohn geweint hat. Sie dreht jedes kleine und größere Drama um, immer und immer wieder. “Hören Sie mir jetzt gut zu”, sagte eine Psychologin in einer der beiden Therapiesitzungen, die sie in Anspruch genommen hatte. “Sie dürfen sich nicht die Schuld geben! Sie sind nicht schuld!” Sorgsam schichtet sie die Fotos wieder in die Box. Warum nur? Warum wurde ihr Sohn vor mehr als sechs Jahren zum Vergewaltiger und Mörder? Sie erschrickt bei diesen Gedanken und echauffiert sich über sich selbst: Wie kann sie nur überzeugt sein, dass Marwin schuldig ist. Er hat immer geschwiegen, nie seine Schuld eingestanden. Jetzt verurteilt sie ihren Sohn genauso wie der US-Bundesstaat es tut. Schuldig, die sechzehnjährige Eve Miller mehrfach vergewaltigt und erwürgt zu haben. Sie schüttelt den Kopf: “Was für eine Mutter bin ich nur, dass ich so über Marwin denke …”

Noch 5 Tage

Der letzte Dienstag. Marwin sitzt ihr wieder gegenüber in seiner Zelle. Sie spürt den unwiderstehlichen Drang, es aus seinem Mund hören zu wollen – seine Schuld.

“Marwin, ich muss dich etwas fragen”, sie atmet tief durch und schließt die Augen.

“Ja …?”, Marwin runzelt erwartungsvoll die Stirn.

“Hast du … “ Plötzlich schreit es NEIN in ihr und sie unterbricht sich selbst. “Glaubst du an Gott?”

Marwin ist verwundert. Als Agnostiker haben sie noch nie über Gott gesprochen. Glaube und Religion waren nie Themen in ihrer Familie.

Er denkt nach: “Vielleicht. Ich weiß nicht, ob das Gott ist, an den ich glaube. Mum, und du?”

Sie lächelt und ist froh, mit Marwin über Gott sprechen zu können. So möchte sie ihren Sohn in Erinnerung behalten.

“Noch 10 Minuten”, ruft der Wärter. 10 Minuten, in denen sie noch weiter über Gott sprechen. 10 Minuten, die sie noch näher zusammen führen und sie miteinander verbinden.

Noch 16 Stunden

Sie zieht wieder ihr rotgeblümtes Kleid an. Es fühlt sich an, als wären die roten Blumen Feuermale, die auf ihrer Haut brennen. Die rote Jacke liegt tonnenschwer auf ihren Schultern. Der leichte Seidenschal ist wie eine Panzerkette, die sich zusammenzieht. Atmen fällt ihr schwer. Wie im Trance verlässt sie das Haus und fährt los. Dass sie sich in diesem Zustand nicht selbst an das Steuer setzen sollte, darüber verschwendet sie keinen Gedanken. Überhaupt kann sie keinen logischen Gedanken mehr fassen.

Noch 8 Stunden

“Mum, heute siehst du wieder fantastisch aus”, begrüßt sie Marwin mit gequältem Lächeln. Er schlingt seine starken Arme um die kleine zierliche Frau und drückt sie ganz fest. Fast zwei Köpfe ist er größer als sie, das hat sie fast vergessen. Damals, vor 2259 Tagen hat er es genauso gemacht. “Mum, heute rocken wir die Bude!”, meinte er augenzwinkernd, hat genau so wie heute seine Arme um sie geschlungen und sie gedrückt, bevor er zu seinen beiden Freunden ins Auto stieg. Lange hat sie davon gezehrt. Heute darf sie ihren Sohn endlich wieder umarmen. Das rotgeblümte Kleid fühlt sich augenblicklich leicht an, so als würde sie darin schweben. Wäre das nicht eine Option? Die letzten 2259 Tage ungeschehen zu machen und einfach gemeinsam davon zu schweben?

Noch 10 Minuten

Sie sitzt auf dem kalten Holzstuhl in der ersten Reihe. Keinen der Dutzend Anwesenden kennt sie. Die Millers sind nicht gekommen. Ihr Herz klopft, ihre Kehle ist trocken, ihr ist kalt. Dennoch bilden sich Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie hat es Marwin versprochen, da zu sein. Vor ihr ist ein breites Sichtfenster, das noch mit einem schwarzen Vorhang verhüllt ist. Sie hört die Menschen murmeln. Der Vorhang öffnet sich langsam. Sie sieht Marwin, festgeschnallt auf einer Bahre, in beiden Armen eine Kanüle. “Es tut mir leid. Es tut mir leid, was ich Eve angetan habe … Mum, ich liebe dich”, stammelt Marwin seine letzten Worte.

Noch vier Minuten

Sie schließt die Augen ganz fest. Sie will nicht sehen, wie die giftigen Flüssigkeiten in Marwins Adern gejagt werden. Vier Minuten lang. Dann ist es vorbei. Marwin wird für tot erklärt.

6 Stunden später

Sie irrt durch die Straßen von Austin. Sie weiß nicht, wie sie es bis in ihre Heimatstadt geschafft hat. Ihre Erinnerungen enden vor 6 Stunden. Sie kann und will nicht nach Hause zu ihrem betrunkenen Mann. So läuft sie seit Stunden herum – ohne Pause. Um ein Uhr morgens kehrt sie in einem Burgerladen ein. Hektisch bestellt sie ein Glas Wasser. “Möchten Sie etwas essen?”, fragt die Kellnerin. Doch sie hört es nicht. Aus ihrer Tasche kramt sie ein Notizbuch und einen Stift. Immer wieder schreibt sie dieselben Worte auf das Blatt, dabei drückt sie den Stift immer fester an. Dicke Kugelschreiberpatzer untermalen das Geschriebene. Dann reißt sie das Blatt heraus. Zügig leert sie das Glas Wasser, verlässt den Burgerladen und beginnt wieder zu laufen.

Am nächsten Morgen

Über dem Colorado River geht die Sonne auf. Es ist ein Dienstag wie jeder andere. Der Wind trägt einen roten Seidenschal über die Congress Avenue Bridge. Am Bordstein liegt ein durchsichtiger Plastikbeutel mit einer Notiz. Ein Polizist öffnet die Tüte, entfaltet die Notiz und liest: “Was auch immer ich falsch gemacht habe, das habe ich nicht gewollt.”

Version 2