Von Nicole Leidolph

Samstag, 7 Uhr, Städtisches Krankenhaus, Neurologie, Dreibettzimmer. Im mittleren Bett liegt eine alte Frau, bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie noch lebt, bis sie pfeifend durch den geöffneten Mund einatmet. Am Fenster sitzt eine weitere Frau, die uns griesgrämig ansieht. Ich stehe am dritten Bett, dem an der Tür, neben mir meine Mutter, die unter ihrem Mantel noch den Schlafanzug trägt. Aber sie ist geschminkt. Die Frau setzt Prioritäten. 

In dem Bett sitzt meine Schwester Clara und lächelt uns fröhlich an. „Jetzt macht doch nicht solche Gesichter, meine Güte.“ Sie hat verblüffend gute Laune.

Wir blicken alle drei gleichzeitig auf, als sich die Tür öffnet und ein älterer Mann strammen Schrittes hereinkommt. Ihm laufen ein jüngerer Arzt und eine Krankenschwester mit einem Klemmbrett in der Hand hinterher.

„Brinkner, ich bin hier der Chefarzt“, sagt er mit dröhnendem Bass und scheint die beiden anderen Patientinnen gar nicht zu bemerken. Sein Gefolge stellt er nicht vor. „Stören Sie sich nicht an meiner Zivilkleidung, ich habe eigentlich schon Feierabend.“

„Oh, und jetzt sind Sie wegen mir extra noch hier?“, fragt Clara. „Das tut mir echt leid.“

Er lächelt sie an. „Darum machen Sie sich bitte keine Sorgen.“ Er sieht zum jungen Arzt. „Was haben wir?“

„Clara Schmitz, 25 Jahre, kam heute um 6.15 Uhr rein. Generalisierter tonisch-klonischer Anfallstatus aus dem Schlaf, die Schwester hat den Notruf gewählt.“

Ich nicke pflichtbewusst, als er mich in seinem monotonen Singsang erwähnt. 

„Häh?“ Clara sieht von einem zum anderen. „Tonischer was?“

„Patientin verwirrt, hat ihre Schwester erst nicht erkannt, ist gegenüber den Sanitätern handgreiflich geworden und musste fixiert werden“, fährt der Arzt unbeirrt fort. „Klagt über starke Kopfschmerzen, Zungenbiss. Erstbehandlung mit Diazepam und Morphin.“

Clara verschränkt die Arme. „Kann mich mal einer aufklären?“

„Sie hatten eine Reihe von epileptischen Anfällen“, sagt Doktor Brinkner. „Wir nennen das einen Status epilepticus.“

Mama schnieft neben mir.

„Haha, ja, klar! Nee, das will ich nicht.“ Clara wirft die Decke von sich und versucht aufzustehen. „Ich bin doch keine Verrückte.“

Ich ziehe die Decke wieder über sie. „Bleib da, du hast nur einen Kittel an.“

„Wieso das denn?“

„Sie haben sich mehrfach erbrochen“, sagt die Krankenschwester. Als Clara dazu ansetzt, etwas zu antworten, hebt sie die Hand. „Nein, schon gut, Sie brauchen sich nicht schon wieder zu entschuldigen.“

„Sie haben den Notruf gewählt?“, wird das ärztliche Wort an mich gerichtet.

„Ja.“

„Was ist denn genau passiert?“

„Clara hat bei mir übernachtet“, beginne ich und werde von ihr unterbrochen.

„Wieso das denn?“

„Du hast dich von Julius getrennt.“

„Ach, habe ich das?“ Sie strahlt. „Na, das wurde aber auch mal Zeit.“

„Du erinnerst dich nicht daran?“, fragt Mama und zieht die Augenbrauen hoch.

„Nö.“

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Doktor Brinkner lächelt beruhigend. „Die Erinnerungen kommen meist zurück.“ Er nickt mir auffordernd zu.

„Dann bin ich wach geworden“, sage ich, versuche, mich an den genauen Ablauf zu erinnern und meine Emotionen zu ignorieren. „Clara hat gezuckt und sah aus, als hätte sie Tollwut, mit Schaum vor dem Mund.“

Clara sieht mich empört an. „Was?“

„Wie die beim Exorzisten.“ Ich schlucke hörbar. „Kaum war es vorbei, fing es wieder an und zwischendurch hat sie alles vollgekotzt.“

„Anna!“, unterbricht mich Mama in scharfem Tonfall.

„Erbrochen“, verbessere ich mich und werfe ihr einen Blick zu. Als ob das die Sache besser macht. Meine Matratze kann ich wegschmeißen. „Ich wusste nicht, was ich machen soll, ich hatte Angst, sie erstickt oder verschluckt ihre Zunge. Ich habe ihr erst einen Finger zwischen die Zähne gesteckt.“ Ich halte meinen Zeigefinger hoch, auf dem ein deutlicher Zahnabdruck zu sehen ist, der langsam blau anläuft. Mittlerweile kann ich ihn wenigstens wieder bewegen.

„Das dürfen Sie nie machen“, sagt Doktor Brinkner und wirkt noch ein wenig ernster. „In der Kiefermuskulatur hat der Mensch so viel Kraft, sie hätte Ihnen den Finger abbeißen können. Sie müssen auch keine Angst haben, dass sie ihre Zunge verschluckt, die Muskeln sind während eines solchen Anfalls alle angespannt.“ Er sieht zu Clara. „Sie fühlen sich sicher so, als hätte Sie sehr viel Sport gemacht?“

Clara nickt. „Ich mache keinen Sport, aber ja. Mir tut alles weh und ich bin total müde.“

„Ja, das ist eine Höchstleistung für den Körper. Hatten Sie vorher schon mal einen epileptischen Anfall?“

„Nein“, sagen Clara, Mama und ich wie aus einem Mund.

„Haben Sie irgendwelche Drogen konsumiert?“

„Nein“, antworte ich hastig.

„Doch“, sagt Clara. „Wir haben gekifft.“

„Ernsthaft?“ Mama schnappt nach Luft.

Ich lächle sie an, schüttle den Kopf und tippe mir mit dem Finger vor die Stirn. „Sie ist wohl noch ein wenig tüdelig.“

Mama sieht mich mit ihrem Wir-sprechen-uns-noch-Blick an und ich bereite mich jetzt schon auf die Standpauke vor. Egal wie alt ich bin, egal, dass ich längst erwachsen bin, das wird kein Spaziergang.

„Und geraucht haben wir auch, also Zigaretten. Normale.“

„Ja, ja.“ Ich wedle mit der Hand vor Claras Gesicht. „Jetzt halt den Mund.“
Mama verdreht wortlos die Augen. Ich schätze mal, sie ist gerade nicht sehr glücklich. Für sie ist die eine Tochter jetzt eine mit halbem Hirnschaden, die andere eine Drogenabhängige. Sie ist immer recht dramatisch.

„Krampfanfälle kommen nicht durch Marihuana. In Ihrem Gehirn haben sich sämtliche Nervenzellen gleichzeitig entladen. Wie bei einem Funkenflug.“ Doktor Brinkner wendet sich dem anderen Arzt zu und senkt die Stimme. Sein medizinisches Gemurmel verstehe ich weder akustisch noch vom Sinn.

„Aber ich habe keine Epilepsie“, sagt Clara dazwischen. „Darauf habe ich ja mal gar keine Lust. Ich bin doch nicht wie der mit dem Helm.“

Ich weiß sofort, wen sie meint, jeder, der hier wohnt, kennt ihn. Er ist um die Mitte dreißig, hat einen humpelnden Gang und trägt immer einen quietschgelben Helm. Er ist oft in der Stadt unterwegs und grüßt jeden sehr freundlich.

„Ihre Diagnose lautet Epilepsie“, beharrt Doktor Brinkner. „Aber machen Sie sich keine Gedanken. Das gibt es in zig Ausprägungen. Wir werden Sie heute gründlich untersuchen, Sie bekommen ein EEG, CT und MRT. Wir müssen die Ursache kennen.“

„Die Ursache?“, fragt Mama und ist plötzlich ganz blass.

„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.“ Er räuspert sich. „Vielleicht lag schon immer eine erhöhte Anfallsbereitschaft vor, sowas kann aber auch durch Tumore oder Blutgerinnsel im Gehirn ausgelöst werden.“

Mir wird schlecht, Mama sicher auch, Clara lacht und winkt ab. „Quatsch, hab ich nicht.“

„Eigentlich würde man nach einem ersten Anfall noch keine Medikation einsetzen, aber Sie hatten ja einen Status epilepticus. Haben Sie irgendwelche Allergien?“

„Penicillin“, sagt Mama. Und als würde sie sich dafür entschuldigen wollen: „Die ganze Familie.“

„Das ist nicht weiter schlimm.“ Doktor Brinkner richtet das Wort nun eher an Mama und mich, als würde er Clara für nicht ganz zurechnungsfähig halten. Das scheint mir gerade auch angemessen. „Das Medikament wirkt sehr gut, allerdings hat es eine seltene Nebenwirkung, bei der sich die Haut ablösen kann, das wäre tödlich.“

Ich höre nur Haut ablösen und wechsle einen Blick mit Clara. Sie verzieht das Gesicht.

„Deshalb müssen wir es langsam aufdosieren. In der Zeit kann es zu erneuten Anfällen kommen, weshalb wir zusätzlich mit Lorazepam behandeln werden, das wirkt wie Valium. Das Antiepileptikum kann zu einer Wesensänderung führen, darüber geben Sie uns bitte Bescheid.“

Mama nickt. Dann räuspert sie sich. „Ist das jetzt schlimm? Das alles? Geht das nicht aufs Gehirn, diese Epilepsie?“

„Es ist eine ernstzunehmende Sache.“ Doktor Brinkner blickt väterlich drein. „Aber durch einen Anfall sterben keine Gehirnzellen ab, falls Sie das meinen.“

Mit einem letzten Nicken und einem Lächeln entschwindet er, mitsamt Anhang.

„Krass“, sagt Clara. „Ich bin eine Verrückte.“ Sie wirkt immer noch so merkwürdig fröhlich. Vielleicht vom Morphin?

„Ach“, antworte ich. „Bilde dir bloß nichts drauf ein.“

Mama schüttelt den Kopf und setzt sich auf den schmalen Plastikstuhl neben ihrem Bett. „Ich hätte nie gedacht, dass meine Töchter Drogen nehmen.“

„Mama.“ Ich verdrehe die Augen. „Jetzt bausch das nicht so auf.“

„Wann fahren wir?“, fragt Clara munter. 

„Du bleibst hier, du musst untersucht werden.“

„Ich bleibe doch nicht bei den irren Tanten“, sagt Clara gut hörbar und zeigt auf ihre Bettnachbarinnen.

„Clara, du kannst nicht alles sagen, was dir gerade durch den Kopf geht“, flüstere ich und überlege, ob nicht eventuell doch ein paar Gehirnzellen dran glauben mussten. „Du hast schon die Sanitäter beschimpft und gesagt, du willst gefälligst ihre gutaussehenden Kollegen.“ Ich denke an die anderen Absurditäten, die sie von sich gegeben hat, und unterdrücke tatsächlich ein Lachen. „Du warst wie besoffen. Total besoffen. Wie an deinem 16. Geburtstag.“

Sie lacht. „Oje.“

„Oh Mann“, sagt Mama.

„Und in der Notaufnahme wolltest du die ganze Zeit telefonieren. Die erste Krankenschwester, die heute bei dir war, hast du wieder weggeschickt, weil du ihren Namen blöd fandest.“

„Hm“, macht sie. 

„Du warst superanstrengend“, fasse ich die Geschehnisse zusammen.

„Mann.“ Clara seufzt tief. „Tut mir leid. Das wollte ich echt nicht.“

„Und hör endlich auf, dich zu entschuldigen. Das nervt.“

 

Sie muss die gesamte kommende Woche im Krankenhaus bleiben. Die Ärzte finden nichts. Nichts, das diese Anfälle erklären würde. Also bekommt sie weiterhin ihre potenziell tödlichen Tabletten und muss sich in neurologische Behandlung begeben. Hier sitzt sie neben Demenzkranken und den „Speziellen“, wie sie sagt. Meine kleine, perfekte Schwester mit dem Einser-Abi, dem tollen Studium, dem Vorzeigeleben. Die Einzige, der das alles total egal zu sein scheint, ist sie selbst. Liegt vielleicht an den Tabletten. Irgendwie ist sie netter. Wir wären ja blöd, uns darüber zu beschweren.

 

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