Von Miklos Muhi

Der Kursor blinkte einsam in der rechten oberen Ecke des leeren Bildschirms. Ermittler Agash Hedayat betrachtete ratlos die weiße Pixelwüste.

Den Bericht hätte er gestern Nachmittag abliefern sollen. Der Inhalt stand für seine Vorgesetzten schon fest. Er hatte es trotzdem geschafft, einen neuen Termin dafür zu bekommen und verbrachte die Nacht damit, Akten zu studieren.

Sein Auftrag war, den Bericht zum Tod vom Richter Dabashi zu verfassen und abzuliefern. Dabashi wurde 52 Jahre alt, galt als frommer und eifriger Diener der Islamischen Republik und war in der letzten Zeit sehr beschäftigt, wie alle Richter des Obersten Gerichts.

Er wurde von einem seiner Dienstboten erhängt aufgefunden. Vergeblich investierte man viel Arbeit, um Hinweise auf Fremdeinwirkung zu finden. Polizeichef und Oberstaatsanwalt waren sich einig, dass der Dienstbote als Mörder einspringen und mit seinem öffentlichen Tod durch den Strang zum Erhalt der Regime beitragen musste. Das Volk dürfte nichts vom Selbstmord eines Richters erfahren. Das konnte noch mehr Öl ins Feuer der Rebellion, die offiziell nie existierte, gießen.

Agash wollte jedoch die Wahrheit wissen. Diesem Wissensdurst war es zu verdanken, dass er seit Jahren nicht befördert wurde. Die Wahrheit war kein gern gesehener Gast im Iran.

Er stand auf und ging ins Archiv, um die letzten Fälle des Richters zu studieren. Er suchte nach Anzeichen, dass Dabashi ein Gewissen entwickelt haben konnte. Danach sah es jedoch nicht aus: Er händigte Todesurteile stramm und nach Bedarf aus.

So war es auch bei seinem letzten Fall, als er einen 21-jährigen Mann wegen Korruption auf Erden und Krieg gegen Gott zum Tod durch den Strang verurteilt hatte. Der Beweis für das Erstere war seine Vorliebe für westliche Musik, die Agash selbst teilte. Das Letztere bestand daraus, dass er auf die Straße ging, um gegen die brutale Polizeigewalt der letzten Zeit friedlich zu protestieren.

Agash verstand nie, wie man gegen Gott Krieg führen konnte und warum der Allmächtige einen ganzen Apparat aus Richtern, Staatsanwälten und Polizisten brauchte, um sich zu wehren. Zum Glück war er Mordermittler und musste bei der Untersuchung solcher Fälle nicht mitmachen. Er war nicht sehr religiös, fürchtete aber den Tag, an dem Allah den ganzen Schwachsinn, den man in der Welt in seinem Namen anstellte, satthaben würde.

Er sah sich die letzten Interviews mit den Todeskandidaten des Richters an. So etwas wurde hin und wieder live im Fernseher übertragen. Üblicherweise sprachen die Todeskandidaten darüber, wie sie sich ihre Beerdigungen vorstellten. Das letzte Opfer des Richters sang nur leise vor sich hin.

Er holte sich alle Berichte zum Fall und las diese noch einmal durch.

Am Tag des Todes von Dabashi schien die Sonne und es war ungewöhnlich warm. Das wurde im Obduktionsbericht erwähnt, denn das führte zum schnellen Auftreten der sicheren Todeszeichen. Der Bericht enthielt einige Aufnahmen des Verstorbenen.

Dabashi war berüchtigt dafür, dass er fast immer lächelte, selbst oder gerade dann, wenn er seine Todesurteile verkündete. Ihm machte es anscheinend Spaß, die Verurteilten und ihre Angehörigen damit zu quälen. Selbst in seinem Tod lächelte er. Angesichts der Schmerzen, die das Erhängen begleiteten, warf sein Lächeln einige Fragen auf.

Agash nahm sich die Liste der vom Dabashi in den 24 Stunden vor seinem Tod getätigten Anrufe vor. Diese wurde routinemäßig angefordert und steckte noch im ungeöffneten Umschlag des Telekommunikationsministeriums. Die Telefonnummer auf der Liste ließen ihn trotz der Kühle stark schwitzen.

Er holte sein Telefon aus der Tasche, suchte in seiner Musiksammlung das Lied von Vera Lynn, das der letzte Todeskandidat gesungen hatte, und startete den Player. Mit jeder Zeile wurde sein Unbehagen größer.

… But I know we’ll meet again some sunny day …

… Keep smiling through just like you always do …

… So will you, please, say hello to the folks that I know? Tell them I won’t be long …

Vor seinem Tod hatte Dabashi mehrere Mitglieder der Familie seines letzten Opfers angerufen.

Agash schaltete den Player auf seinem Telefon aus, stand auf und ging zum Fenster. Auf der Straße vor der Polizeiwache war es ruhig und still. Man konnte in der Ferne jedoch die Flammen brennender Koranschulen und Häusern von Prominenten des Regimes sehen. Agash machte das Fenster auf und horchte. Das leise »Frauen, Leben, Freiheit« erklang aus verschiedenen Richtungen und verschmolz zu einem tiefen, kräftigen Murmeln.

Er schloss das Fenster wieder.

*

Als er das Gebäude kurz vor dem Morgengrauen verließ, salutierte der Wachposten vor dem Eingang. Agash nickte ihm zu.

Auf seinem Schreibtisch hinterließ er Waffe, Dienstmarke und seine säuberlich zusammengefaltete Uniform. Auf dem Stapel lag seine Kündigung. Er wusste, dass das als Verrat gewertet werden würde, aber das war ihm egal. Er hatte eine andere Vorstellung darüber, was Verrat ist.

 

Version 2