Von Martina Zimmermann

Von Weitem höre ich eine Stimme. „Guten Morgen Frau Kentrup, haben Sie gut geschlafen?“ Ich öffne die Augen und sehe zunächst nur ein Weiß. Was ist das? Wo bin ich? Frage ich mich. Langsam registriere ich, dass ich auf die Zimmerdecke starre.

„Frau Kentrup, wie geht es Ihnen heute?“, fragt die Stimme weiter.

Wer ist Frau Kentrup und was will diese Frau von mir? Meine Gedanken kreisen.

Langsam versuche ich mich aufzurichten, aber es fällt mir so unsagbar schwer. Warum ist das so? Ich bin doch eine junge Frau, die gerade einmal dreißig Jahre alt geworden ist.

„Was ist hier los?“ , rufe ich verzweifelt. „Was ist denn mit Ihnen? Haben Sie schlecht geschlafen?“, fragt die Stimme erneut. Ich versuche meinen Kopf zu drehen. Auch das fällt mir schwer, aber jetzt erblicke ich eine junge Frau. Sie ist in meinem Alter, so um die dreißig. Was will sie von mir? Was tut sie gerade? Ich beobachte sie, wie sie aus dem Zimmer geht in einen angrenzenden Raum. Was ist das für ein Zimmer? Gedanken über Gedanken. Wie bin ich hierher gekommen und was tue ich hier? Hatte ich einen Unfall?

Gerade als ich etwas fragen wollte, da sehe ich, wie die Frau mit einer Waschschüssel aus dem Zimmer auf mich zukommt. „So, jetzt wollen wir Sie erst einmal frisch machen.“ Sie lächelt mich an, während sie die Waschschüssel neben mir auf den Nachttisch abstellt. Danach schlägt sie meine Bettdecke zurück und ich kann an mir hinunter sehen. Was ist das für ein Körper?, frage ich mich. Das bin doch nicht ich?

Ich werde unruhig und ich möchte schreien. „Was ist mit mir passiert?“ Aber die nette Frau nimmt meine Hand. Sie streichelt sie und langsam entspanne ich mich. Ich spüre, sie meint es gut mit mir. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich helfe Ihnen. Alles wird gut,“ sagt sie, doch ich weiß nicht, ob das stimmt. Meine Angst kommt wieder hoch. Warum bin ich in diesem Körper? Ich scheine alt zu sein. Nicht nur alt, sondern auch gebrechlich. Ich bin auf Pflege angewiesen. Bin ich denn nicht gestern noch voll im Leben gewesen? In meinem Beruf im Supermarkt? Ich arbeite dort gerne. Den Kontakt mit den Menschen, den liebe ich. Was soll das jetzt? Mir ist doch nichts passiert?

Die Gedanken kreisen weiter und währenddessen registriere ich, die junge Pflegerin zieht mich aus und wäscht mich. Danach geht sie zum Kleiderschrank. „Was möchten Sie heute tragen?“, fragt sie mich. „Etwas sportliches?“, fragt sie weiter. Ich nicke, denn ich weiß nicht, was sich in diesem Schrank befindet. Welche Kleidung, ich fühle mich wie im falschen Film und warte auf die Auflösung. Irgendwie wird sich alles klären, rede ich mir ein. Dann helfe ich mit, so gut ich kann, versuche,meine Arme zu heben, um es der Frau zu erleichtern mich anzuziehen.

Diese Kleidung ist nicht meine, ich habe sie nie zuvor gesehen. Wie auch, denke ich. Der ganze Körper ist nicht meiner. Was für ein Horrortrip. Ich versuche aufzustehen, und für einen kleinen Moment spüre ich meine Beine. Es fällt mir schwer, aber ich schaffe es bis mir der Rollstuhl unter den Po geschoben wird. Die nette Pflegerin räumt noch schnell das Zimmer auf und dann geht es raus auf den Flur. Dieser ist lang und in einem Orange gestrichen. Eine warme Farbe denke ich noch und so leuchtend und fröhlich. Am Ende des Flurs geht es dann in den Speisesaal.

„So Frau Kentrup, jetzt gibt es erst mal Frühstück“, erklärt sie freundlich und schiebt mich dabei an einen Tisch. Hier sitzen außer mir noch zwei ältere Damen. Beide so um die achtzig Jahre. Ich grüße freundlich. „Guten Morgen.“ Und die beiden schauen mich erfreut an. „Guten Morgen Margarete.“ Ich nicke und registriere, ich heiße Margarete Kentrup. Mein Name, mit dem ich nie etwas zu tun hatte. Wie in Gottes Namen komme ich hierher? Und warum bin ich alt? Bevor mich die Verzweiflung wieder einholen kann, werde ich abgelenkt.

„Hier ist ihr Frühstück, Frau Kentrup. So wie sie es mögen. Brötchen mit Butter und Marmelade. Dazu Kaffee mit Milch.“ Als ich den Duft den Kaffees rieche und das frische Brötchen auf meinem Teller sehe, beginne ich zu  essen und zu trinken. Es schmeckt mir sehr gut und ich fühle mich gleich besser. Meine Nachbarinnen essen scheinbar mit genauso viel Appetit. „Margarete, möchtest du heute Nachmittag mit auf den Ausflug?“, fragt die Frau rechts von mir. „Maria und ich kommen auch mit,“ erklärt sie. Ich registriere, die linke Frau ist Maria. „Genau,“ bestätigt Maria. „Beim letzten Mal war es doch so schön dort, weißt du noch?“ Ich nicke, aber weiß nicht im Geringsten wovon Maria spricht. „Paula hat sich auch gut amüsiert, obwohl sie nicht wirklich die Tiere dort mochte. Aber auf einem Bauernhof sind nun einmal Tiere,“ ergänzte Maria noch. „Ich habe nie auf einem Bauernhof gelebt“, erklärt Paula. „Aber ich liebe die Natur und die Ausflüge auf den Hof, wo es den besten Kuchen gibt, den lasse ich mir nicht entgehen.“

Die beiden lachen und ich lache mit. So langsam ertappe ich mich dabei, dass ich mich auf den Ausflug am Nachmittag freue.

Bin ich irre?, frage ich mich immer wieder und schüttle meinen Kopf, als wenn ich meine Gedanken dadurch in die richtige Reihenfolge bringen kann. Ich werde das Beste aus meiner Situation machen, beschließe ich und gerade geht es mir gut. „Gleich wird erst mal gesungen“, sagt Paula. „Du singst doch auch so gerne“, sagt sie und schaut mich an. „Ja, sehr gerne“, bestätige ich und ich ertappe mich erneut, dass ich mich auch darauf freue. Nach dem Frühstück unterhalten wir uns noch eine Weile, und dann ist es soweit. Eine Frau betritt den Speisesaal. Alle scheinen sie zu kennen. „Hallo und guten Morgen zusammen, es ist wieder so weit. Haben sie Lust mit mir heute Morgen zu singen?“, fragt sie. Alle klatschen und freuen sich. „Aber natürlich,“ rufen alle in freudiger Erwartung. Ich ertappe mich dabei, dass ich genauso aufgeregt bin, wie damals als junges Mädchen, wenn ich ein Geschenk bekam und ich es nicht erwarten konnte es auszupacken. Wie verrückt ist das denn, denke ich. Doch ich bin glücklich in diesem Moment. Die Frau holt eine Gitarre aus dem Koffer, den sie mitgebracht hat und dann gibt es noch kleine Rasseln, die sie unter die Leute verteilt. Sie können im Takt dazu die Rasseln bewegen. Die Frau stimmt die Gitarre kurz, und dann geht es los. Wir singen Volkslieder, es ist so schön. Die Gitarre dazu und im Rhythmus die Rasseln. In dem Raum ist eine Stimmung, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe, und es sind alles alte Leute hier, denke ich.

Der Morgen vergeht wie im Fluge und als wir das Abschlusslied singen, verspüre ich eine Wehmut. Schade, denke ich. Es war sehr schön heute Morgen. Wir haben noch kurz Zeit bis zum Mittagessen und die nette Pflegerin begleitete mich zur Toilette. Sie hilft mir, denn ohne sie würde ich nicht klar kommen. Was für ein Scheiß, denke ich wieder. Wenn man auf Hilfe angewiesen ist. Aber nachdem alles wieder an Ort und Stelle ist, bringt sie mich zu meinem Tisch, wo Maria und Paula schon warten. Dort sehe ich in zwei begeisterte Gesichter. „Wie hat es dir gefallen?“, fragt Paula. „Es war so schön“, schwärme ich. „Der Morgen ist wie im Fluge vergangen.“ „Und gleich gibt es noch ein Highlight“, offenbart Maria. „Was denn?“, frage ich neugierig. „Heute gibt es Kartoffelpuffer“, jubelt sie. Und ihr Lächeln erstrahlt über den ganzen Tisch. „Was für ein Tag“, lache ich und dann wird auch schon das Mittagessen gebracht. Genau wie am Morgen essen wir mit Appetit und als wir alles aufgegessen hatten, beschließen wir, uns noch etwas auszuruhen. Schließlich wollen wir am Nachmittag auf den Ausflug auf dem Bauernhof. Wir müssen also schon frühzeitig los. Dort wird es dann Kaffee und Kuchen geben und das in freier Natur. Ich freue mich, wie ein kleines Kind.

Die Pflegerin kommt und schiebt mich in mein Zimmer. Dann hilft sie mir, mich in mein Bett zu legen und deckt mich zu. „Schlafen sie gut, Frau Kentrup. Ich sag schon mal bis Morgen früh, dann helfe ich Ihnen wieder. Gleich ist meine Schicht zu Ende und die Kollegin holt Sie aus dem Bett und hilft Ihnen dann.“ „Ja, danke“, sage ich und „ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“ „Danke“, ruft sie noch beim Rausgehen und dann fallen mir auch schon die Augen zu. Ich schlafe tief und fest. Scheinbar hat mich das Singen angestrengt. Aber es war eine schöne Anstrengung. Solche Dinge strengen ältere Menschen an, darauf wäre ich nie gekommen, jetzt erlebe ich es am eigenen Leib. Aber ich merke, trotz der Gebrechen, dass ich immer noch glücklich sein kann. Ich kann mich noch freuen und ich kann lachen und singen und das Beste aus meinem Leben machen. Diese Erfahrung macht mir Mut.

 

Als ich erneut die Augen aufschlage, sehe ich in die strahlenden Augen meines Mannes.

„Wie geht es dir mein Schatz“, fragt er mich. Ich richte mich auf und schaue mich um. Ich befinde mich in meinem  Schlafzimmer und liege in meinem Bett. „Was war mit mir?“, frage ich. „Du hattest hohes Fieber, ich habe mir sehr große Sorgen gemacht“, sagt er und nimmt mich glücklich in den Arm. „Ich war krank?“, frage ich. „Als wenn du in einer anderen Welt gewesen wärst“, sagt Paul. „In einer anderen Welt?“, wiederhole ich.

Dann fällt mir alles wieder ein. Das Altenheim mit dem Gesang, Paula und Maria, und ich dazwischen. „Ich war in einer anderen Welt“, wiederhole ich und ich lächel ihn an.

Paul lächelt zurück. „Jetzt bist du wieder bei mir und das ist gut.“