Von Mathis Geywitz
Sie starren mich alle an.
Lauter kaputte Gesichter, mit eingefallenen Wangen und dunklen Rändern unter den Augen.
Ich will hier weg.
In der verwaisten Turnhalle riecht es bereits nach Kaffee, als man uns hereinlässt. Einige der anderen sprechen miteinander, plaudern, aber in gedämpftem Ton.
Ich halte mich fern von ihnen, gehe immer ein paar Schritte hinter der Gruppe. Ich bin kein Teil von ihnen. Niemals.
Nur eine einzige Gitterleuchte erhellt den riesigen Raum und beleuchtet ein selbstgebasteltes Pappschild. Schluss mit Sucht. Darunter ist ein Wegweiser gemalt, eines seiner Schilder zeigt eine Schachtel Zigaretten, ein anderes das Wort Freiheit.
Unter dem Pappschild steht der Stuhlkreis aus Campingmöbeln, um den sich die Gruselmenschen jetzt versammeln. Daneben befindet sich ein kleiner Tisch, auf dem Thermoskannen und Plastikschalen mit Donuts und Salzstangen verteilt sind.
Ich gehe immer langsamer, so langsam, dass ich erst am Tisch ankomme, als der Rest sich bereits mit Essen und Trinken eingedeckt hat. Sie stehen jetzt in Grüppchen herum und tuscheln, und obwohl keiner von ihnen mir den Kopf zudreht, weiß ich doch, dass sie mich aus den Augenwinkeln beobachten und jede meiner Bewegungen verfolgen.
Mich, den Sonderling, in gebügeltem Polohemd und sauberen Schuhen.
Mich, den Mann mit dem Ray-Ban-Schriftzug auf der Brille.
Meine Hand zittert, während ich einen Plastikbecher mit Kaffee fülle. Eine Weile stehe ich noch am Tisch herum, nehme winzige Schlucke von der lauwarmen Brühe und schaue auf die Donuts, von denen ich nichts essen will. Irgendwann wird mir das prickelnde Gefühl der Blicke in meinem Nacken zu viel, ich drehe mich ruckartig um und setze mich auf den nächstbesten Platz. Die anderen reden weiter.
Ich dachte, der Gruppenleiter würde meine Rettung sein.
Er spaziert in den Raum, mit einem karierten Hemd und einem breiten Lächeln auf den Lippen.
„Guten Abend,“ sagt er mit weicher Butterstimme und wartet, bis alle sich gesetzt haben. Erst dann lässt er sich auf seinen Stuhl fallen und schaut in die Runde.
„Schön, dass ihr heute Abend hier hergefunden habt. Ich sehe ganz viele bekannte Gesichter, toll, dass ihr dabei bleibt, Leute.“
Dann fällt sein Blick auf mich, und die anderen tun es ihm gleich.
Sie starren mich alle an.
„Aber wir haben auch einen Neuzugang, wenn ich mich nicht schwer irre.“
Wie kann man nur so lange am Stück lächeln?
„Ich bin George, der Veranstalter unserer kleinen Runde hier. Erzähl mir und den anderen doch kurz, wer du bist und warum du heute hergekommen bist.“
Mein Hals ist trocken. Ausgedörrt. Eine Wüste.
„Ich,“ sage ich und muss sofort husten.
„Du musst nicht nervös sein,“ versichert mir George. „Am Ende sind wir doch alle aus dem gleichen Grund hier. Wenn du irgendwo Verständnis finden wirst, dann an diesem Ort.“
Für einen Moment huscht mein Blick wieder zu den kaputten, müden Gesichtern. Nein. Ich gehöre nicht hierher. Davon wird mich niemand überzeugen.
Trotzdem öffne ich den Mund, denn ich will es hinter mich bringen, ich will, dass die roten, traurigen Augen aufhören, mich anzustarren.
„Ich heiße Ernst,“ sage ich. „Und ich bin hier, weil ich Millionär bin.“
Wie eine Welle streichen meine Worte über den Stuhlkreis und ich bilde mir ein, dass das Wort noch hundertmal in der Turnhalle widerhallt. Millionär, Millionär, Millionär.
Ein paar der Anwesenden schnauben, einer lacht kurz auf, der Rest schaut zornig oder ungläubig zwischen mir und George hin und her.
Dem ist sein Lächeln nun abhanden gekommen. „Oh… Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.“
„Ich bin Millionär,“ wiederhole ich. Meine Stimme zittert jetzt. „Das ist meine Sucht.“
„Schmeißt den raus,“ murmelt irgendeiner und bekommt leise Zustimmung. Die Luft vibriert vor Spannung.
George versucht jedoch, die Fassung zu bewahren. „Das klingt nicht schön.“ Er druckst herum. „Auch wenn das nicht die Art von Sucht ist, mit der wir uns hier normalerweise…“
„Drogen und der ganze Scheiß,“ unterbricht ihn ein Mann mit zerrissener Hose und kahlgeschorenem Kopf, „klingelt da was? Crystal, Heroin, Alkohol. Das sind Süchte. Aber Geld? Wen willst du damit eigentlich verarschen, Mann?“
„Genau,“ pflichtet ihm eine Frau um die fünfzig bei, die zwei volle Plastiktüten zwischen ihre Beine geklemmt hat. „Die Hälfte hier hat wegen ihrem Stoff nicht mal was Anständiges zu essen, und dann kommt so ein Anzug-Arschloch wie du und denkt, er wüsste, was echte Probleme sind.“
„Verpiss‘ dich einfach,“ murmelt mein Nebensitzer ganz leise, als wäre es ein gut gemeinter Ratschlag.
Meine Augen brennen. Ich will aufstehen und weglaufen, raus aus der Turnhalle und weg von der Feindseligkeit, aber gleichzeitig glaube ich, nie wieder einen Muskel rühren zu können. Ich sitze wie auf dem elektrischen Stuhl. Nein, wie in der Hölle.
„Freunde, Freunde“ ruft George und wedelt beschwichtigend mit den Händen. „Bitte, es gibt keinen Grund, sauer zu werden. Es stimmt, wir reden hier meist über die Drogensucht.“ Er deutet auf einen untersetzten jungen Mann. „Aber Jim hier ist spielsüchtig, oder nicht? Und Marla, bist du nicht zu uns gekommen, weil du das Gefühl hast, süchtig nach dem Internet zu sein?“
Die beiden nicken und schauen betroffen auf ihre Füße. Der Rest der Gruppe sieht immer noch wütend aus, bleibt aber stumm.
Ich spüre Schweiß auf meiner Stirn, Schweiß unter meinen Achseln, Schweiß an meinem ganzen Körper. Ich bin hier falsch, möchte ich schreien, ich sollte gar nicht hier sein, das ist hier kein Ort für mich.
„Also gut,“ sagt George jetzt und setzt wieder sein Lächeln auf. „Ernst, erzähle uns bitte, wie es ist, diese Sucht nach Geld, damit wir dich verstehen können.“
„Ich bin nicht süchtig nach Geld,“ sage ich heftig, und für eine Sekunde denke ich nicht mehr an meine Angst.
„Nun, wenn es nicht am Geld liegt,“ sagt George und zupft an seinem Hemdkragen herum. „Was ist es denn dann?“
Ich will das wirklich nicht. Ich will mich nicht öffnen, will nicht über meine Gefühle reden, während diese verzerrten Fratzen nur darauf warten, wieder über mich herzufallen. Ich will ihnen dabei nicht auch noch ein Festmahl bereiten.
Trotzdem brennen die Worte in meinem Brustkorb, und das schon viel zu lange. Also hole ich einmal tief Luft, verschließe die Augen vor den kaputten Menschen und spucke alles aus.
„Ich…“.
Pause.
„Keine Ahnung, was es wirklich ist. Es hat mit meiner Firma angefangen, ein IT-Unternehmen. Ich habe sie gegründet, weil ich daran geglaubt habe, die Welt verändern zu können. Ich habe viel gearbeitet, hart gearbeitet, Tag und Nacht, weil diese Idee alles für mich war. Die ganze Zeit kam es mir vor, als würde ich ein Kind aufziehen. Und ich habe mein Kind geliebt.“
Jemand lacht kurz auf. Ich schaue nicht hin. George mustert mich mit ernstem Blick. „Und wie ist es mit deiner Firma weitergegangen?“
„Sie ist gewachsen,“ sage ich. „Immer schöner, immer größer, immer einflussreicher. Je mehr ich mich um sie gekümmert habe, desto mehr gab es, worum man sich kümmern musste.
Irgendwann wusste ich gar nicht mehr, was meine Firma überhaupt tat, ich sah nur die Aktienkurse und diese ganzen Zahlen. Dann ist mir bewusst geworden, wie egal mir meine Arbeit geworden war. Alles was ich noch getan habe, war Leute einzustellen und Geld zu zählen.
Also begann ich, weniger zu arbeiten, und stattdessen mehr von meiner Kohle auszugeben.
Ich war wieder glücklich. Habe mir schöne Autos gekauft, exotische Orte besucht, mich auf den Partys der Reichen und Schönen herumgetrieben. Es war ein paradisisches Leben, aber nach der hundertsten schönen Frau und dem tausendsten exklusiven Restaurant wird auch das alles gleichgültig. Ab einem gewissen Punkt gehörte es einfach dazu.
Und als ich mich daran gewöhnt hatte, war ich es schnell wieder satt.“
„Wie bist du damit umgegangen?“ fragt George. Ich komme mir immer mehr vor, als läge ich bei einem Psychologen auf der Couch.
Aber ich kann nicht mehr zurück. Ich will nicht mehr zurück. Und deshalb rede ich weiter.
„Ich habe weiter gesucht. Nach dem Glück, nach einem Gefühl von Erfüllung. Irgendetwas, das mir sagen würde, hey, du bist am Ziel. Eine erfolgreiche Karriere, ein luxuriöses Leben, das alles mussten nur Sprossen auf der Leiter gewesen sein, die zu etwas Größerem führen würden. Das…“
Ein Schnauben unterbricht mich. Ich fahre aus meinem Monolog hoch und starre einem Kerl mit Irokesenschnitt direkt in die Augen.
Bevor ich wieder wegsehen kann, sagt er: „Es gibt nichts Größeres, Bruder. Gibt es nie.“
Ein paar traurige, graue Gesichter nicken. Meine Augen brennen, und in mir wird es ganz leer.
„Ich weiß.“
Meine Hand wandert in meine Hosentasche und bekommt etwas zu fassen.
Sie wissen, wie du dich fühlst, flüstert ein Stimmchen in meinem Kopf.
Wenn ich es jetzt nicht tue, werde ich es nie tun.
Also schleudere ich das Plastiktütchen in die Mitte des Stuhlkreises.
Ein paar der Anwesenden schnappen nach Luft, unter ihnen auch George.
Ich gehöre dazu, schreit dieses kleine Päckchen, und tausend kleine Stiche fahren durch meinen Brustkorb.
Dann bricht der Damm, und stumme Tränen fließen meine Wangen herunter. Die Blicke der anderen wandern von dem Tütchen zu mir und wieder zurück. Sie wollen die Geschichte dazu hören.
„Erst, als ich mich mit dem Zeug so richtig abgeschossen habe, hab ich verstanden, was für einen Mist ich gebaut habe.“ Meine Stimme klingt weinerlich, und ich bemühe mich um Fassung.
„Dieser widerliche Überfluss, dieses ständige Alles-Haben. Hauptsache mehr Macht, mehr Geld, mehr Besitz, das ist alles so krank.
Ich habe so viel Geld für Anzüge ausgegeben, wie manche Menschen in ihrem ganzen Leben nicht verdienen werden. Ich habe Desserts bestellt, von denen ich nur einen Löffel probiert habe, während in anderen Ländern die Menschen verhungern.
Und das schlimmste ist, während ich hier herumsitze und einen Scheiß tue, läuft immer noch mehr Geld auf mein Konto, zack, eine Million, zack, noch eine Million, zack, zack, zack.
Ich hasse mich dafür, dass ich so bin, und dieses Zeug hier hat mir geholfen, das zu akzeptieren.“
Mein ganzer Körper zittert. Es gibt nur noch eine einzige Wahrheit. Ich bin süchtig danach, süchtig nach dem Hass, süchtig nach der Linderung, die diese Substanz verspricht.
Die einfache, einfache Lösung.
Erst nach langer Zeit bemerke ich, dass die ganze Gruppe von ihren Stühlen aufgestanden ist. Sie umkreisen mich, und als mein Blick sich mit dem des kahlrasierten Mannes trifft, zieht er mich wortlos auf die Beine und umarmt mich mit seinen Schraubstockarmen.
Einer nach dem anderen treten sie alle vor, um mich an ihre Brust zu drücken.
Und ganz nebenbei fange ich an, etwas zu fühlen.