Von Ingo Pietsch

Snowhite and the Huntsman

 

Der Blick über ihre geschundene Schulter zeigte Karin, dass ihr Auto nur noch Schrott war. Es war auf dem Dach aufgeschlagen und lag platt wie eine Flunder in dem ausgetrockneten Flussbett.

Sie hatte sich mit ihrem Partner eine wilde Verfolgungsjagd durch mehrere Kleinstädte geliefert, bis er sie auf dieser Holzbrücke an der kanadischen Grenze von der Fahrbahn gedrängt hatte.

Wirr hing ihr das lange schwarze Haar im Gesicht. Sie blutete aus mehreren Wunden an Armen, Beinen und dem Oberkörper. Ihre Kleidung war zerrissen und alles tat ihr weh.

Im letzten Moment war sie aus dem fahrenden Auto gesprungen, ehe es in die Tiefe gestürzt war.

Schützend hielt sich Karin einen zerbeulten Alu-Koffer vor die Brust.

Schwer atmend beobachtete sie, wie Harrison, ihr Partner, aus seinem Fahrzeug stieg, das am Ende der Brücke stand.

Eigentlich war es ein herrlicher Sommertag, doch konnte Karin, wegen ihrer Schmerzen, der schönen Landschaft kaum etwas abgewinnen.

Harrison überprüfte gerade seine Waffe und lud nach. Anschließend schob er seine Sonnenbrille wieder hoch und ging langsam und bedächtig auf Karin zu.

Sie hatte ihre Pistole hinter dem Koffer versteckt.

Natürlich wusste Harrison, dass sie ihre Waffe irgendwo am Körper verborgen hielt. Schließlich kannten sie sich in- und auswendig. Er würde kein Risiko eingehen.

Jedenfalls nicht bei der Summe.

Harrison trat an das intakte Geländer neben der Lücke, die das Auto gerissen hatte und blickte nach unten; behielt aber jede Bewegung von Karin im Augenwinkel.

„Puh, das geht ganz schön tief runter. Da hast du ja noch mal Glück gehabt.“

Karin schnaubte verächtlich. Zu gern hätte sie ihre Pistole gezogen und geschossen. Aber in ihrem Zustand wäre sie einfach nicht schnell genug gewesen. Sie hoffte auf den nächsten Adrenalinschub und würde dann versuchen sich freizukämpfen.

Plötzlich gab es einen Knall und Federn regneten auf Karin herab.

Mühevoll drehte sie den Kopf in Harrisons Richtung. Ihre Finger hatten sich um ihre Waffe geschlossen. Sie bemerkte dabei, dass mehrere Finger gebrochen waren. Ein Schleier legte sich vor ihre Augen.

Harrison hatte in einem Reflex einen herbeigeflogenen Raubvogel vom Handlauf der Brücke geschossen.

„Und schon wieder hast du Glück gehabt“, kommentierte er. „Der eigentliche Grund, warum du noch lebst ist, dass ich wissen wollte, warum du mich hintergangen hast.“

Karin schaute auf. Die Sonnenbrille verhinderte, dass seinen Blick erkennen konnte.  Vor ihren Augen tanzten Sterne. Nicht mehr lange und sie würde ohnmächtig werden.

„Mein Bruder …“, begann sie.

„Pscht“, machte Harrison und legte den Lauf seiner Waffe an seinen Mund. „Wir hatten uns doch drauf geeinigt, nicht über unsere Vergangenheit zu sprechen. Ich weiß nichts über dich und du nichts über mich. Oder?“

Sie hatten sich vor einem guten Jahr in Las Vegas kennengelernt.

Harrison war ein Trickdieb und Kartenspieler. Karin eine Betrügerin. Beide hatten sich gegenseitig übers Ohr hauen wollen.

Er hatte den großen Gewinn eingesackt, sie wollte ihn auf ihrem Zimmer im Casino verführen und mit der Beute heimlich verschwinden. Irgendwie hatte es zwischen den beiden gefunkt und sie hatten sich zusammen getan.

Es blieb nicht nur beim Glücksspiel. Bald waren es Einbrüche und Diebstähle.

Hauptsächlich arbeiteten sie im Auftrag für reiche Geschäftsleute und kriminelle Banden.

Karin hatte lange schwarze Haare, volle, dunkelrote Lippen und einen hellen Teint und wurde deshalb Schneewitchen genannt.

Harrisons Passion war die Jagd nach wertvollen Dingen.

Wo immer sie zusammen auftauchten, kannte man sie fortan nur noch als Snowhite and the Huntsman.

Karin schüttelte den Kopf. Jetzt würde der Jäger das beenden, was er im Märchen begonnen hatte.

„Trotzdem würde ich gerne wissen, was du mit den zwei Millionen Euro vorhattest, die wir für den letzten Job bekommen haben und wir hätten teilen können. Für jeden eine Million. Reichte dir das nicht?“ Harrison starrte wieder in die Landschaft. Er vermied es, Karin direkt anzusehen.

Sie wiederum überlegte, ob sie es nicht doch schaffen würde, ihre Waffe schneller zu ziehen als er.

„Ich habe einen Bruder in Deutschland“, begann sie. „Er hat eine Familie. Zwei kleine Kinder. Ist schwer krebskrank. Gelegentlich schicke ich ihm Geld, da er selbst nicht mehr arbeiten gehen kann. Die zwei Millionen wären genau die Summe, die er für eine aufwendige Therapie braucht, die ihm das Leben retten könnte.“

Harrison holte tief Luft und dachte nach. Trotz seines Jobs schätzte er Ehrlichkeit und Treue, wenn er jemanden richtig kennengelernt hatte. Er mochte Karin. Vielleicht liebte er sie sogar. Aber sie hatte ihn hintergangen. Und dafür hasste er sie. Er war innerlich zerrissen und hieb mit der Faust auf das Geländer: „Verdammt, warum hast du nichts vorher gesagt?“

Erneut überkam Karin ein Schwindelgefühl und sie keuchte: „Ich habe es ein paar Mal versucht. Aber du hast mir nicht zugehört. Und du wolltest dich nicht fest binden.“

Sie hatte Recht. Er wollte einfach keinen Klotz am Bein haben. Jemand, der ihn schwach wirken lassen könnte und dies sogar ausnützen würde.

„OK, ich verzeihe dir. Es wird dauern, bis ich wieder Vertrauen zu dir aufbauen kann. Aber wir können es schaffen. Und übrigens: In dem Koffer ist kein Geld, da sind nur Socken drin.“

Karin konnte nicht glauben, was sie da hörte. Wer vertraute hier wohl wem nicht?

„Und warum hast du mich dann die ganze Zeit verfolgt? Es hätte dir doch egal sein können.“

Die zahlreichen Wunden machten sich deutlicher bemerkbar als zuvor. Das rechte Hosenbein fühlte sich nass an und als sie am Koffer vorbeisah, bemerkte Karin, dass es blutdurchtränkt war.

„Du hast Recht. Aber ich konnte dich nicht einfach gehen lassen. Und ich wollte den Grund wissen, warum du mich hintergangen hast.“ Harrison blickte in die Tiefe.

Wut stieg in Karin auf. Vertrauen? Hintergangen?

Mit letzter Kraft riss sie die Pistole hoch. Doch ehe sie abdrücken konnte, flog ihre Schulter zurück und sie kippte um. Ein Schuss hallte durchs Tal.

Harrison hatte, ohne zu zielen, geschossen.

Karin lag halb auf dem Koffer, halb auf der Straße.

Harrison trat an sie heran und entriss ihr gewaltsam die Waffe aus den verkrümmten Fingern.

Sie gab kaum hörbare Töne von sich und konnte sich nicht mehr bewegen.

„Ich habe mich so in dir getäuscht.“ Er hatte sich niedergekniet und den Koffer geöffnet.

Durch einen Schleier sah Karin die gelben und grünen Bündel, mit denen der Koffer gefüllt war.

„Du glaubst einem doch wirklich alles.“ Harrison zog die schwer verletzte Karin an die Abbruchkante, so dass sie in sich zusammengesunken dort sitzen blieb.

Er nahm den Koffer und fasste Karin am Kinn. „Und jetzt sagen wir uns auf Wiedersehen.“

Erst glaubte sie, er würde sie zum Abschied noch einmal küssten, doch dann stieß er sie mit zwei Fingern nach hinten.

Karin sah ihr eigenes entsetztes Gesicht in den spiegelnden Sonnebrillengläsern.

Harrison beugte sich vor und hielt triumphierend den Koffer in die Höhe.

In seiner Freude merkte er zu spät, wie der Koffer mit nach unten gerissen wurde.

Harrison prallte hart mit der Brust auf die beschädigten Holzbohlen.

Karin hatte eine Nylonschnur am Griff des Koffers und ihrem Handgelenk befestigt, damit ihn ihr keiner so schnell abnehmen konnte. Handschellen wären zu auffallend gewesen.

Statt loszulassen, verkrampften sich Harrisons Finger um den Griff. Und ehe er auf die Idee gekommen wäre, den Koffer später einzusammeln, zersplitterten die Bohlen unter seinem Gewicht und beide stürzten in die Tiefe.