Von Marie Masse

Als das Telefon klingelte, war Lena allein zu Hause. Sonst ließ sie ihre Mutter oder ihren Vater abnehmen, sie selbst wurde eher auf dem Handy angerufen, aber heute musste die Siebzehnjährige an den Apparat. Sie guckte kurz auf das Display: eine fremde Nummer.

„Da“, meldete sie sich auf Russisch.

Eine unbekannte männliche Stimme fragte nach ihr, Lena Kolzowa, in einem unsicheren Russisch und mit starkem deutschem Akzent.

Gleich wusste Lena, um was es ging, und freute sich, wenn auch mit einer gewissen Bange. Würde endlich Bewegung in die Suche nach einem Partner kommen?

Sie wechselten ins Englische, keiner der beiden konnte die Sprache des anderen gut genug, um sonst ein ernstes Gespräch zu führen.

„Bist du immer noch interessiert? Oder hast du schon jemanden gefunden?“, fragte er.

„Nein … ja … Also nein, ich bin noch solo, und ja, ich würde es gern mit dir versuchen.“ Lena war stolz, dass er auf ihre Anzeige geantwortet hatte. Sie wusste schon Einiges über ihn, berühmt war der Fünfundzwanzigjährige genug, zumindest in ihrem Milieu. Alle seine Aufnahmen hatte sie mehrmals angeschaut. Er hatte wahrscheinlich gründlicher suchen müssen, um Informationen und Videos über sie zu finden. Und sie war mit Sicherheit nicht die Einzige, die mit ihm gern zusammenkäme.  

Sie tauschten die noch fehlenden Auskünfte aus. Alles hörte sich toll an. Ja, für den ersten Kontakt vor Ort könne er nach Moskau kommen. Dann allerdings müsse sie nach Deutschland umziehen. Denn dort hätten sie bessere Chancen, ihren größten Traum zu verwirklichen, ihre Partnerschaft etwas Außerordentliches werden zu lassen. Ein Einzelzimmer in einer gemeinsamen Unterkunft stand schon für sie frei, sie wäre also nicht allein auf sich gestellt.  

Darauf hatte Lena gehofft. In Russland wäre ein Aufstieg schwieriger, die Konkurrenz war groß, es dauerte lange, bevor man sich durchgesetzt hatte und die Chance bekam, sich auch international zu zeigen. Lena war bereit, sich ins Abenteuer zu stürzen, hier kam sie nicht mehr voran.

Sie vereinbarten ein erstes Treffen in fünf Tagen. Eine ganze Woche würde er bleiben, damit sie sich mehrmals sahen.

Sobald Lena aufgelegt hatte, konnte sie nicht umhin, Herrn P. anzurufen, wie sie ihn nannte. Er hatte schon auf ihre Nachricht gewartet, da er selbst den Kontakt vermittelt hatte, und freute sich auch. „Nur schade, dass ich dich dann verliere“, sagte er zum Schluss. „Aber ich verstehe deine Gründe, das weißt du.“

*

Fünf Tage später saß das Mädchen in der Straßenbahn auf dem Weg zum Treffpunkt. Wie sie sich fühlte, hätte sie nicht sagen können. Freude, Bange, Spannung, Hoffnung, Zweifel? Seit dem Anruf durchlebte sie die ganze Palette der unterschiedlichsten Emotionen. Ihren Eltern hatte sie noch nichts davon erzählt. Sie wussten zwar, dass sie sich mit der jetzigen Situation nicht zufriedengab und mehr wollte. Aber sie einweihen würde die Jugendliche erst, wenn alles sicher war. Sie sollten sich keine Sorgen oder Hoffnungen machen, falls sich das Projekt als aussichtslos erwies.

Bei Lenas Eintreffen war er noch nicht da und nach dem Umziehen lief sie hin und her. Plötzlich stand er an der Tür. Was für ein stattlicher Mann, schoss es ihr durch den Kopf. Er strahlte Kraft aus. Von den Videos wusste sie, dass seine Bewegungen auch weich sein konnten, wenn es nötig war. Sie bewunderte sein blondes Haar und die blauen Augen, sie passten schön im Kontrast zu ihrem dunkleren Teint.   

„Hello!“, grüßte sie auf Englisch – es musste weiter ihre gemeinsame Sprache bleiben, bis sie genug Deutsch gelernt hatte, um damit zurechtzukommen und auch um die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen zu dürfen. „Hast du gut hergefunden? Wann bist du in Moskau angekommen?“

„Gestern Abend. Ich kenne mich hier schon etwas aus, ich war oft für Veranstaltungen da.“

Wie blöd von mir, dachte Lena, selbstverständlich ist Moskau für ihn ein gewöhnliches Reiseziel, Russland ist in unserer Welt als eins der hervorragenden Länder bekannt genug!

Ohne viel Federlesen lief er neben ihr weiter. Wie sie gehofft hatte, war der Größenunterschied zwischen ihnen genau richtig. Ihr Kopf reichte knapp unter sein Kinn. Bald kam Herr P. dazu. Der erste Versuch konnte starten.  

Als sie zum ersten Mal ihre Hand in seine legte, spürte sie Energie und Sicherheit. Vielleicht ließ sie sich zu sehr von ihrer voreigenommenen Begeisterung leiten, aber dennoch fühlte es sich anders als sonst, schöner, hoffnungsvoller, und auch gleich wie vertraut. Sie fanden bald einen gemeinsamen Rhythmus. Er war etwas schneller als die beiden bisherigen Partner, mit denen sie einen gewissen, doch beschränkten Erfolg erfahren hatte. Sie musste sich anstrengen, um mitzukommen. Aber so musste es sein. Auch Herr P. schien zufrieden, denn er verlangte von ihnen innerhalb der einen Stunde nicht nur alle Basisübungen zu proben, sondern noch etwas schwierigere Elemente. Am Ende waren sich alle drei einig: Das Experiment war gelungen. Es stand außer Frage, dass sie an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten sollten.

„Wir sehen uns morgen früh auch um 9, diesmal zwei Stunden am Stück“, befahl Herr P.

 *

In der Straßenbahn nach Hause ließ Lena ihre Gedanken freilaufen. Ihr war bewusst, dass viele junge Mädchen wie sie an den großen Traum geglaubt hatten und enttäuscht wurden, als alles zu nichts auslief. Es gab aber auch Beispiele von gelungenen Partnerschaften, bei denen sich zwei Länder gefunden hatten. Selbstverständlich würde der Weg lang und hart sein. In eine fremde Umgebung weit weg zu ziehen, ihre Eltern monatelang nicht mehr zu sehen, irgendwann die Kontakte zu den hiesigen Freunden und Freundinnen zu verlieren, eine neue Sprache lernen und mit vielen Behörden kämpfen zu müssen … ohne Sicherheit, dass bei der letzten Hürde nicht alles zusammenbrach, an einem fehlenden Stempel zur Einbürgerung gescheitert. Oder vielleicht an einer mangelnden Begabung, egal, wie viele Fachleute ihr versicherten, dass sie Potenzial besaß. Den Willen, den Fleiß und die Leidenschaft hatte sie auf jeden Fall, das war eine der wenigen Sachen, bei denen sie sich absolut sicher war. Sie lebte schon seit über zehn Jahren für diese Stunden, die trotz ihrer Härte vor allem Glücksstunden waren, und wollte noch jahrelang dafür leben. Dazu brauchte sie den richtigen Partner und sie meinte, ihn endlich gefunden zu haben.

Ja, nur wenn sie fest daran glaubte und dafür arbeitete, ungeachtet dessen, was kommen würde, könnte sie vielleicht eines Tages in der fernen Zukunft die Nachfolge ihrer beiden Vorbilder antreten, die auch mit knapp 18 ihre Heimat verlassen und allen Widrigkeiten getrotzt hatten, um das Risiko einer unbekannten Partnerschaft einzugehen. Ja, eines Tages würde auch sie, wie die Französin Marina Anissina im Eistanz und die Deutsche Aljona Savchenko im Paarlauf, mit der Goldmedaille um den Hals auf der höchsten Stufe des Olympischen Podests stehen.

 

 

Für Interessierte:

-Gold-Kür bei den Olympischen Spielen 2002 von Marina Anissina und Gwendal Peizerat: https://www.youtube.com/watch?v=RyJknaDA7II

-Gold-Kür bei den Olympischen Spielen 2018 von Aljona Savchenko und Bruno Massot: https://www.youtube.com/watch?v=6bNOnXTe4Ok

 

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