Von Christa Blenk

„Mist. Jetzt muss ich bei diesem Sauwetter auch noch zu dem Hof rausfahren. Wer verschickt denn heutzutage noch altmodische Eilbriefe und auch noch am Freitagnachmittag?“

Rosi war kurz versucht, den Brief einfach zu ignorieren, aber dazu war sie nicht fähig. Sie  hatte einfach zu  viel Fantasie die ihr vorgaukelte,  was alles passieren könnte, weil sie ihre Pflicht nicht erfüllt hatte. Also schnappte sie sich ihr Fahrrad und fuhr los. Der Hof lag ja mehr oder weniger auf ihrem Heimweg. Zuhause würde sie ein heißes Bad nehmen und abends Philipp, ihren neuen Kollegen, treffen.  Sie hatte  ihn sofort gemocht, als er vor ein paar Wochen als Vertretung für den erkrankten Robert plötzlich im Büro stand und breit grinste. Philipp war groß und witzig und nicht aus der Ruhe zu bringen. Und heute Abend hatte er sie ins Kino eingeladen. Rosi hatte sich extra eine neue Bluse gekauft, in  der Mittagspause, kurz bevor die einzige Boutique am Ort zumachte. Also radelte sie um 16.30 Uhr vier Kilometer die Hauptstraße hinunter, um dann auf einem unebenen Feldweg noch 500 Meter zurück zu legen. Sie fluchte ein paarmal, denn der Feldweg war, wie erwartet, voller Schlaglöcher und schlickiger Pfützen. Lehm und Dreck spritzten an ihr hoch. Aber wenigstens hatte der Regen jetzt aufgehört. Zum Glück war ihre Verabredung erst um 20.00 Uhr und Philipp würde sie abholen. Zeit genug, sich fertig zu machen.

25 Minuten später erreichte sie den Hof und wie immer bellte der hässliche, gelbe Hund sobald sie in Sicht war. Die neuen Besitzer hatten ihn sozusagen mit gekauft, denn Rosi kannte Zorn, so hieß das Biest, schon von früher. Hunde schienen einfach generell eine Abneigung gegen Briefträgerinnen zu haben und was konnte man schon erwarten von einem Hund, der Zorn hieß. Aber er war wenigstens angekettet. Die junge Frau war ja sonst ganz nett. Sie hatte zwei Kinder. Einen Mann hatte Rosi noch nie gesehen. Sie wohnten erst seit Januar hier und der Junge soll krank sein, erzählte man sich. Das alte Bauernhaus kam ihr heute unter dem grauen, bewölkten Himmel vernachlässigt vor. Was die Frau machte, wusste niemand, aber sie schien viel zu Hause zu sein. Der Junge dürfte ungefähr sechs  Jahre alt sein, aber zur Schule ging er nicht. Rosi hatte ihn nur einmal gesehen, vor drei Wochen, da hatte sie einen Einschreibebrief für die Frau, ansonsten kam so gut wie nie Post für die Familie. Damals saß der Junge eingepackt  in der Märzensonne und grüßte schüchtern. Seine Schwester war ein wenig älter und ging zur Schule, aber Rosi hatte sie noch nie gesehen. Sie  wusste aber, dass sie mit dem Bus fuhr, der direkt am Eingang zum Feldweg hielt.

Rosi stieg vom Fahrrad und ging die zwei Meter zur Haustür. Niemand reagierte auf ihr Klingeln. Das Auto, ein weißer Golf, mindestens 10 Jahre alt, stand vor der offenen Garage. Rosi klingelte erneut und hörte dann, wie jemand mit schnellen, leichten Schritten zur Tür kam, die sich kurz darauf öffnete. Vor ihr stand ein Mädchen, ungefähr zehn Jahre alt, mager, blond, groß mit Brille mit einem klugen, hübschen  Gesicht.

„Guten Abend, ich habe hier einen Eilbrief per Einschreiben für Lisa Strömer. Ich bräuchte eine Unterschrift. Bis Du ihre Tochter und ist Deine Mutter zuhause? “

„Ja und Nein!“

„Aber das Auto steht doch da.“

„Sie ist mit dem Fahrrad weggefahren.“

„Warum fährt sie bei diesem Sauwetter mit dem Fahrrad weg?“

„Das ist doch ihre Sache!“

„Entschuldigung, da hast Du natürlich recht.  Aber ich brauche eine Unterschrift, sonst kann ich den Brief nicht hierlassen.  Sie muss ihn sonst nächste Woche auf dem Postamt abholen und da es ein Eilbrief ist, ist es vielleicht wichtig. Wann kommt sie zurück oder vielleicht ist sie ja doch zuhause. Schau doch mal nach?“

„Sie ist weg und ich weiß nicht, wann sie zurückkommt, aber spät. Ich kann doch unterschreiben. Ich bin ihre Tochter.“

„Du bist ein Kind und das geht leider nicht, aber wenn Du mir eine Uhrzeit nennst oder mich anrufst, dann komme ich nochmals vorbei, ausnahmsweise, weil es ja ein Eilbrief ist.“

„Ich weiß es nicht, dann muss er halt bis Montag  warten. Von wem ist der Brief denn?“

„Das darf ich erst sagen, wenn ich die Unterschrift habe. Aber gut, weißt Du was, ich fahre jetzt und komme in zwei Stunden nochmals vorbei. Dann wird sie ja sicher zurück sein, sie muss Euch ja auch etwas zum Essen kochen. Ist denn alles in Ordnung?“

„Ja!“

Rosi ging wieder zu ihrem Fahrrad und war beunruhigt. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Wieso fährt die Mutter bei diesem Wetter mit dem Fahrrad weg, wo sie doch ein Auto hat. Das Mädchen wirkte auch nervös und den Jungen hatte sie gar nicht gesehen.

„Sie wird ja wohl den Jungen nicht auf dem Gepäckträger transportieren. Also muss er im Hause sein, aber Kinder sind doch neugierig, warum ist er nicht auch zur Tür gekommen.“

Wieder auf der Landstraße entlang strampelnd gingen Rosi noch alle möglichen Theorien durch den Kopf. Es war bereits 17.45 Uhr als sie endlich zu Hause war. Sie nahm ihre neue Bluse und den Eilbrief und ging ins Haus. In der Badewanne musste sie immer wieder an das Mädchen denken und konnte sich gar nicht richtig auf den Abend mit Philipp freuen. `

„Wo zum Teufel waren Mutter und Bruder?“

Rosi stieg aus dem Wasser, trocknete ihre Haare, zog die neue Bluse und eine dunkle Hose an und schminkte sich ein wenig. Sie würde Philipp anrufen und ihn bitten, mit ihr gemeinsam zu dem Haus zu fahren, um diesen unseligen Brief loszuwerden. Vielleicht würde sich dann ja alles in Wohlgefallen auflösen.

Philipp war sofort dazu bereit und schlug vor, sie schon kurz nach 19.00 Uhr abzuholen.

Als die beiden um 19.25 Uhr aus dem Auto stiegen, stand der Golf immer noch an derselben Stelle, mittlerweile war es schon ziemlich dunkel geworden. Im Haus brannte kein Licht. Nur der Hund bellte wie immer. Rosi erwähnte kurz den Hund und erzählte von dem  älteren Ehepaar, das nun in einem Altenheim lebte. Die junge Frau mit den zwei Kindern hatte das Haus kurz darauf bezogen. Sie lebte aber sehr zurückgezogen. Nur das Mädchen ging zur Schule. Das wusste Rosi von der Tochter ihrer Schwester, die in dieselbe Klasse ging.

„Seltsam, alles dunkel. Nun scheint überhaupt niemand mehr zuhause zu sein.“

Rosi klingelte und war nun sehr froh, dass Philipp bei ihr war. Irgendwie war das alles mehr als unheimlich.

„Das kann doch nicht sein. Vorhin war dieses Kind hier und meinte, die Mutter wäre weggefahren, obwohl das Auto vor der Tür stand. Den  kleinen Jungen habe ich gar nicht gesehen. Hier stimmt etwas nicht, Philipp, wir müssen reingehen.“ Während Rosi das sagte drückte sie die Türklinke, die auch sofort nachgab. Die Haustüre war nicht abgeschlossen.

„Aber wir können doch nicht einfach in ein fremdes Haus gehen, Rosi, das ist Hausfriedensbruch und kann uns unseren Job kosten.“

„Ja, stimmt, aber vielleicht ist etwas passiert und das könnte die Familie hier das Leben kosten.“

„Ok, Rosi, aber dann lass mich wenigstens vorgehen. Ich bin stärker, wenn gleich der Entführer um die Ecke schießen wird.“

„Entführer, genau, der Junge ist entführt worden. Die Mutter war gerade weg, um das Lösegeld zu übergeben. Komm, vielleicht finden wir Hinweise im Haus.“

Die Haustüre knarrte ganz leise und sie gingen auf Zehenspitzen und ohne Lärm zu machen hinein.

Rosi kannte das Haus. Die ehemaligen Besitzer hatten sie ab und zu eingeladen mit ihnen einen Likör zu trinken. Sie gingen auf der rechten Seite in die große, altmodische Küche. Auf dem Tisch stand noch das Frühstücksgeschirr. Vier benutzte Tassen, zwei mit Kaffeeresten und in den anderen klebte noch ein wenig von der heißen Schokolade. Ein halbes Brot stand auf dem Tisch, eine Butterdose und Erdbeermarmelade. Alle vier Teller waren benutzt.

„Sie scheinen hier noch gefrühstückt zu haben und sind dann wohl weggegangen. Aber das Mädchen war gegen 17.00 Uhr noch hier und hat die Tür aufgemacht. Was machen wir denn jetzt?“

„Jetzt wo wir schon mal hier sind,  schauen wir auch in die anderen Zimmer. Komm!“

Sie betraten das Esszimmer gegenüber der Küche. Leer und feuchtkalt. Dahinter lag das Wohnzimmer mit einem Kamin. Von dort ging es in den Garten, in dem ein paar Obstbäume standen, zum Teil schon in Blüte. Hinter der Küche lagen ein großes Badezimmer und eine Rumpelkammer, ebenfalls leer. 

„Gehen wir in den ersten Stock“ schlug nun Philipp vor und  grinste.

„Unheimlich, oder?“

Sie gingen langsam die Steintreppe nach oben  und Rosi nahm Philipps Hand. Sie zitterte und wäre froh gewesen, das Haus nicht betreten zu haben. Philipp schien das alles nichts auszumachen, nein, es schien ihn sogar zu amüsieren. Aber auch in den drei Mansarden-Schlafzimmern oben war niemand,  die Betten gemacht. Nirgends ein Lebenszeichen von der Mutter oder den Kindern oder den Entführern. Philipp öffnete sogar die Schranktüren.

„Vier Zahnbürsten. Seltsam, ich habe hier noch nie einen Mann gesehen, Philipp. Immer nur die Frau, aber auch nur dreimal, einmal den Sohn und das Mädchen heute zum ersten Mal. Sie geht zur Schule, das weiß ich von meiner Schwester. Sollen wir die Polizei rufen?“

„Wieso, es ist nichts passiert hier. Die Leute sind vielleicht einfach nur spazieren.“

„Aber die Haustüre war auf!“

„Die haben ja Zorn.“

„Komm, wir gehen, ich lasse einen Zettel hier und biete an, ihr den Brief morgen auszuhändigen, wenn sie vormittags ins Postamt kommt. Ich habe zwar morgen frei, aber würde das tun, damit sie ihren blöden Eilbrief bekommt und ich beruhigt in Urlaub gehen kann.“

„Wo kommt der Brief eigentlich her?“

„Ich weiß es gar nicht. Ich versuche ja immer, so wenig wie möglich zu wissen. Du weißt ja eh, wir kommen viel rum, alle wollen immer Neuigkeiten hören und ich will nicht in Versuchung kommen zu tratschen. Und meine Fantasie geht oft mit mir durch.“

„Du bist wirklich eine ideale Briefträgerin, Rosi!“

Dann hörten sie Lärm auf der Treppe und drei lachende Personen standen  kurz darauf vor ihnenn.

„April, April“ meinte Philipp. Lisa hier, ist meine Schwester und sie und die Kinder  haben mitgespielt. Die vierte Tasse war meine!“

„Wie jetzt, wo ist denn dann die versteckte Kamera?“