Von Raina Bodyk

23.12.1914

Liebe Eltern, liebes Luischen,

wie gern wäre ich jetzt bei euch zuhause und wir schmückten zusammen den Tannenbaum. Hatte man uns nicht versprochen, Weihnachten wieder siegreich daheim zu sein? Wie dumm oder naiv waren wir vor einem halben Jahr jubelnd und lachend in den Krieg gezogen! Jetzt hocken wir hier in eiskalten und feuchten Gräben. Läuse, Ratten und Gestank sind unsere ständigen Begleiter. Wir haben alle Illusionen verloren, sind unendlich erschöpft. 


Karl schreibt nicht davon, wie viele seiner Kameraden bis Dezember bereits durch Krankheiten, Eiseskälte und endloses Ausharren in den schlammigen Schützengräben elendiglich gestorben sind. Nichts von dem verheerenden Abschlachten durch schwere Artillerie und tagelangem Dauerfeuer. Schweigt von der ständigen Todesangst, den unerträglichen Schreien der Verwundeten.

Wir sind dennoch fest entschlossen, hier auch ein wenig zu feiern, wenn uns der Feind in Ruhe lässt. Gestern kam euer schweres Paket mit all den wunderbaren Dingen an, die ich so dringend gebrauchen kann. Vor allem Muttis selbstgestrickte Socken und der dicke Schal brachten mich vor Rührung zum Heulen.
Ihr werdet es nicht glauben, die Oberste Heeresleitung schickte uns kleine Tannenbäume. Eigentlich sehen sie mit den wenigen Zweigen ziemlich bemitleidenswert aus. Aber dennoch, sie geben uns ein bisschen das Gefühl von Heimat. Manch harter Kerl hatte Tränen in den Augen.

Die Tommies harren in ihren Schützengräben genauso aus wie wir. Ab und an ein paar Schüsse, aber sonst nichts heute. Wir liegen uns so nahe gegenüber, gerade mal 50 bis 70 m, dass wir sogar wechselseitig unsere Stimmen hören können.

24.12.

So, mein Wachdienst ist vorbei und weiter geht’s:

Heute ist etwas absolut Unglaubliches passiert! Wir wollten wenigstens etwas weihnachtliche Stimmung fühlen und begannen, Weihnachtslieder zu singen. Es wurde ganz still in den Gräben der Tommies. Dann haben sie geklatscht! Einige riefen sogar rüber: „Weitermachen!“ Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen. Dann begannen sie drüben zu singen. „Silent Night, Holy Night“ vermischte sich mit „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu einem gewaltigen Chor. Uns wurde ganz feierlich ums Herz.

Stellt euch vor, unser Gegner, Deutschlands ärgster Feind, singt mit uns zusammen. Es war unvorstellbar schön. So friedlich! So ruhig! Sie, ebenso wie wir, haben wohl alle an die Familien daheim gedacht.
Durch die eisige Nacht ertönten „Merry Christmas“-Rufe, die wir natürlich erwiderten.

Zur gleichen Zeit kommt in der Heimat ein Lied auf, das sich als Hassgesang rasend schnell verbreitet. Sein Dichter Ernst Lissauer bekommt vom Kaiser einen Orden für dieses Machwerk. Alle Zeitungen drucken es ab. Man singt es in den Schulen, in den Familien, in den Kasernen.

„Vernehmt das Wort, sagt nach das Wort
es wälze sich durch ganz Deutschland fort:
Wir wollen nicht lassen von unserm Hass,
Wir haben alle nur einen Hass.
Wir lieben vereint, wir hassen vereint
Wir haben alle nur einen Feind:
England“. (1)


Dann ein Ruf: „No shooting tonight!“ Ich weiß nicht einmal, kam es von den Tommies oder einem von uns. Ganz langsam und vorsichtig schauten wir über den Grabenrand. Jederzeit konnte ein Schuss fallen, es konnte eine teuflische Falle sein. Einer von uns wagte schließlich alles. Er kletterte aus dem Graben und winkte mit einem weißen Stück Papier, wohl aus seinem Geschenkpaket. Ich glaube, wir alle hielten einen Moment den Atem an.

Nichts!

Stille!

Nun krochen ein paar besonders Kühne vorsichtig aus den Schützengräben und stellten ihre kleinen Weihnachtsbäume mitten im Niemandsland auf, jederzeit darauf gefasst, eine Kugel abzubekommen. Weiterhin ist kein Laut zu hören. 

Auch wenn wir uns fragten, ob wir unvernünftig, um nicht zu sagen lebensmüde Dummköpfe waren, so ein Wagnis einzugehen, kletterten wir mit allem rechnend nach oben. Wenn auch nur ein einziger nicht mitgespielt und geschossen hätte, es wäre ein Blutbad geworden. Aber alles blieb ruhig.

Ich glaube, ihr Lieben, ich werde bis an mein Lebensende nicht verstehen, wie dieses unglaubliche Weihnachtswunder, anders kann man es nicht bezeichnen,  möglich war! Vergessen werde ich es nie.

Dann spähten erst nur vereinzelte, dann immer mehr englische Köpfe zu uns rüber. Sie kamen, genauso misstrauisch wie wir, zögernd aus ihren Löchern gekrochen. Langsam, aber sie kamen. Ebenfalls unbewaffnet. Sie hatten anscheinend alles, was sie an Lampen und Kerzen besaßen, mitgebracht und stellten es zu den Bäumchen. Die Front wurde zu einer langen Kette von Lichtern. Den Englischen war so feierlich zumute, dass sie „God Save the King“ anstimmten. Viele von uns konnten etwas Englisch und sangen mit – die Nationalhymne des alten Erzfeindes! Hier und jetzt gab es keine Feinde, nur Menschen! Wir alle wollten so sehr ein bisschen Frieden. 

Wir zögerten nicht mehr argwöhnisch, wir fielen uns einfach in die Arme, schüttelten Hände und wünschten ein frohes Fest.

Alle waren erleichtert und wir wurden richtig übermütig. Es gab ein großes Hin- und Her-Gelaufe. Jeder schleppte an Schätzen heran, was er hatte. Die Engländer hatten von ihrem König je ein Paket erhalten. Neben einem Bild seiner Tochter Princess Mary enthielt es lauter herrliche Köstlichkeiten: Schokolade, Gebäck, Plumpudding, Zigaretten und Tabak. Sie wollten mit uns teilen. Selbstverständlich ließen wir uns auch nicht lumpen. Bier, Wurst, Dresdner Stollen und all die anderen Leckereien, die uns Ehefrauen, Mütter und Geschwister geschickt hatten. 

Vor allem mit Bill und Arthur aus Leeds habe ich mich fast die ganze Nacht unterhalten. Und das lag nicht daran, dass ihr Whisky so lecker war! Mein Englisch ist zwar holprig, aber es reichte. Ich habe ihnen Bilder von euch gezeigt. Mutti und Luise, euch fanden sie besonders hübsch! Sie holten dann Fotos ihrer Frauen Nancy und Maggie und ihrer Kinder hervor. Wir haben sogar Adressen ausgetauscht. Wenn hoffentlich bald die dreckige Scheiße hier vorbei ist, könnten wir sie mal besuchen, oder sie uns. Wäre das nicht toll? 

Die Tommies sind auch nur arme Schweine, die Befehlen folgen müssen und viel lieber zuhause wären. Sie leiden genauso wie wir unter den unmenschlichen Verhältnissen hier. Eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen und uns. Und trotzdem kämpfen wir hier auf verschiedenen Seiten. Ist das nicht absurd? 

Auch viele Offiziere haben sich zu uns gesellt. Das fand ich sehr mutig, denn sie wussten genau, wie schwer die Oberste Heeresleitung jegliche Fraternisierung bestraft.

25.12.

Für heute haben wir mit den Englischen verabredet, die zwischen Stacheldraht und Granattrichtern liegenden Toten zu holen und zu bestatten. Es waren so viele! Wir vereinbarten auch einen gemeinsamen Gottesdienst, halb englisch, halb deutsch. Wir standen auf der einen Seite zusammen, die Tommies auf der anderen. Es war schrecklich und traurig, aber irgendwie auch tröstlich, denn die Gefallenen waren nun anständig und christlich begraben. 

Danach haben wir uns gegenseitig die Haare und Bärte geschnitten. Wir haben viel gelacht – besonders über die Ergebnisse. Schön ist was anderes!
Wir haben wieder endlos geredet, über unser Leben daheim, unsere Wünsche und Sehnsüchte. 


Dann kam der absolute Höhepunkt. Stellt euch vor, nachmittags kam ein Schotte mit einem richtigen Fußball aus Leder aus seiner Unterkunft! Ein Weihnachtsgeschenk seiner Geschwister. Blitzschnell wurden zwei Tore mit Pickelhauben oder Mützen markiert und dann ging das Kicken los. Der Boden war viel zu hart gefroren, als dass wir ein richtiges Spiel hätten organisieren können. Vor allem wir Jüngeren spielten übermütig wie Kinder, schrien vor Freude, lachten uns halb tot, wenn wir beim hartnäckigen Kampf um den Ball immer wieder im Dreck landeten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie wir aussahen! Besonders ich als Torwart. Wir brauchten keinen Schiedsrichter, haben keine Tore gezählt. Wir hatten einfach Spaß, den schweren, schlammverschmierten Stiefeln zum Trotz. Weil wir so viele waren, holten Kameraden beider Seiten Konservendosen oder aus Tuch und Stroh gebastelte Bälle und bolzten damit. 


26.12.

Heute haben wir uns wieder getroffen und unsere Freundschaften vertieft. Einige Tommies hatten ihre Faltkameras mit an die Front geschmuggelt, obwohl das streng verboten war. Wie sich herausstellte, hatte auch mancher meiner Kameraden dasselbe getan. Wir fotografierten uns gegenseitig, wobei sich mancher wegen seines versauten Haarschnitts ein bisschen zierte. Da gab es viel zu lästern und zu grinsen. Ich schicke euch einen Film mit der Feldpost. Ich hoffe, dass er bei euch ankommen wird. Die können ja schließlich nicht jedes Päckchen kontrollieren. Ihr sollt sehen, dass es uns über die Weihnachtstage trotz allen Elends richtig gut ging.

Wir haben mit den „Feinden“ verabredet, dass wir nicht mehr auf sie schießen werden. Wir sind Kameraden und werden es bleiben. Wir sind uns alle einig, nur noch über die Köpfe hinweg zu feuern. Ihr seht, ihr braucht euch keine Sorgen machen.

Bei angekündigten Inspektionen von oben wollen wir uns gegenseitig benachrichtigen und „doing a little shooting“ Richtung Himmel, wie Bill es nannte.

 

Bleibt gesund, ich hab euch lieb.

Euer Heinrich.

***

Dieser kleine Frieden hält an Teilen der Front einige Tage, an anderen sogar einige Wochen. Mancher hochrangige Offizier versucht, die Ereignisse totzuschweigen oder wenigstens herunterzuspielen, nichts zu dokumentieren.
Die Generalität und andere Offiziere vor Ort fürchten nicht zu Unrecht, dass die Soldaten beider Seiten sich weigern könnten zu kämpfen und drohen mit drastischen Disziplinarmaßnahmen. 

Nach und nach fallen wieder Schüsse und die Schreie der Verwundeten gellen gen Himmel. Die Soldaten müssen ihren Befehlshabern wieder gehorchen, ihre Gegner töten.

Ob der Schreiber dieses Briefes überlebt hat, ist unbekannt.

Zu Ruhm und Ehre des Vaterlands starben etwa zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten.

 

  1. https://www.volksliederarchiv.de/hintergrund/hassgesang-england/

 

9995 Z, V2