Von Volker Liebelt
„Guten Morgen, Herr Brown. Wie fühlen Sie sich heute?“, erkundigte sich Lucy, die junge Krankenschwester, beim Betreten des Zimmers. Draußen schien die Sonne und tauchte den Raum in ein warmes, goldenes Licht. Es wirkte fast so, als sende sie Arthur Brown einen letzten, freundlichen Gruß von einer Welt, die er bald verlassen würde. Lucy nahm den Duft frischer Rosen auf dem Nachttisch wahr, begleitet vom leisen Piepen der Maschinen, die Arthur Browns Herzschlag überwachten. Die Luft im Zimmer war ein bisschen feucht und roch ganz leicht nach Desinfektionsmittel.
„Haben Sie kurz Zeit, sich zu mir zu setzen?“, fragte Arthur. Seine Stimme klang schwach, aber klar und bestimmt.
Lucy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sein Bett. „Natürlich, Herr Brown. Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“
„Nein, danke, kein Getränk. Es tut einfach gut, jemanden zum Reden zu haben.“ Er lehnte sich zurück und schaute nachdenklich aus dem Fenster, wo Wolken am Himmel vorbeizogen.
Als Arthur aus dem Fenster blickte, schien es Lucy, dass die Wolken wie die Zeit selbst dahintrieben; unaufhaltsam und ungreifbar. Sie folgte seinem Blick und bemerkte, wie er für einen Moment in Erinnerungen versank.
Es war ganz still im Zimmer. Lucy betrachtete ein Foto auf dem Tisch. Darauf war Arthur als junger Mann zu sehen. Er hatte einen Rucksack und einen Hut auf und lächelte vor einem Bergpanorama in die Kamera. „Sind Sie das, auf dem Foto?“, fragte sie.
Arthur sah kurz zum Foto und nickte schwach. „Ja, das war ich. Vor vielen Jahren. Auch wenn sich die Zeit ändert, bleibt die Neugier“, sagte er.
„Wissen Sie, Lucy“, begann er etwas nachdenklich, „als ich noch jung war, da erschienen die Sommerabende wie unendliche Geheimnisse …“ Lucys Blick wirkte verträumt, und sie spürte, wie sie durch seine Worte eine Verbindung zu dieser längst vergangenen Welt aufbaute. „Das muss eine wunderbare Zeit gewesen sein. Erzählen Sie mir von Ihrem größten Abenteuer.“
Arthurs Gedanken führten ihn zurück in seine Kindertage, und er erzählte von den sorgenfreien Momenten. „Ich erinnere mich an einen Abend, als mein Freund Charles und ich zu einer Wiese am Dorfrand gingen. Die Wiese war voller bunter Blumen, die im Mondlicht schimmerten, und überall funkelten Glühwürmchen wie kleine Lichter in der Nacht. Es roch nach frischem Gras und Erde, und im Hintergrund hörten wir Grillen zirpen und den Wind rauschen.“
Während Arthur sprach, konnte Lucy sich die Szene lebhaft vorstellen. Es war, als ob sie selbst dort wäre, umgeben von der Magie dieser Sommernacht.
„Charles fing vorsichtig ein Glühwürmchen in seinem Einmachglas und sagte stolz: ‚Jetzt gehört es mir!‘ Er stellte das Glas hin, sah mich an und erklärte:
‚So fängt man Glühwürmchen, Arthur. Du musst schnell und leise sein, sonst fliegen sie weg.‘ Ich musste lachen.
‚Das ist leicht gesagt, Charles. Du hast ja auch das größere Glas. Gib es mir, und ich zeige dir, wie man Glühwürmchen richtig fängt.‘ Aber Charles schüttelte den Kopf.
‚Nein, Arthur. Das ist mein Glas, und das sind meine Glühwürmchen. Du musst mit dem klarkommen, was du hast.‘ Er rannte los, und ich hinter ihm her. Wir jagten uns über die Wiese, spielten und lachten.
In jener Nacht entfachte das einfache Fangen von Glühwürmchen ein Gefühl des Abenteuers in uns. Diese Erinnerung leuchtet immer noch in meinem Herzen, genau wie das sanfte Leuchten der Glühwürmchen in unseren Gläsern.“
Nach Arthurs Geschichte blickte Lucy ihn nachdenklich an. „Ihre Geschichte war so lebendig, ich fühlte mich, als wäre ich dabei gewesen. Sie erinnert mich an die Zeiten, als ich mit meiner Schwester im Garten spielte. Wir hatten so viel Spaß und waren glücklich. Jetzt wohnt sie weit weg, und wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Solche Momente sind wirklich kostbar.“
Arthur schwelgte einen Moment in seinen Gedanken, dann wandte er sich wieder Lucy zu. „Wissen Sie, Lucy“, begann er sanft, „als ich die Liebe meines Lebens traf, war das ein ganz anderes Erlebnis als meine Kindheitsabenteuer. Es war nicht das Leuchten der Glühwürmchen, das mich zu ihr führte, sondern ein besonderer Moment auf einem Sommerfest in unserem Dorf.“
Lucy spürte, wie die Atmosphäre des Zimmers sich wandelte, als ob sie nun Teil dieser sommerlichen Szenerie wäre. Sie bildete sich ein, die Musik des Festes hören.
„Überall war fröhliches Lachen, die Musik spielte, und die bunten Lichter der Buden tauchten die Nacht in ein schillerndes Farbenspiel. Der betörende Duft von Zuckerwatte und Popcorn machte alles noch zauberhafter.“
In Lucys Geist entfaltete sich das Bild des Festes, lebhaft und farbenfroh. Sie stellte sich vor, neben Arthur durch die Menschenmenge zu bummeln.
„Während ich mit meinen Freunden Charles und Emily gemächlich über das Festgelände schlenderte, beobachteten wir das Riesenrad. In einer der Gondel saß eine junge Frau allein. Sie hielt einen kleinen Teddybären fest in ihren Armen, als suchte sie Trost bei ihm. Plötzlich, als die Gondel am höchsten Punkt angelangt war und leicht schwankte, rutschte ihr der Teddybär aus den Händen und fiel in die Tiefe.
Ich hob ihn auf, wartete, bis die Gondel den Boden erreichte und gab ihr den Bären zurück. ‚Hier, Sie haben ihn verloren. Ich dachte, er verdient eine sichere Rückkehr.‘
Die Frau stellte sich als Eleanor vor und nahm schmunzelnd den Bären entgegen. ‚Vielen Dank!‘, sagte sie. ‚Ich habe ihn erst vorhin bei der Losbude gewonnen.‘
Charles und Emily, die das Geschehen aus einiger Entfernung beobachtet hatten, nickten mir zu und zogen sich diskret zurück. Ich war dankbar für ihr feinfühliges Verhalten. Eleanor und ich kamen ins Gespräch und verbrachten den Rest des Abends zusammen auf dem Fest. Ihre fröhliche Art und ihr ansteckendes Lachen gefielen mir sofort. Wir erzählten uns Geschichten und hatten viel Spaß.“
Ein Lächeln umspielte Lucys Lippen, während sie Arthurs lebendiger Schilderung lauschte.
„Als das Fest zu Ende ging, wollte ich mich nicht von Eleanor verabschieden. Ich fasste meinen ganzen Mut und fragte:
‚Eleanor, ich würde dich gerne wiedersehen.‘ Sie lächelte und sagte:
‚Das würde ich auch gerne, Arthur.‘“
In diesem Moment bemerkte Lucy eine tiefe Sehnsucht in Arthurs Augen, die zeigte, dass er diese längst vergangenen Tage vermisste.
„Am nächsten Abend trafen wir uns in einem Park, der im sanften Licht der untergehenden Sonne lag. Es roch nach Blumen und frischem Gras, und eine leichte Brise wehte. Mein Herz klopfte im Takt von Eleanors Lachen und ihren Worten, und ich merkte, wie ich anfing, Gefühle für sie zu entwickeln. Jahre später erinnerte ich mich oft an dieses Sommerfest, bei dem ich Eleanor, die Liebe meines Lebens, getroffen hatte. Ich wusste, es war Schicksal, dass unsere Wege sich kreuzten.“
Als Arthur von seiner ersten Begegnung mit Eleanor erzählte, klang seine Stimme voller warmer Erinnerungen. Er schloss seine Augen und stellte sich ihr strahlendes Gesicht vor. „Das hört sich an wie Liebe auf den ersten Blick“, sagte Lucy.
Arthur nickte bedächtig. „Wissen Sie, Lucy, Glück war für mich nie nur ein einzelnes Ereignis; es glich eher einem Mosaik, zusammengesetzt aus zahlreichen kleinen Momenten. Jedes Erlebnis, jede Erfahrung, jeder besondere Moment in meinem Leben war wie ein Stück davon. Freude und Traurigkeit, Glück und Schmerz; all das hat das Bild meines Lebens geformt.“
Arthurs Worte hallten im Raum nach, während er nachdenklich innehielt. In seinen Augen spiegelte sich die Weisheit all der Jahre wider, die er bereits hinter sich hatte.
Lucy erkannte sich selbst in seinen Worten. Sie fühlte sich, als würde sie durch ein Fenster in die Seele eines Menschen blicken, der das Leben in all seinen Facetten erfahren hatte. Die Stille des Zimmers schien diese Gedanken zu verstärken und gab ihnen Raum zum Atmen.
„Als ich älter wurde, mein Haar von Schwarz zu Silber wechselte, verstand ich, dass echtes Glück nicht in Sachen liegt, sondern in besonderen Momenten und Pausen“, fuhr Arthur fort. „Eines meiner Lieblingsrituale war es, den Tag auf der Veranda zu begrüßen und den Sonnenaufgang zu beobachten. Ich liebte die Stille des frühen Morgens, wenn der Himmel sich in ein Farbenspiel verwandelte und die Vögel zu singen begannen.“
Lucy konnte sich die Szene lebhaft vorstellen. Sie sah Arthur auf seiner Veranda sitzen, die aufgehende Sonne beobachtend, eingehüllt in eine friedliche Stille.
„Für mich bestand Glück immer aus flüchtigen Momenten; dem Duft frischen Brotes, einer liebevollen Umarmung, dem Geschmack eines guten Tees. Diese einfachen Dinge schätzte ich besonders, als es mir gesundheitlich schlechter ging.“
Arthurs Stimme wurde leiser, fast ein Flüstern, als er fertig erzählte. Er wandte sich Lucy zu und lächelte schwach. „Und Sie, Lucy? Welche kleinen Freuden machen Ihr Leben schön?“ Lucy nahm sanft seine Hand. „Sie sind eine davon, Arthur. Ihre Geschichten machen mich sehr glücklich. Ich bin froh, dass ich Sie kennenlernen durfte.“
Nach diesen Worten schlief Arthur ein. Seine Atmung wurde ruhiger und gleichmäßiger. Lucy erhob sich und blickte nachdenklich aus dem Fenster, wo die Sonne die Welt in ein warmes Licht tauchte. Sie dachte über Arthurs Worte nach und was sie für ihr eigenes Leben bedeuteten.
Seine Geschichten hatten ihr gezeigt, dass es die kleinen Dinge sind, die das Glück ausmachen. Ein Lächeln, eine nette Geste, ein ruhiger Moment, in dem man die Schönheit des Lebens spürt. Sie erinnerte sich an die letzten Male, als sie solche Momente bewusst erlebt hatte: die Sonnenaufgänge am Morgen, das Lachen ihrer Patienten, die Gespräche mit Kollegen in den Pausen. All diese Momente, so kurz und flüchtig sie auch sein mochten, bildeten zusammen ihr eigenes Glücksmosaik.
Lucy wandte ihren Blick zu Arthur, der nun friedlich schlief, und flüsterte leise: „Danke, Arthur. Sie haben mir so viel mehr beigebracht, als Sie ahnen.“ Dann verließ sie leise das Zimmer, entschlossen, die kleinen Freuden des Lebens mehr zu schätzen.
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