Von Monika Heil

 

Ein halbes Jahr! In einer der faszinierendsten Ecken der Welt! Sechs Monate Australien, gleich nach dem Abitur. Gut, das Geld ist knapp. Aber ich bin jung, ich bin sportlich, ich bin reisefreudig. Und ich bin meinen Eltern unendlich dankbar für ihre finanzielle Starthilfe. Immer wieder wird mir bewusst, was für ein Glückspilz ich bin.

Zuerst flog ich nach Sydney, eine der schönsten Städte der Welt. Die pulsierende Altstadt nahm mich sofort gefangen. Eine offizielle Führung war hier unbedingt wichtig. Allein hätte ich all die faszinierenden Details gar nicht erfasst – die schillernde King Cross, die chice Double Bay, die bautechnisch interessante Oper, das gewaltige Parlamentsgebäude.

Von dort aus ging es auf eigene Faust weiter in das Outback Australiens. Dies steht für endlose Weite, Menschenleere und Abgeschiedenheit. Reiseführer empfehlen, für dieses Vorhaben ein zuverlässiges Fahrzeug zu besitzen. Am besten mit Allradantrieb. Ich bewies bisher, dass es auch ohne geht. Per Anhalter, zu Fuß, einmal sogar mit deutschen Touristen im Reisebus. Das aber klappte nur, weil nicht alle Sitzplätze belegt waren und Tina, die hübsche junge Reiseleiterin, mich nett fand. Ich durfte sogar zwei Nächte in ihrem jeweiligen Hotelzimmer übernachten. Das erzähle ich aber keinem. Manche Nacht verbrachte ich im Schlafsack unter einem unbeschreiblichen Sternenhimmel. Unvergesslich!

 

Gestern lernte ich Joshua und Bill kennen. Sie gabelten mich auf, als die Mittagshitze eine Rast unter einem der wenigen Eukalyptusbäume erzwang. Sehr vertrauenerweckend wirkten sie nicht auf den ersten Blick. Aber Joshua konnte ein paar wenige Worte deutsch, englisch mit starkem Akzent und redete ansonsten mit Händen und Füßen. Bill, ein ca 14jähriger Aborigine, schien stumm zu sein. Die beiden unterhielten sich in einer mir natürlich unverständlichen Zeichensprache. Sie waren auf dem Weg zum Daintree Nationalpark und dorthin wollte ich auch. Auf meine vorsichtigen Fragen antwortete Joshua knapp und abgehackt: „German boss, wild animales“, verstand ich nur. Wer sein deutscher Boss war, verriet er nicht. Offensichtlich arbeitete er als Ranger oder Wildhüter. Woher die vielen Narben in dem Gesicht und auf den Armen stammten, wagte ich nicht zu fragen. Den Colt am Gürtel versuchte ich zu ignorieren.

Ihr Fahrzeug sah kurios aus. Ein Pick-Up mit „Wohnaufsatz“. Da das Fahrerhaus für drei Personen sehr eng war, verschwand der junge Einheimische wortlos in diese kleine „Hütte“, als ich zustieg. Bis es an der Rückwand klopfte und Joshua mir zu verstehen gab: „Bill möchte mit dir tauschen.“

Klar war ich einverstanden. Joshua hielt kurz an, der Junge öffnete die leichte Tür an der Rückfront und schlüpfte wortlos an mir vorbei.

„Kannst ruhig eine der Kojen benutzen“, hörte ich Joshua und schon ging die Fahrt weiter. Überrascht sah ich mich um. Zwei primitive, schmale Kojen, eine Kiste mit Geschirr und Lebensmitteln, die wohl gleichzeitig als Tisch fungierte und eine Minikochplatte stellten die komplette „Einrichtung“ dar.

Waren es die eintönigen Fahrgeräusche? War es die kräftezehrende Mittagshitze? Keine Ahnung. Als ich wieder erwachte, stand das Fahrzeug still. Vorsichtig öffnete ich die Tür und lugte hinaus. Der Pick-Up parkte vor einer kleinen Tankstelle. Rechter Hand stand eine unscheinbare Hütte. Eine ältere, offensichtlich einheimische Frau saß strickend auf einer schmalen Bank und behielt ein paar Kinder im Auge, die auf dem roten, rissigen Boden hockten. Bill kniete dazwischen und redete wie ein Wasserfall. War das zu begreifen? Joshua war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich befand er sich in dem kleinen Laden neben der Tankstelle. Als ich mich umschaute, entdeckte ich eine Art Minioase – drei Eukalyptusbäume, dazwischen schimmerte Wasser im gleißenden Licht. Da ich pinkeln musste, ging ich zu jenen Bäumen. Das winzige Wasserloch zog mich magisch an. Keine Tiere in Sicht. Vielleicht gab es dort Fische? Gerade als ich mit der Linken die Wasseroberfläche berührte, schrak ich vom Geräusch des Türenklappens und dem Aufheulen eines Motors auf. Gestikulierend versuchte ich, auf mich aufmerksam zumachen. Vergebens.

„Scheiße, scheiße, scheiße“, schrie ich in Richtung Staub aufwirbelndes Auto. Mein Rucksack! Meine Papiere! Mein Laptop! Mein Geld! Alles weg! Verzweifelt hämmerte ich gegen den Stamm des Baumes, was ein heftiger Schmerz abrupt beendete. Ich hab´s gewusst! Der Typ war mir gleich irgendwie suspekt. Warum habe ich mich  nicht … Müßig. Alles, was ich besessen hatte, raste mit den beiden Kerlen davon. Scheiße!

Langsam, als wäre ich plötzlich ein alter Mann, ging ich auf die Tankstelle zu. Der alte Aborigine saß im düsteren Innenraum und blätterte in einer Zeitschrift.

„No“ antwortete er stoisch auf jede meiner Fragen. Ich erfuhr nicht, wo ich war, wie weit es zum nächsten Ort war, ob der Alte ein Telefon habe. „No“. Als sich der offene Eingang verdunkelte, schaute ich mich um. Die alte Frau stand im Türrahmen und lächelte mich freundlich an.

„I am Grace. My son is the Sheriff. He comes to eat.“

„Wann?“

„Soon, twenty minutes.“ Sanft fasste sie mich am Arm und zog mich aus dem düsteren Raum. Ihren Mann beachtete sie nicht. Sie führte mich in die kleine Hütte, ließ mich auf einem der vielen Kissen Platz nehmen und stellte einen Becher Tee vor mich auf den Boden. Ich war Grace, die inzwischen an einem kleinen Herd hantierte und eifrig in diversen Töpfen rührte, so unendlich dankbar. Wenn ihr Sohn Polizist war, hatte ich eine Chance, Hilfe zu erlangen. Hoffte ich, hoffte ich so sehr.

Wie lang zwanzig Minuten sein können. Und wenn es dann schon dreißig sind, dann …

Endlich ein Motorengeräusch. Ich sprang wie hypnotisiert auf. Quietschende Bremsen. Türenschlagen. Eine laute, wütende Stimme: „Where is the fucking German?“

„Joshua!!!“ Ich brüllte seinen Namen in die Mittagshitze. Auch wenn ich befürchtete, dass er mir das Kreuz brechen könnte, ließ ich mich in seine Umarmung fallen wie ein Ertrinkender. Halb englisch, halb Landessprache, etwas deutsch radebrechte er drauflos. Übersetzt hieß das in etwa: Er sei schon eine Viertelstunde unterwegs gewesen, als Bill erneut die Plätze mit mir hätte tauschen wollen und erst da hatten sie mein Fehlen bemerkt. Er sei wütend, denn er habe es eilig, weil sein Boss einen wichtigen Auftrag für ihn habe. Wegen mir ginge ihm der jetzt vielleicht durch die Lappen. Er jagte mich mit lauten Flüchen zum Auto, ließ nicht zu, dass ich mich von den beiden Alten verabschiedete. Kaum saß ich neben ihm in der Fahrerkabine, als er auch schon mit quietschenden Reifen davonraste. Völlig entnervt hielt ich mich am Fenstergriff fest.

Irgendwann verringerte er das Tempo, schaute mit finsterer Miene zu mir herüber und raunzte: „Nun sag doch auch mal was.“

„Gott sei Dank.“ Mehr brachte ich nicht raus.

Joshua grinste, als habe ich ihn mit dieser Anrede gemeint.

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