Von Marianne Apfelstedt
Ein Glöckchen erklingt bei jedem Aufschwingen der Nussbaumtür, deren Seitenlichter aus Glas schimmern wie die Oberfläche eines Sees. Scheint die Sonne auf die Scheiben, erwachen die Wellen kräuselnd. Siofra blickt nach oben, die Wolken segeln schnell dahin, hüllen die Morgensonne ein wie eine Decke. Sie dreht das Schild auf „Geöffnet“, schließt die Tür und geht zurück in die Küche. Im Backofen karamellisiert der Apfelkuchen und das Aroma zieht durch das Café. Auf der Anrichte liegt eine Nuss, in dunklem Lila. Sie ist so groß wie eine Muskatnuss. Mit einer Reibe zerkleinert sie diese zu feinen Spänen. Über der Küche blitzt ein Sternenregen auf, als sie das Gewürz in eine Dose mit grünen Seesternen füllt, dann gibt sie einen Löffel gemahlene Tonkabohne, Vanille und Zimt dazu. Siofra befüllt den Kaffeeautomaten mit frischen Bohnen und rührt die Schokoladendrops um, die im Wasserbad schmelzen. Die fertigen Blaubeermuffins räumt sie in die Kuchentheke, als das Glöckchen an der Türe leise bimmelt. Gemächlich schiebt sich eine Frau mit weißem Haar, aufgetürmt wie Sahne auf einem Eisbecher, in das Café.
„Guten Tag Frau Schmitt.“ Siofra wartet geduldig, bis sich die Kundin auf ihren Stock gebeugt die Auslagen besehen hat und ihr entgegenblickt. „Wie geht es Ihrem Egon? Haben Ihm die Schokotörtchen gemundet?“
„Zurzeit geht es ihm ein wenig besser. Als er das Schokoladentörtchen gegessen hat, fingen seine Augen an zu strahlen. Den ganzen Nachmittag hat ihn dieser freundliche Gesichtsausdruck begleitet. Wo er doch so unruhig ist und alles, was er zu fassen bekommt, zerreißt. Einmal sogar die Tischdecke. Seine Krankheit hat ihn so verändert. Ich habe ihm auch mein Törtchen hingestellt, das er mit großem Appetit verspeist hat. Er sah so friedlich aus, hat den ganzen Tag nicht mehr gewütet und immer mal wieder gelächelt. Sie sind eine vorzügliche Bäckerin.“
„Das freut mich sehr. Heute gibt es Schokomuffins, die sind fast fertig. Darf ich Sie zu einer Tasse Kakao einladen, dann können Sie die Muffins anschließend mit nach Hause nehmen, wo Egon doch so gerne Schokolade mag.“ Verschwörerisch zwinkert Siofra Frau Schmitt zu.
„Ich habe Zeit, meine Liebe, und trinke gerne eine Tasse. Mein Neffe ist mit Egon zum Arzt gefahren.“
Siofra gießt den Kakao aus der Thermoskanne in eine Porzellantasse, obenauf kommt ein Löffel der frisch geschlagenen Sahne. Sie holt die Dose mit den grünen Seesternen oben vom Regal. Beim Öffnen entströmt ein Duft nach Vanille und Zimt und Tonkabohne. Sie streut das Gewürz auf die Sahne, ganz sacht schweben Sternchen über der Tasse. An den Tellerrand legt sie noch einen Keks.
Frau Schmitt hat sich auf das Sofa direkt am Fenster gesetzt, mit freiem Blick auf den Marktplatz und den Brunnen.
„Bitte schön.“ Siofra stellt den Kakao auf den kleinen runden Tisch und eilt zurück in die Küche, um die Muffins mit der inzwischen geschmolzenen Schokolade zu glasieren. Doch zuerst holt sie den Apfelkuchen aus dem Backofen und stellt ihn zum Auskühlen auf ein Gitter.
Frau Schmitt gibt auf den Keks ein Quäntchen Sahne und schiebt sich die Kreation zwischen die Lippen. Süße Sahne vermischt sich mit dem knusprigen Keks und die Seniorin schließt genießerisch die Augen. Verschiedenste Aromen umschmeicheln ihren Gaumen. Die restliche Sahne verrührt sie in den Kakao und genießt Schluck für Schluck.
Draußen grollt Donner und mit den ersten Regentropfen werden weitere Gäste ins Café gespült. Ein älterer Herr mit weißem Bart und verkniffenem Gesicht, ein Mädchen mit Zahnlücke und eine junge Frau mit den gleichen blauen Augen wie das Kind. Die Frau sieht sich suchend um und wählt einen runden Tisch neben dem Garderobenständer für ihre Familie.
„Jetzt schau dir meine Brille an. Lauter Regentropfen sind darauf“, grummelt der mürrische Herr.
„Vielleicht habe ich ein Tuch in der Handtasche.“
„Du hast versprochen, ich muss nicht stillsitzen, weil die Tische draußen stehen“, quengelt die Kleine.
„Wenn der Regen aufhört, frage ich, ob wir uns raus setzen können. Schau mal in der Kuchentheke, ob du etwas probieren magst.“ Da drückt die Kleine die regenfeuchte Jacke der Mutter in den Arm und hüpft abwechselnd auf einem Bein zur Theke.
„Guten Tag. Sie bringen ja stürmisches Wetter mit. Hier habe ich ein Tuch für Ihre Brille“, begrüßt Siofra die neuen Gäste. „Ich bin gleich für Sie da und nehme Ihre Bestellung auf.“
„Vielen Dank“, erwidert die junge Frau erleichtert, während der Senior damit beschäftigt ist, seine Brille zu reinigen.
Frau Schmitt steht an der Theke und unterhält sich mit dem Mädchen.
„Wie heißt du denn?“
„Lena. Und du?“
„Hannelore Schmitt. Du musst einen Kakao trinken, der schmeckt so lecker schokoladig.“
„Oh, ja, und Kuchen bekomme ich auch, hat meine Mama gesagt. Nachher gehen wir auf den Friedhof zu Oma. Darf ich aber dem Opa nicht verraten. Ist eine Überraschung.“ Lena sieht sich suchend um. „Wo ist denn hier das Klo?“
„Schau da drüben.“ Lena hüpft nach rechts davon und bleibt vor zwei Türen stehen, eine ohne Griff, dafür mit einem Schild.
„Suchst du die Toilette?“ Siofra nimmt das Mädchen bei der Hand.
„Hier bist du richtig. Die Tür mit dem Schild ist nur für das Personal.“, erklärt sie dem Kind.
„Frau Schmitt, wie viele Schokoladenmuffins darf ich Ihnen einpacken?“
„Ich nehme vier Stück.“ Siofra packt die Muffins in einen Karton und legt sie in die Einkaufstasche.
„Ich setze mich noch ein wenig, bis der Regen nachgelassen hat.“
„Nehmen Sie ruhig nochmals Platz.“
„Hast du schon etwas gefunden, dass du probieren möchtest?“, fragt sie Lena.
„Ich möchte einen Kakao.“
„Sehr gerne, ich bringe dir gleich eine Tasse.“
„Mama, ich habe Kakao bestellt.“
„Prima. Magst du Kuchen dazu?“
„Schokomuffins!“ Lena sitzt auf dem Stuhl, im Sitzen hüpfen ihre Beine auf und ab, immer wieder tap, tap.
„Ich glaube nicht, dass es hier einen Kaffee Haag gibt. Lena, jetzt zappel doch nicht so herum!“ Das Mädchen schafft es nicht, stillzusitzen.
„Lena, hier kommt dein Kakao. Lass ihn dir schmecken.“ Sie stellt eine Tasse mit bunten Blumen auf den Tisch. Lena hält die Nase über die Tasse und schnuppert.
„Riecht lecker.“ Sie nimmt den Löffel und probiert die Sahne. „Die Sahne schmeckt aber gut.“ Lena löffelt Sahne mit Kakao und entdeckt erst jetzt den Keks neben der Tasse, der gleich in ihren Mund wandert.
„Das freut mich. Was darf ich Ihnen bringen?“
„Ich möchte eine Tasse Kaffee, aber nur Kaffee Haag.“
„Den Kaffee Haag bringe ich Ihnen gleich. Wir haben heute Apfelstreuselkuchen, Schoko- und Blaubeermuffins und Nussecken. Darf ich Ihnen etwas zu Ihrem Kaffee servieren?“
„Ist der Apfelkuchen auch frisch?“
„Er ist sogar noch lauwarm.“ Siofra lächelt den mürrischen Herrn freundlich an, der nur seine Augenbrauen hebt, was seiner Stirn nur mehr Falten beschert und murmelt: „Na gut.“
„Ihnen kann ich eine Chai-Latte empfehlen.“
„Chai-Latte ist prima. Für meine Tochter bitte einen Schokoladenmuffin und für mich eine Nussecke.“
„Kommt sofort!“
„Der Kuchen wird mir bestimmt nicht schmecken. Heutzutage bäckt doch keiner mehr selber, alles kommt aus Tüten. Meine Emmi konnte Kuchen backen, weißt du noch, Rita?“
„Mutters Kuchen schmeckten wunderbar. Die Kuchen sollen hier sehr gut sein. Eine Arbeitskollegin kommt oft hier her, wegen dem Gebäck.“ Rita versucht ein Lächeln, das misslingt, als sie in die traurige Miene ihres Vaters blickt.
„Wieso schleppst du mich ausgerechnet heute hier her? Hast du Ihren Jahrestag vergessen?“
„So, Kaffee Haag mit Apfelkuchen. Bitte schön!“ Siofra stellt alles auf das Tischchen und geht zurück zur Kuchentheke, vor der weitere Kunden warten.
Lena nimmt ihren Muffin in die Hand und beißt herzhaft hinein. Ihre Füße kommen zur Ruhe wie Wellen nach dem Sturm. Drückendes Schweigen schwebt über dem dem Tisch. Wortlos sticht er seinen Apfelkuchen an, tunkt die Gabel in den Sahnetupfer neben dem Kuchen und führt die Gabel zum Mund. Da bemerkt er den Zimtduft. Auf der Zunge spürt er die Gewürze, die knusprigen Streusel und die saftigen Apfelstückchen. Das Glitzern auf der Sahne entgeht ihm. Seine Augenbrauen rutschen tiefer und bei jedem Stückchen Kuchen entspannt sich sein Gesicht ein wenig mehr.
Rita trinkt einen Schluck und die Gewürze umschmeicheln ihren Gaumen. Schluck um Schluck wird sie ruhiger. Zögerlich schaut sie auf.
„Ich habe für Mama einen Strauß Maiglöckchen bestellt, die holen wir ab, bevor wir auf den Friedhof fahren.“
„Ihre Lieblingsblumen. Du hast daran gedacht.“ Eine einzelne Träne rinnt ihm aus dem Augenwinkel. „Ich vermisse sie so sehr. Immer noch.“ Rita legt ihre Hand auf seine, die die Kuchengabel fest umklammert.
„Ich auch.“ Sie sehen sich in die Augen und erkennen den Schmerz des Anderen. Er schluckt schwer. „Danke. Ich glaube, dieser Kuchen ist genauso gut wie Emmis Apfelkuchen.“
Einige Tage später.
Der Vollmond leuchtet durch die Fensterscheiben des kleinen Cafés, als die Jalousien herunterrauschen. Siofra hängt die gestärkte Schürze an den Haken, legt die Brille und die Haarspange auf den Tresen und entkleidet sich im Schein der Lichtstrahlen, die durch die Ritzen der Rollos hereinrieseln. Sie schüttelt das lange Haar, das ihr in Wellen über Brust und Rücken fließt. Mit einem silbernen Stern in den Händen steht sie neben der Tür ohne Griff. Sie murmelt Worte in der alten Sprache und fährt mit dem Stern am Türrahmen entlang. Dann steckt sie den Stern anstelle eines Griffes an die Tür und öffnet sie. Das Holz schwingt sacht nach innen und ein Weg aus Kies wird sichtbar. Ihre nackten Füße laufen über die Steine, direkt auf ein Seeufer. Als ihre Zehen das Wasser berühren, wallt silberner Rauch um ihre Beine auf und diese wachsen zu einem Fischschwanz zusammen. Ihre weiße Haut schimmert in hellem Blau. Sie taucht ein in den See vor ihr und genießt das seidige Gefühl, wie ein Fisch durchs Wasser zu gleiten. Inmitten des Sees wachsen Büsche auf dem Seegrund. Diese sind mit weißen Blüten und lila Früchten behangen. Die Früchte sehen aus wie lila Muskatnüsse.
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