Von Björn D. Neumann
„Öffnet! Im Namen der Königin!“ Der Waffenknecht hämmerte mit einer Faust gegen das Eingangstor des Herrenhauses.
Sir Francis Walsingham saß auf seinem Pferd und wartete. Hinter bleiverglasten Fensterscheiben flackerte eine Kerze und ein Bediensteter im Hemd öffnete.
„Was ist euer Begehr zu dieser nachtschlafenden Zeit, Gentlemen?“, fragte der Diener und wurde ohne Antwort zu erhalten von den bewaffneten Männern zur Seite geschoben. Zwei Uniformierte mit Hellebarden postierten sich direkt am Eingang. Erst jetzt stieg der in die Jahre gekommene Hofbeamte vom Pferd und streckte sich. Er spürte sein Alter und der Ritt von London hierher war eine Tortur. Gebeugt betrat er die Eingangshalle des Anwesens, wo schon ein aufgebrachter Francis Throckmorton, auch nur im Nachtgewand gekleidet, die Treppe hinunterstürmte.
„Was zum Teufel geht hier vor sich?“ Für einen kurzen Augenblick weiteten sich seine Augen, als er den Vertrauten der Königin erkannte. „Walsingham! Was hat das zu bedeuten?“
Der graubärtige Berater Elisabeths legte die Hände ineinander. „Reine Routine, mein lieber Sir Francis.“
„Zu nachtschlafender Zeit?“, erboste sich dieser. „Wenn Ihr eine Frage auf dem Herzen habt, hätte die auch bis morgen warten können.“
„Die Sicherheit der Königin erfordert keinen Aufschub. So leid mir das auch tut.“
„Sicherheit der Königin? Wieso gefährde ich die Sicherheit der Königin?“
Beschwichtigend hob Walsingham die Hände. „Wie gesagt, es ist reine Routine. Ich bin überzeugt, dass Ihr oder auch Euer Bruder nichts zu verbergen habt“, fuhr er mit sanfter Stimme fort, die so gar nicht zu dem freudlosen Blick passte, der raubtierartig seine Beute fixierte.
„Thomas? Wieso bringt ihr jetzt auch noch Thomas ins Spiel? Habt Ihr unserer Familie nicht genug angetan? Hat es nicht gereicht, dass Ihr unseren Vater aller Ämter enthoben habt? Der Kummer darüber hat ihn ins Grab getrieben!“ Throckmorton zitterte vor Wut.
„Ich bin überzeugt, dass Eure Familie der Königin treu ergeben ist. Auch wenn …“ Walsingham machte eine kurze Pause. „Auch wenn es Anzeichen für papistische Tendenzen gibt.“
„Die Königin muss sich nicht sorgen.“
„Die Königin hat keine Sorgen, denn es ist meine Aufgabe, diese von ihr fernzuhalten.“
„Und wir sind Anglikaner, wie Ihr sehr wohl wisst.“
„Natürlich seid Ihr das. Alles andere wäre ja auch Hochverrat. Nicht wahr?“
„Wenn Ihr meint, dass Glaubensfragen verräterisch sind, meinetwegen.“
„Ihr dürft glauben, was Ihr wollt. Was Ihr nicht dürft, ist, die Legitimation der Königin in Frage zu stellen. Ihren Anspruch als Regentin Englands und Oberhaupt der englischen Kirche.“ Erstmals erhob der Beamte seine Stimme. Fasste sich aber sogleich und fuhr fort: „Aber ich bin, wie gesagt, überzeugt, dass Ihr über jeden Zweifel erhaben seid.“ Mit diesen Worten schnippte er mit den Fingern, worauf Bewegung in die Waffenknechte kam, die anfingen, Schränke und Vitrinen zu öffnen, deren Inhalt zu inspizieren und dann achtlos zu Boden zu werfen. Keramik und Gläser zerbrachen. Seiten von Büchern wurden herausgerissen und wirbelten durch die Luft. Ein erstickter Schrei kam von der Galerie, auf der inzwischen seine Frau Anne und sein Sohn John, durch den Lärm aus dem Schlaf gerissen, standen.
Über Stunden wurde jeder Stein im Herrenhaus umgedreht. Bücher zerfleddert, Korrespondenz studiert und Möbel umgestoßen. Alles vor Augen der Familie Throckmorton und ihrer verängstigten Dienerschaft. Und zum Ärger Walsinghams bisher ergebnislos. Dieser hatte inzwischen in einem gemütlichen Lehnsessel Platz genommen und las einen Brief, den er mit einem Seufzer achtlos zu Boden gleiten ließ. Er stand auf und ging mit langsamen Schritten auf die Familie zu, die sich in eine Ecke gedrängt hatte.
„Throckmorton, ich muss sagen, Ihr überrascht mich. Ich habe Euch Unrecht getan. Keine Hinweise auf eine Verschwörung. Kein Hinweis auf praktizierten Katholizismus. Ich muss Euch loben und mich entschuldigen.“ Er ging weiter zu Lady Anne, verbeugte sich und deutete einen Handkuss an. „Ich bedauere sehr die Unannehmlichkeiten, die ich Euch bereitet habe.“ Dann wandte er sich John zu, der sich hinter der Mutter versteckt hielt. „Und du, mein kleiner Johnny, musst ja fürchterliche Angst gehabt haben. Stimmts?“ Der Junge nickte und verbarg seine Tränen in den Rockfalten seiner Mutter. „Aber wer die Wahrheit sagt, muss nichts befürchten. Du würdest mir doch die Wahrheit sagen, John?“
„Walsingham!“ Francis baute sich voller Zorn vor dem Spion der Königin auf.
„Schweigt, Sir Francis!“ Walsingham richtete sich zu voller Größe auf und zwei Bewaffnete machten einen Schritt auf die Gruppe zu. „Ich unterhalte mich gerade mit Eurem Sohn.“ Und mit freundlicher Stimme fuhr er fort: „Du bist bestimmt ein gottesfürchtiger Christenmensch, Johnny. Und du weißt, dass Lügen eine Sünde sind?“
„Ja, Sir“, antwortete John kaum hörbar.
„Hast du jemals das ‚Vater unser‘ in einer Sprache gehört, die du nicht verstehst?“ John schüttelte, den Blick starr auf seine Fußspitzen gerichtet, mit dem Kopf. „Gut, gut“, antwortete Walsingham. „Dann hat auch noch nie ein Priester in einer anderen Sprache aus der Bibel vorgelesen?“ Wieder Kopfschütteln. „Sehr gut, mein Junge! Dominus vobiscum!“
„Et cum spiritum tuo!“, antwortete Johnny umgehend und biss sich direkt auf die Unterlippe.
Walsingham hob wissend eine Augenbraue, während Johnnys Eltern erbleichten. „Sieh an, sieh an.“ Er tätschelte Johnnys Kopf. „Du musst keine Angst haben, mein Junge. Wo und von wem hast du das gelernt?“ John schwieg, aber einem Mann wie Francis Walsingham blieb nicht verborgen, wie der Blick des Jungen für einen Wimpernschlag unsicher in eine Ecke des Raumes ging. Er inspizierte das inzwischen leere Bücherregal, das dort stand, fand aber keinen weiteren Hinweis. Dann wandte er sich wieder an den Vater. „Wie lange wollen wir noch dieses unwürdige Schauspiel veranstalten? Seid vernünftig, Mann. Ich garantiere, dass Eurer Frau und Eurem Sohn nichts geschieht.“
„Ich habe nichts mehr zu sagen“, erwiderte Throckmorton.
Walsingham ließ sich wieder in den Sessel fallen. Der Versprecher des Jungen war kein eindeutiger Beweis. Er konnte nur hoffen, dass die zeitgleichen Untersuchungen bei Throckmortons Bruder zum Ziel führten. Seine Gedanken rotierten. Seit Elisabeth vom Papst exkommuniziert wurde, war die Bedrohungslage greifbar und katholische Eiferer potenzielle Attentäter. Sein Geschäft war schmutzig, aber der Schutz seiner Königin hatte höchste Priorität. Auch und gerade, wenn es auf Kosten dieser papistischen Brut ging. Zu grauenhaft waren seine Erinnerungen an Queen Mary. An ‚Bloody Mary‘, die Protestanten gnadenlos verfolgte. Elisabeths Spitzname ‚Good Queen Bess‘ zeigte doch schon die Gnade und Güte ihrer Regierung. Das mussten doch auch diese papsttreuen Schäfchen einsehen. Während er in seinen Gedanken den Blick durch die Halle schweifen ließ, fiel sein Auge erneut auf die Ecke mit dem Regal. Er sprang auf, vermaß die Regalbreite mit seinen Schritten. Gleiches tat er im Nebenraum bis zur Wand. Er ging zum Regal, rüttelte daran, klopfte gegen die Rückwand. „Wie öffnet man die Geheimtür“, schrie er dem sichtlich schockierten Verdächtigen entgegen. Schweigen. „Eine Axt, schnell!“ Ein Soldat brachte ihm das gewünschte Werkzeug. Walsingham riss ihm die Axt aus der Hand und holte aus. Zwei, drei Schläge und ein Hohlraum wurde sichtbar. „Los, Männer! Legt den Eingang frei.“
Wenige Minuten später war das Regal zertrümmert und der Zugang zu einer winzigen Kammer geöffnet. Walsingham betrat den schmalen Raum. Ein kleiner Altar, ein Weihwasserbehälter und kleine Heiligenstatuetten standen dort. Ebenso lag dort eine dünne Strohmatte auf dem Boden. Er erkannte sofort, dass es sich um ein sogenanntes Priesterloch handelte. Ein Versteck für illegal vom Festland eingereiste Jesuitenpriester, die extra für diese Missionen ausgebildet wurden und heimlich in katholischen Familien die heilige Messe feierten. Allein das war Hochverrat. Dann fiel ihm eine kleine silberne Schatulle ins Auge. Sie enthielt Briefe von Maria Stuart, vom Duc de Guise aus Frankreich und nicht zuletzt vom spanischen Botschafter und dem Papst selbst. Der Inhalt verschlug Walsingham die Sprache. Geplant wurde ein Attentat auf Queen Elisabeth, gleichzeitig eine Invasion angeführt durch de Guise und die Befreiung und Inthronisierung von Maria Stuart.
„Elender Verräter!“, spie er Throckmorton die Worte ins Gesicht. „Legt ihn in Ketten!“, wies er seine Männer an, die dem Befehl eiligst folgten.
„Verräter?“, Francis lachte auf. „Ist man Verräter, weil man die Religion nicht so oft wie das Unterkleid wechselt? Wer wäre unter Queen Mary der Verräter gewesen? Denkt drüber nach.“
Und auf dem Rückweg nach London dachte er viel über Throckmortons Worte nach. Lag er richtig? Seine Königin sah es pragmatischer. Sie könne keine Fenster in die Seelen ihrer Untertanen öffnen und tolerierte den Katholizismus bis zu einem gewissen Punkt. Ihr war Fanatismus ein Dorn im Auge. Der blinde Fanatismus ihrer Halbschwester Mary. Und sei er von Katholiken, oder auch von den protestantischen Puritanern, war das die Gefahr für das Königreich. Er konnte das nicht so unkompliziert sehen. Seine Loyalität galt einzig seiner Königin. Er hatte eine Aufgabe. Er rief es sich noch einmal ins Gedächtnis, dass der Schutz Queen Elisabeths seine Bestimmung war. Fanatiker waren die anderen. Er schob alle Zweifel beiseite. Nach dieser Maxime würde er handeln. Selbst wenn er dafür zur Hölle fahren sollte.
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