Von Helmut Blepp
Das Gästezimmer ist hergerichtet, wie immer, wenn Onkel Wilhelm seinen Besuch angekündigt hat. Mutter hat gelüftet und Staub gewischt. Das Bett ist frisch bezogen, und flauschige Handtücher sind herausgelegt. Alles muss seine Ordnung haben, denn der alte Wilhelm ist der Erbonkel, reicher Besitzer eines Juwelierladens. „Steinreich“, wie er immer sagt und dröhnend seinen eigenen Witz belacht. Die Eltern lachen dann mit, wie es sich gehört, doch der kleine Robert ist da meist längst abgeflogen.
Er hat den ganzen Morgen auf dem alten Läufer in der Speisekammer gesessen, vertieft in die Ornamente seiner Muster, die ihm wie Wege und Zimmer erscheinen. Wege, die fortführen und Zimmer, die verbergen können. Das ist es, was Robert sieht. Aber er verrät es niemandem, weil niemand ihm folgen soll, auch nicht der Onkel. Vor allem nicht der Onkel, den er mit dem Vater an der Seite am Bahnhof begrüßt hat mit schüchtern dargebotener Hand. Wilhelm hat sie wie stets beiseite gewischt und den Jungen unter den Armen gepackt, um ihn hochzuheben und sein Gesicht mit nach Zigaretten riechenden Küssen zu bedecken. „Schon wieder gewachsen, der kleine Racker!“ Robert hat den Vater angeschaut, als wüsste der etwas zu entgegnen, aber der weiß nichts, ist nur frisch rasiert, ganz lieber Neffe und devot.
Zur Heimfahrt wird Robert auf des Onkels Schoß gezogen, obwohl die ganze Rückbank frei und fahren ohne Gurt verboten ist. Er hat stillgehalten, um vergessen zu werden, während die Männer redeten und scherzten, und Wilhelm ihm das nackte Knie getätschelt hat. Dabei ging es um Autos, und dass Vater ein neues braucht. „Keine Bange, da schieße ich was zu“, meinte der Onkel gönnerhaft. Der Vater hat sich artig bedankt und immer geradeaus geschaut.
Zuhause hält Mutter die Wange für einen beiläufigen Begrüßungskuss des Onkels hin und bekommt dafür Schokolade. Robert bekommt nichts.
„Erst mal sehen, ob der Bengel zum Besuch auch lieb ist“, schäkert Wilhelm augenzwinkernd, aber seine Augen sind ganz ernst auf den Jungen gerichtet. „Nur weil ich einen Narren an dem Zwerg gefressen habe, sollt ihr meine Erben sein. Das ganze gierige Gesocks … ja, ich meine deine Brüder“, sagt er mit einem Blick auf den Vater, „sollen in die Röhre gucken. Nur bei euch finde ich die Liebe und Wärme, die ein alter Mann so nötig hat.“ Und mit einem Blick auf Mutter vergewissert er sich: „Ich hoffe, es gibt Apfelstrudel?“
Den gibt es, noch warm aus dem Ofen, und steif geschlagene Sahne dazu. Onkel Wilhelm erklärt beim Kaffee die Weltpolitik, wobei ihm immer wieder Kuchenstücke aus dem Mund fallen, weil er sich so ereifert. Robert isst nur Sahne und verlässt beim Nahostkonflikt den Tisch.
Der Zugang zur Speisekammer ist ihm verboten, weil Mutter ihn schon einige Male erwischt hat, als er sich Kekse oder Bonbons stibitzen wollte. Aber wenn der Onkel da ist, schleicht Robert sich dennoch in den kleinen Raum. Das Licht dort ist Neon. Er sitzt dann auf dem abgenutzten Läufer und kann jede Faser der geknüpften Wolle erkennen, verfolgt die Farbübergänge, sieht die Abzweigungen, die Sackgassen und den geheimen Weg. Der Läufer ist sehr alt, von Oma noch. Ihr Schäferhund hat immer darauf gelegen, bis er an Hüfte starb. Die alte Köterdecke, nennt Vater ihn deshalb, aber Robert weiß alles über seine Geheimnisse. Hier hat er schon oft gesessen, wenn das Zimmer neben dem seinen belegt war. Von hier hat er sich dann nur widerwillig rufen lassen, um vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen.
Der Läufer ist ein geduldiger Lehrer. Und immer wieder ist es die gleiche Lektion. Blau ist der Himmel der Zuflucht. Gelb der Schmerz, den man meiden muss. Aber was kann so rot glühen wie die Liebe zu den armen Eltern? Und welches Schwarz zieht die Grenze zwischen Gut und Böse?
Robert studiert die Zeichen. Er macht die Augen zu und sieht trotzdem, wie sie sich ordnen. Dabei wird sein Kopf ganz leer. Langsam wie ein zäher Sirup, der von einer Tischkante tropft, verlieren sich seine Gedanken. Er kennt das, ist schon oft ganz zerfasert und zum Teppich geworden, denn Teppiche grübeln nicht. Teppiche haben keine Angst und liegen still, ausgelegt in Zimmern, zu denen nicht jeder Zugang hat, in blauen Zimmern, die in den Morgen tragen.
So hat er das oft erlebt, wie auch jetzt. Jede Franse des Teppichs vibriert. Robert zittert mit. Ein blaues Grollen ertönt in seinem Kopf. Er klammert sich an den gekettelten Rand. Dann hebt er ab. Die Zimmerdecke ist keine Grenze. Er schwebt in den Farben, die das Gelb absorbieren. Nichts ficht ihn an. Er ist hoch oben und schaut.
Die Eltern schlafen längst, denn sie trinken stets von dem Weinbrand, auf den der Onkel besteht. Drei Gläschen tun gut, und dann noch eines für Wunschträume von Strudelküssen und rasanten Limousinen mit Ledersitzen.
Schon bald wird der Onkel lautlos in den Flur treten, nackt unter dem Schlafrock und wohlriechend wie für eine Geliebte. Er wird Roberts frisch geölte Zimmertür öffnen, das Restlicht vom Flurfenster eindringen lassen und dem Schein verstohlen folgen. In Roberts Bett wird er einen Jungen vorfinden, die Zähne geputzt, die Hände über der Brust gefaltet.
Robert wird diesem Jungen nicht helfen können, denn er wird seine Augen geschlossen halten. Er ist jetzt ein Teppichpilot, den nichts am Boden hält und nichts auf Matratzen. Erst die Morgensonne, die das Idyll einer traumseligen Familie vorfindet, wird ihn zur Landung zwingen. Dann wird er am Frühstückstisch sitzen, den Blondschopf gescheitelt, und mit einem gekochten Ei Zwiesprache halten. Die beiden werden sich gut verstehen und nicht zuhören, wenn der Onkel aus der Zeitung vorliest von den Abgründen fremder Leute, über die sich die Eltern so betroffen zeigen.