Von Daniel Magar

Benni wachte so plötzlich auf, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Er blinzelte einige Sekunden verwirrt in die Dunkelheit hinein, bis ihm wieder einfiel, wo er war. Er atmete tief durch und knipste die kleine Lampe auf seinem Nachtschrank an. Eine der beiden Birnen war kaputt, und das Licht der verbliebenen reichte kaum bis in die Ecken des Zimmers, in dem er noch die nächsten drei Nächte verbringen musste. Er hielt die alte Armbanduhr seines Vaters, die er nun seit über einem Jahr am Handgelenk trug, ins Licht und stellte fest, dass es zwei Uhr nachts war. Er seufzte. Es waren also sogar noch dreieinhalb Nächte, die es zu überstehen galt.

Er wusste nicht genau, was der Auslöser gewesen war, aber seit er zwei Tage zuvor gemeinsam mit seiner Mutter die Fähre in Dover verlassen hatte, hatte er ein schlechtes Gefühl. Da hatte es auch nicht gerade geholfen, dass sie dieses Ferienhäuschen bezogen hatten, das völlig abgelegen etwa eine Stunde von der Küste entfernt lag. Nicht mal ein Telefon hatten sie hier.

Ohne das Licht zu löschen, ließ er sich zurück ins Kissen sinken und schloss die Augen. Er wusste, dass er mit seinen zehn Jahren langsam zu alt für solche Dinge war, aber er fühlte sich einfach besser, wenn das Licht brannte. Insbesondere, da die hölzernen Decken und Wände um ihn herum ständig aus unerfindlichen Gründen ächzten und stöhnten. Er versuchte sich zu erinnern, aus welchem Grund er so plötzlich hochgeschreckt war, als er eine weibliche Stimme von draußen hörte. Sie klang aufgeregt und … bekannt.

Er sprang aus dem Bett und flitzte zum Dachfenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Er zog sich den einzigen Stuhl heran, sprang drauf, riss das Fenster auf und starrte in die vom Mondlicht nur schwach erleuchtete Nacht.

Er sah den Umriss seiner Mutter, der sich im Laufschritt vom Haus zu entfernen schien. Benni runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, was er sah, als er den weißhaarigen Mann erblickte, der seiner Mutter mit einigen Metern Abstand humpelnd hinterherlief. Obwohl er ihn erst einmal zuvor gesehen hatte, erkannte er auch ihn sofort. Er hatte ihnen am Tag ihrer Ankunft den Schlüssel zum Ferienhäuschen in die Hand gedrückt und sich als Murray vorgestellt. Benni hatte das Gefühl gehabt, dass Murrays immerzu lächelndes Gesicht irgendetwas verbarg, aber seine Mutter schien nichts dergleichen bemerkt zu haben, denn sie war während der knapp zehnminütigen, auf Englisch geführten und für Benni daher vollkommen unverständlichen Unterhaltung fast durchgehend am Lachen gewesen.

Jetzt rief Murray ihr irgendetwas hinterher. Sie warf einen Blick über die Schulter, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Bennis Irritation ob der Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, war mit einem Mal verflogen. An ihre Stelle trat das gleiche Gefühl, das er auch in den Augen seiner Mutter auszumachen glaubte: Panik.

Seine Mutter steuerte auf den angrenzenden Wald zu, und kurz darauf waren sowohl sie als auch ihr Verfolger in dessen Schatten verschwunden.

Bennis Gedanken rasten. Sein Magen zog sich zum einem kleinen, schmerzhaften Knoten zusammen, als ihm klar wurde, dass Murray der Einzige in ganz England war, der wusste, dass Benni und seine Mutter hier waren. Plötzlich sah er Murray wieder vor sich, wie er während der Schlüsselübergabe seine Mutter aufs Genauste studiert hatte mit diesen kalten, blauen Augen, die so viel jünger zu sein schienen, als der Rest seines Gesichts. Er hatte sie auf eine Art gemustert, die Benni auf unangenehme Weise an seine Katze Toni erinnert hatte, wenn diese einen auf der Erde gelandeten Vogel ins Visier nahm …

Der schwache Schrei seiner Mutter riss Benni aus den Gedanken und ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Er war aus dem Inneren des Waldes gekommen. Murray musste sie eingeholt haben, wie auch immer ihm das gelungen war. Hatte er das Humpeln nur vorgetäuscht?

Benni versuchte verzweifelt, gegen die lähmende Angst, die sich in seinem Körper ausbreitete, anzukämpfen und den Kopf frei zu bekommen. Was konnte er tun? Wenn er seine Mutter auch noch verlor, dann war er ganz alleine, und noch dazu in einem fremden Land, wo ihn niemand verstand. Bestenfalls würde er in irgendeinem Waisenhaus enden … Er musste ihr helfen. Irgendwie.

Doch der bloße Gedanken daran, alleine in den Wald zu gehen, ließ seine Beine derart unkontrolliert zittern, dass er das Gleichgewicht verlor und vom Stuhl fiel. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Ellbogen, als er unsanft auf dem Boden landete, und ein dumpfer Knall drang wie ein Echo seines eigenen Sturzes aus dem unter ihm befindlichen Wohnzimmer herauf. Er schlug sich die Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der sich gleichzeitig mit der Erkenntnis in seiner Kehle geformt hatte.

Er war nicht allein im Haus. Murray hatte offenbar einen Komplizen.

Natürlich hat er einen Komplizen, dachte Benni, er weiß ja, dass ich auch hier bin, und er kann ja schlecht riskieren, dass ich zur Polizei laufe. Sein Freund Timo hatte ihm von Männern erzählt, die eine Vorliebe für Kinder hatten. Er wusste daher nur zu gut, was so ein Kerl mit ihm anstellen würde, wenn er ihn in die Finger bekäme. Er musste hier raus. Und er musste seiner Mutter helfen. Aber wie sollte er an dem anderen Einbrecher vorbeikommen?

Dann fiel ihm der Balkon ein, der sich durch das Schlafzimmer seiner Mutter erreichen ließ, und über den er auf den großen Baum in ihrem Garten klettern konnte. Er war ein guter Kletterer, und er war sich sicher, dass er auf diese Weise halbwegs unbeschadet aus dem Haus kommen könnte.

Mit Hilfe des Stuhls richtete er sich wieder auf. Er trug nur seinen dünnen Schlafanzug, aber der musste reichen. Benni zog die Schublade seines Nachtschranks auf, entnahm das Taschenmesser – ein weiterer Gegenstand, der einmal seinem Vater gehört hatte – und huschte so leise es ging in den kurzen Flur hinaus, der die drei Zimmer der oberen Etage miteinander verband. Aus einem seiner Gänsehaut-Bücher wusste er, dass Holzböden an den Rändern am wenigsten knarzten, und drückte sich daher langsam an der Wand entlang. Halb erwartete er, dass am Treppenabsatz eine dunkle Gestalt auftauchte, doch der Kerl schien nicht auf die Idee gekommen zu sein, hier oben nach ihm zu suchen. Benni erreichte das zweite Schlafzimmer und lugte vorsichtig durch die offene Tür hinein, bevor er den Raum mit schnellen Schritten durchquerte und nach draußen trat. Er hastete geduckt über den Balkon und streckte den Kopf langsam über das Geländer, falls der andere Einbrecher ihm dort unten auflauerte. Doch das dunkle Gras unter ihm war menschenleer. Offenbar war er noch im Inneren des Hauses.

Benni griff nach einem solide aussehenden Ast und zog sich hoch. Die Blätter des Baumes raschelten, während er sich von Ast zu Ast hangelte. Die Vertrautheit des Kletterns wirkte beruhigend, und trotz der Dunkelheit gelang es ihm, sich deutlich sanfter als bei seinem Abflug vom Stuhl auf den Boden sinken zu lassen. Er spürte das nasse Gras unter seinen nackten Füßen, als er die Klinge des Taschenmessers ausklappte und geduckt in Richtung des Waldes lief. Mit jedem Schritt, den er seinem Ziel näherkam, wuchs die Angst. Als er die erste Baumreihe hinter sich gelassen hatte, presste er sich gegen einen Stamm. Wenigstens war er dem zweiten Kerl fürs Erste entkommen. Er musterte den vor sich liegenden Wald. Das Mondlicht kam nur an wenigen Stellen durch die dichten Baumkronen, und er hatte Mühe, Einzelheiten zu erkennen. Gerade hatte er in dem ungefähr zwei Meter breiten und in einer der wenigen Lichtungen gelegenen Schatten einen alten Brunnen ausgemacht, als er ein helles Blinken auf dem Boden davor sah.

Das Grauen, das ihn überkam, als er begriff, von welchem Gegenstand dieses Blinken ausging, war schlimmer, als alles, was er in seinem bisherigen Leben gespürt hatte.

Es war das Handy seiner Mutter.

Die Gewissheit traf ihn wie ein Tritt in die Magengrube. Murray hatte seine Mutter ermordet und in den Brunnen geworfen. Er musste sich sicher gewesen sein, dass niemand so schnell unter den Holzbrettern, die den Brunnen abdeckten, nachsehen würde. Bennis Gedanken waren ein einziges Rauschen, während er die knapp dreißig Meter bis zum Brunnen zurücklegte. Er umfasste die Holzabdeckung. Sie war schwerer als sie aussah und mit Moos überzogen. Er schob sie langsam zur Seite, bis sie schließlich mit einem dumpfen Geräusch auf den Waldboden fiel. Benni beugte sich über den Rand des Brunnens.

Auf der Wasseroberfläche schwamm ein Gesicht. In den aufgerissenen Augen seiner Mutter stand noch immer die nackte Panik. Benni begann zu schreien.

 

***

 

Sarah hätte ihn nicht alleine lassen dürfen. Sie wusste, was für eine blühende Fantasie Benni hatte. Aber es war ein Notfall gewesen, und sie hatte keine andere Wahl gehabt.

Eine Stunde zuvor hatte Murray plötzlich an ihre Terrassentür geklopft. Seine Frau wäre einfach umgekippt. Er habe schon einen Krankenwagen gerufen, aber der käme aus der nächsten Stadt, die einige Meilen entfernt sei. Sarah sei doch Ärztin, sie müsse bitte schnell mitkommen. Aus seinem Blick hatte die pure Verzweiflung gesprochen, und aus Erfahrung wusste Sarah, dass es in solchen Fällen oft auf Sekunden ankam. Sie war durch den Wald vorgelaufen und gerade noch rechtzeitig gekommen. Ein paar Minuten später, und …

Sie hörte den panischen Schrei aus dem Wald vor ihr. Sie warf die Decke ab, die sie über den Schultern getragen hatte, und rannte los.

 

Sarah fand Benni zusammengerollt neben dem Brunnen, ungefähr an der Stelle, an der sie selbst eben über eine Wurzel gestolpert und gestürzt war. Sein Körper bebte. Sie hob ihn vom Boden auf und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Als sie sich aufrichtete fiel ihr Blick auf den Brunnen, dessen Abdeckung entfernt worden war. Sie verlagerte Bennis Gewicht auf einen Arm und leuchtete hinab. Das Wasser stand höher, als sie vermutet hätte. Auf der Oberfläche reflektierte sich der Schein der Taschenlampe und ihr erschrockenes, müdes Gesicht.