Von Anni Spreemann

Marlene stolperte durch das schulterhohe Maisfeld. Wie ein Liebhaber strichen die Blätter über ihre nackten Arme und Beine. Steine, die zwischen dem staubigen Boden lagen, bohrten sich in ihre Fußsohlen. Die Sonne biss in ihren Nacken und verdampfte die letzten Wassertropfen. Marlene leckte sich über ihre Lippen. Sandpapier, dachte sie und fragte sich, ob dieses Feld ein Ende hatte. Orientierungslos und ohne Zeitgefühl lief sie die Ackerrinne entlang. Reuevoll erinnerte sich Marlene an den matschigen Bach, den sie aus Angst vor Keimen, verschmäht hatte. Direkt nach dem Abendbrot war es ihr gelungen, ihren Peinigern zu entkommen. Nichts, außer ihrer Nachtwäsche, hatte sie mitnehmen können. Jeder Schritt vergrößerte den Abstand zu ihrem Alptraum. Zwei Jahre hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet und auf einmal war sie dagewesen. Nun mussten die Zuchtmeister jemand anderes finden, den sie belächeln und bespucken konnten. Sie würde nicht mehr für ihre widerwärtigen Spielchen hinhalten und zur Strafe in ein dunkles Loch gesperrt werden. Ihre größte Angst war es gewesen, dort zu sterben. Allein.

Ein näherkommendes Brummen ließ Marlene in die Hocke gehen. Sie lauschte. Ein Auto. Somit war die Straße nicht weit! Gedankenverloren kratzte sie sich den Mückenstich am Bein auf. Nach dem Jucken folgte ein angenehmer Schmerz. Sie stand auf. Lief zum Geräusch. Kämpfte sich querfeldein durch die dicken Maisstangen, die sie wie Gitterstäbe daran hinderten, frei zu sein. Als sie den Asphalt erreichte, war das Auto verschwunden. Das Hitzeflimmern täuschte ihr Wasser vor. Salzperlen rannten über ihre Schläfen. Der aufgeheizte Boden verbrannte ihre Füße. Verwandelte die Hornhaut in Blasen. Marlene flüchtete zum Straßenrand. Ins Gras, wo die Zecken darauf warten, dem nächsten Opfern das Blut auszusaugen. Marlene zögerte. Sollte sie nach rechts oder links laufen? In welcher Richtung würde ihre Freiheit warten?

Ein Traktor tuckerte die Straße entlang und nahm ihr die Entscheidung ab. Was für eine Person würde darinsitzen? Marlene beschloss, dass es nichts gab, was ihre Situation der letzten zwei Jahre verschlimmern könnte. Statt sich zu verstecken, winkte sie den herannahenden Traktor zu. Sie sah an sich hinunter. Aufgeschürfte Knie, Kratzer, Dreck als käme sie aus einem Boot Camp. Sie roch auch danach. Schweiß vermischt mit der Angst, nicht ans Ziel zu kommen. Das Salz ließ ihren aufgekratzten Mückenstich brennen. Der tuckernde Motor näherte sich und verstummte. Die Fahrerkabine reflektierte das Sonnenlicht, sodass Marlenen nicht in den Fahrraum hineinsehen konnte. Sie strich sich das schulterlange Haar aus dem Gesicht und reckte ihr Kinn. Die Fahrerklappe öffnete sich und eine Frau streckte ihren Kopf heraus. Marlene schätzte sie auf Ende Sechzig.

„Mädel, was ist denn passiert?“, fragte sie besorgt. Ihr Blick wanderte zu ihren Füßen und wieder hinauf in ihr Gesicht. „Alles in Ordnung?“

Marlene hätte beinahe höflich mit ja geantwortet. Sie räusperte sich.

„Könnten Sie mich mitnehmen?“

„Klar. Steig ein“, antwortete sie mit einer winkenden Handbewegung, als würde sie eine alte Freundin abholen, und deutete auf die Einstiegshilfe des Traktors. Erleichtert plumpste Marlene auf den Beifahrersitz. Die Frau reichte ihr eine Wasserflasche, die sie dankbar annahm. Während sie gierig die lauwarme Flüssigkeit hinunterschluckte, startete der Motor.

„Verrätst du mir, was passiert ist?“, fragte sie und betrachtete dabei ihre verschmutzten Beine. Ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen kamen Marlene seltsam vertraut vor. Sie schwieg. Wie sollte man die Hölle auf Erden in Worte fassen?

„Du musst nicht reden. Ich bin Petra.“

„Lena“, presste Marlene hervor.

„Wir kriegen dich schon wieder hin. Wenn du willst, kannst du bei mir Duschen, jemanden anrufen. Klamotten habe ich auch genug.“

„Das wäre nett.“

Marlene schob ihre Hände unter die Beine und sah aus dem Fenster. Die Klimaanlage kühlte ihre Haut. Es war die richtige Entscheidung gewesen, den Traktor anzuhalten, dachte sie.

Sie betraten ein Bauernhaus. Die kleinen Fenster ließen wenig Licht hinein. Die davorstehenden Linden schirmten die Sonne ab. Drinnen war es angenehm kühl. Der graue Terrazzoboden linderte den Schmerz ihrer Blasen.

„Wohnen Sie allein hier?“, fragte Marlene und betrachtete die gelben Wände und verstaubten Möbel.

„Leider ja, mein Exmann hat ´ne Neue und mein Sohn ist durch einen Unfall gestorben. Das Gehöft ist eigentlich zu viel Arbeit für eine Person“, erklärte Petra und zuckte mit den Schultern.

„Haben sie keine anderen Verwandte, die Ihnen helfen könnten?“

Die Frau lachte. „Nein. Niemand will hier in der Pampa wohnen. Der nächste Nachbar ist 30 Minuten entfernt. Mir gefällt es.“

Marlene starrte sie an. Sie hasste die Einsamkeit. Früher war sie auf jeder Party gewesen. Je mehr Menschen um sie wahren, desto besser. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Beteten sie an.

„Die Dusche findest du hinter der zweiten Tür rechts“, unterbrach Petra ihre Gedanken. „Ich lege dir etwas zum Anziehen vor die Tür.“ Marlene nickte und verschwand.

Das Wasser und die Lavendelseife spülten den Dreck von ihrem Körper. Marlene beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit immer klarer wurde, bevor es im Abfluss verschwand. Erst als das Bad im Nebel versank, stieg sie aus der Wanne aus und ergriff das Handtuch. Es roch nach frischer Luft und Garten. Sie rubbelte sich die Haare trocken. Früher war es lang gewesen. Wie das Spinnennetz die Fliegen, hatte sie damit die Männer eingefangen. Wie sehr sie das vermisste. Das Früher.

Im Flur lag ein rotes Kleid mit weißen Punkten für sie bereit. Es fühlte sich glatt und geschmeidig an und passte perfekt. Marlene betrachtete sich im Spiegel und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war entkommen.

Die Polizei würde niemals auf die Idee kommen, hier nach ihr zu suchen. Sie konnte die höhnischen Stimmen, die Beleidigungen der Mitgefangenen hören. Zuckerpüppchen hatten sie sie genannt. Von wegen. Sie war knallhart. Schließlich war es ihr gelungen, zu fliehen, während die anderen immer noch in ihrem Loch versauerten.

Sie trat in den Flur und lief zu Petra. Der Duft von Spiegeleiern, begrüßte sie und brachte ihren leeren Magen zum Knurren. Die Stimme eines Nachrichtensprechers war zu hören. Marlene lauschte. Ihr Herz begann unruhig zu klopfen.

„Gestern Abend ist die berüchtigte Schwarze Witwe aus dem Gefängnis ausgebrochen. Sie ist äußerst gewalttätig und hat bereits fünf Männer ermordet. Sollten sie sie gesehen haben, dann…“

Angespannt lugte sie um die Ecke und erblickte ein Bild von sich im Fernseher. Petra stand mit dem Rücken zu ihr. Die brutzelnde Eier vergessend.

Es hätte so schön sein können, dachte Marlene bekümmert. Die Frau war nett gewesen. Mit ihr hätte sie es ein paar Wochen ausgehalten. Ihre Blicke schweiften durch dir Küche nach einem brauchbaren Gegenstand. Einsame alte Damen wurden selten vermisst. Ein Grund mehr, nicht allein zu bleiben. Vielleicht würde sie sich beim nächsten Mann verlieben und ihn behalten. Marlene entdeckte einen Schürhaken an der Wand. Nicht ihr Stil, aber brauchbar. Sie umklammerte ihn und schlich sich an ihr Opfer. Petra drehte sich um. In ihrer Hand hielt sie eine Pistole, die auf Marlene gerichtet war.

„Ich hatte gehofft, dass du danach greifen wirst. Das macht es mir leichter, wenn ich die Polizei rufe. Tot aus Notwehr“, sagte Petra und schoss.

Der Schürhaken glitt aus Marlenes Händen. Sie merkte, wie warmes Blut über ihren Bauch floss. Kurz darauf folgte ein stechender Schmerz, der sie zusammenkrümmen ließ. „Warum?“, stöhnte Marlene, taumelte nach hinten und presste ihre Finger auf die Wunde. Sie verstand es nicht. Die Frau war ihr unbekannt. „Ich habe dir doch von meinem Sohn erzählt. Er hieß Fabian“, sagte sie.

„Nein“, keuchte Marlene ungläubig und ein Zittern erfasste ihren Körper. Petra hatten die gleichen Augen. Er war ihr erster Verehrer. Ihr erstes Opfer. Sie war 17 und er 21. Er wollte sie heiraten und sie backte ihm einen vergifteten Blaubeerkuchen. Die Krämpfe kamen, als er allein im Auto saß. Es gab keine Autopsie. Der perfekte Mord. 10.000 € hatte der Ring und seine Kreditkarte gebracht. Genug Geld, um in reicheren Gefilden zu angeln.

„Wenigstens erinnerst du dich an ihn“, sagte Petra zufrieden. „Nur hast du vergessen, dass Ehemänner Mütter haben. Zwei Jahre habe ich gebraucht, um deine Flucht vorzubereiten“, erkläre Petra und beobachtete, wie die Ausreißerin auf die Knie sank. Dann nahm sie das Telefon und tippte drei Zahlen ein. Marlene erkannte sie. 112. „Sie rufen … Kranken… wagen?“, stöhnte sie und Panik flammte in ihr auf. Nie wieder würde sie freiwillig in das Gefängnis zurückkehren. Sie wollte sich erheben, doch stattdessen sackte zur Seite. Ihr Kopf knallte dumpf auf die Küchenfliesen. Petra blickte auf sie herab. Marlene kämpfte mit ihren Augenlider, die sich nur schwerfällig öffneten.

„Keine Sorge“, sagte Petra und strich ihr fast liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „In dieser Gegend dauert es 15 Minuten, bis er hier ist. Bis dahin bist du verblutet.“

Marlenes Bewusstsein schwand und tauchte in die Dunkelheit. Für immer.

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