Von Monika Heil

Erwin stand dick und weiß in Meiers Vorgarten. Sebastian und seine kleine Schwester Marie hatten ihn mit Hilfe ihres Vaters erbaut. Er war eine imposante Erscheinung mit einem schwarzen, hohen Zylinderhut auf dem Kopf, einem bunten, von Oma Meier selbstgestricktem Schal um den Hals, einem Reisigbesen im Arm und und bestand – wie alle Schneemänner dieser Welt – aus drei unterschiedlich dicken, aufeinander getürmten Kugeln. Klirrende Kälte hielt ihn seit Tagen am Leben.

 

Unbeweglich wie er war, gab es für ihn nur eine Blickrichtung – aber was für eine! Er konnte seine Augen nicht von der kleinen Schneefrau auf der anderen Straßenseite abwenden. Lydia, wie er sie nannte, trug einen kecken Strohhut, der mit kleinen pinkfarbenen Filzherzen geschmückt war und schaute ihn mit großen schwarz-glänzenden Kohleaugen aufmerksam an. Ihr rotes Möhrennäschen war ein ganzes Stück kürzer als seine lange Karottennase. Mit einen geblümten Rock und einer schwarzen Weste bekleidet, wirkte sie sehr feminin und anmutig. Eine ungewöhnliche Erscheinung! Nicht nur die Menschen lächelten, wenn sie vorbeigingen. Auch Erwin konnte den Blick nicht von ihr wenden. Unhörbar seufzte er immer wieder:

»Ach, wenn ich nur zu dir könnte, meine schöne Schneefrau.« Er beneidete die Geschwister Sebastian und Marie, die im Garten tobten, sich mit Schneebällen bewarfen und vor Begeisterung jauchzten. Wie gerne hätte auch er sich so lebensfroh von der Stelle bewegt. Doch leider, leider …

Seine Gedanken kreisten schließlich nur um einen Wunsch. »Lydia, meine liebste Schneefrau, wie kann ich dich erreichen?«, seufzte er erneut, ohne eine Lösung zu finden.

Kurz bevor sein Begehren gar zu mächtig wurde, erschien ihm eines Nachts die gute Fee im Traum. Ja, auch Schneemänner können träumen.

»Ich habe Mitleid mit dir«, sagte die gute Fee zu dem liebeskranken Schneemann. »Deshalb will ich versuchen, dir zu helfen. Du hast drei Wünsche frei.« Sie machte eine kurze Pause und setzte mit erhobenem Zeigefinger hinzu: »Doch bedenke ihre Wirkung.« Wenn sie gehofft hatte, Erwin werde jetzt in längeres, intensives Nachdenken verfallen, dann irrte sie. Denn Erwin brauchte überhaupt keine Zeit zum Nachdenken.

»Erstens wünsche ich mir, dass Lydia, die Schneefrau, in Liebe zu mir entbrennt«, sprudelte er sofort los. »Zweitens möchte ich die Rollerblades von Sebastian Meier, meinem Erbauer, unter meinen Bauch montiert bekommen«, verlangte er »und drittens will ich sofort auf die andere Straßenseite.« Aufgeregt und erwartungsvoll schaute er die Fee an. Doch die schüttelte den Kopf und lächelte traurig.

»Ich habe gesagt, überleg´ dir deine Wünsche genau und ich habe gesagt, bedenke ihre Wirkung.«

»Habe ich doch«, erwiderte Erwin mit trotzigem Blick. Beide schwiegen für einen kurzen Moment. Und gerade, als Erwin sich enttäuscht von ihr abwenden wollte, sagte sie mit einem fast unhörbarem Seufzer:

»Nun, so geschehe es.« Ein wenig Mitleid lag in ihrer Stimme, doch Erwin war so aufgeregt, dass er es nicht bemerkte. Er wollte sich gerade wortreich bedanken, da  verschwand die Fee so plötzlich aus seinem Traum, wie sie aufgetaucht war.

Erwin erwachte, als am Horizont gerade die Sonne aufging. Sein erster Gedanke galt seiner geliebten Schneefrau. Sehnsüchtig schaute er zu ihr hinüber, ohne zu bemerken, dass die ungewöhnlich warmen Sonnenstrahlen seine Lydia gerade in diesem Moment mitten ins Herz trafen. Die kleine Schneefrau sah Erwin an und auf einmal wurde ihr ganz heiß vor Liebe. Es durchglühte sie ein Gefühl von flirrender Hitze, das sie fast nicht aushalten konnte. Erwin wiederum spürte etwas Fremdes unter seinem kugelrunden Körper. Er sah an sich hinunter und stellte überrascht fest, dass er auf Sebastians Rollerblades stand. Wie sie dorthin gekommen waren, hätte er nicht sagen können.

Jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Ohne weiter nachzudenken, setzte er sich in Bewegung und ab ging es durch den frisch verschneiten Vorgarten auf das offene Hoftor zu, direkt auf den noch nicht gestreuten Bürgersteig. Hier kam er leicht ins Rutschen, wodurch er ungewollt und doch gewollt auf der breiten Dorfstraße landete, um sie – ohne weiteres Zögern – zu überqueren. Da er durch seine Bauart weder nach rechts noch nach links schauen konnte, sah er den großen, schweren Lastwagen nicht kommen, der ihn Sekunden später auf der glatten Straße ungebremst überrollte und vernichtete.

 

Lydia weinte bittere Tränen ob dieses Unglücks. Sie hatte wohl erkannt, dass sich Erwin nur ihretwegen auf den Weg gemacht hatte und trauerte um die verpasste Begegnung. Sie litt so sehr, dass sie dünner und immer dünner wurde. Je mehr Wasser an ihr herunter rann, desto weniger blieb von ihr übrig. Zum Schluss lagen nur noch zwei Stückchen Kohle, eine ausgetrocknete Möhre und ein paar Kleidungsstücke im Vorgarten.

 

Den Menschen war das Drama völlig entgangen. Sie diskutierten stattdessen über den ungewöhnlichen Temperaturanstieg, der jedes Jahr früher passierte und schoben mal wieder alles auf den Klimawandel. Die gute Fee aber hatte das Drama kommen sehen. »Es ist nicht gut, sich nur von Gefühlen leiten zu lassen, ohne seinen Verstand einzusetzen«, seufzte sie.

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