Von Peter Burkhard

Die digitale Anzeige der abgelegenen Tankstelle switchte von 09:48 a.m. auf 78°F. Bereits begann die grelle Sonne im Süden Arizonas den roten Wüstensand aufzuheizen. Die nächtlichen Jäger zogen sich noch weiter zurück in ihre Verstecke, über denen die meterhohen Kandelaberkakteen ihre crèmefarbenen Blüten entfalteten. Nach dem frühmorgendlichen Besuch des Sonora Desert Museums gab es einiges zu bereden auf der Fahrt zur mexikanischen Grenze und aus dem Autoradio plärrte Dolly Parton.
„Jungs, heute müsst ihr euch auf einen heissen Tag gefasst machen.“ Oliver reichte den beiden Knaben Sonnenbrillen und Baseball-Caps nach hinten.
Jenny nahm derweil den Fuss vom Gas. „Dieses Flimmern über der Strasse ist extrem, ich kann kaum etwas erkennen.“
Ohne seinen Blick von der vorbei flitzenden Landschaft abzuwenden erwiderte Oliver: „Das nennt man Hitzeflimmern. Pass bloss auf, dass du keinen Roadrunner überfährst.“
Die junge Mutter zog die Augenbrauen hoch und schwieg.

* * *

Der Markt für Kunsthandwerk in Nogales lag nur wenige Schritte jenseits der Grenze, weshalb die Familie den Grenzposten kurz vor Mittag zu Fuss überquerte. Doch die Vorfreude der vier wurde rasch getrübt: Verwöhnt durch die guten Vormittags-Geschäfte lümmelten die mexikanischen Händlerinnen interesselos im Schattendunkel ihrer Verkaufsstände, einzig noch die nahe Siesta im Sinn. Um nicht ganz mit leeren Händen zurückzukehren, erstanden die Eltern nach kurzem Disput zwei hölzerne Teufelsmasken und eine bunte Hängematte für die Kinder. Auch der geplante Stadtbummel durch die stickigen Strassen musste entfallen, denn am Himmel türmten sich erste Gewitterwolken, begleitet von einem immer stärker werdenden Grollen. Oliver trieb seine Lieben an: „Kommt, wir müssen so schnell wie möglich zurück zum Auto. Das kann im wahrsten Sinne des Wortes blitzartig gehen, beeilt euch.“ Sie hatten eben das Gebäude des Zollamtes verlassen, als erste schwere Tropfen auf den heissen Asphalt klatschten. Gleichzeitig fuhr ein gewaltiger Blitz aus der schwarzen Wolkendecke, unmittelbar gefolgt von einem infernalen Knall. Oliver packte den kleinen Lino am Arm, rief den andern zu: „Mir nach!“ und stürmte ins nächste Fast-Food-Restaurant. Hinter schmuddeligen Fensterscheiben wurden sie Zeugen eines Gewitters, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatten. Pausenlos schlugen Blitze in grosser Nähe ein und ein sintflutartiger Regenguss trieb die durchnässten Menschen in die Häuser. Blaulichter und Sirenen jagten durch die verdüsterten Strassen, für einige Minuten schien tatsächlich das Ende nahe. In der eisigen Atmosphäre des gekühlten Restaurants drängten sich die Menschen in dampfenden, tropfnassen Kleidern. Die Einheimischen, an solchen Aufruhr der Elemente gewohnt, schlürften gelassen plaudernd ihren Kaffee, während die wenigen Touristen ihre Verunsicherung und Angst durch lautes Reden zu kaschieren versuchten. Nahe beim Ausgang sassen zwei junge, blonde Frauen. Unbeachtet verfolgten sie über längere Zeit schweigend und konzentriert die Betriebsamkeit um sie herum. Plötzlich waren die beiden weg und mit ihnen ein olivgrüner Rucksack, den sie im Getümmel auf einfachste Weise hatten mitgehen lassen.
Noch immer goss es in Strömen.
Jenny stiess Oliver an und deutete auf einen Bildschirm, der über ihren Köpfen flimmerte: „Oli, schau dir das an, jetzt haben wir die Bescherung.“ Der regionale Fernsehsender hatte eine laufende Sendung unterbrochen und berichtete, untermalt von drastischen Bildern, von einem spektakulären Unfall zweier Sattelzüge auf der Interstate 19, die zwischen Tucson und Nogales voraussichtlich für Stunden komplett gesperrt werden musste. Oliver blickte grimmig: „Weisst du, was das heisst, Schatz? Wir werden hier in Nogales übernachten müssen, ob es uns passt oder nicht!“

* * *

„Vacancy.“ Mit grünen, nass glitzernden Leuchtbuchstaben buhlte das Motel 6 um Gäste. Die gestrandete Familie nutzte die günstige Gelegenheit, um spontan ein parterre gelegenes, muffig riechendes Zimmer zu beziehen. Jenny, die es hasste, in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein, schlug schon bald vor, noch etwas nach draussen zu gehen, zumal der grosse Regen vorbei war. Wenig später schlenderte sie mit den zwei Kindern im Schlepptau durch die Regalreihen des Mariposa Shopping Centers, knappe drei Gehminuten von ihrer Unterkunft entfernt, wo Oliver der TV-Übertragung eines Footballspiels folgte. Für die junge Mutter verflog der durchlebte Stress beim Stöbern in den Gestellen, während ihre zwei Buben quengelten und erfolglos allerlei Ramsch aus den unteren Regionen der Regale heranschleppten.

Plötzlich, Ruhe.
Lino sass allein am Boden und blätterte fasziniert in einem Comic-Heft.
„Robin!?“ Jenny hatte den Älteren aus den Augen verloren.
Sie befahl ihrem kleineren Sohn: „Lino, bleib hier!“ und lief ans Ende der Gestelle, aber da war niemand.
„Robiiin!?“
Sie eilte zurück zum Jüngeren, entriss ihm das Heft und packte ihn entschlossen an der Hand: „Komm!“ Dann suchte sie die nächste Regalreihe ab und lief zur übernächsten.
„Robin!? Um Himmels Willen, wo steckst du? „Robiiin!“ Ihre Stimme überschlug sich, Lino begann zu weinen. Jenny rief nochmals. Lauter. Rannte durch die Quergänge, doch da war kein Mensch, bloss randvolle Gestelle, die sich ihr teilnahmslos anbiederten.
Die Grenze! In nächster Nähe ist Mexiko: Jenny wurde übel.

* * *

Der kanariengelbe VW Käfer stand mit laufendem Motor in einer Mauernische an der Rückseite des Einkaufsmarktes. Hinter seinen beschlagenen Fahrzeugfenstern waren zwei junge Frauen zu erkennen, die hektisch, aber mit diebischer Freude ein Behältnis durchwühlten. Robin, keine zehn Meter davon entfernt, hatte dafür keine Augen. Verzweifelt war er darum bemüht, zu seiner verloren gegangenen Mutter zurückzukehren, nachdem er durch einen Personalausgang versehentlich ins Freie gelangt war. Als er den Irrtum bemerkt hatte, war die Türe zu, es gab kein zurück. Tränen kullerten dem Kind über das Gesicht, als es mit der ganzen Kraft eines Sechsjährigen gegen die schwere Tür trat.
„Mamaaa!“ Panik erstickte die Stimme des Kleinen: „Mam…“

„Na Kleiner, wo kommst du denn her?“ Er hatte die beiden nicht kommen sehen, plötzlich standen sie da und sprachen ihn an. Sue, die kleinere der beiden Frauen ging in die Knie, wischte dem Jungen die Tränen aus dem Gesicht und hakte nach: „Sag uns, was machst du hier?“ Robin, der kein Wort verstand, stemmte sich gegen die Tür und stammelte mit leiser Stimme: „Mama.“ Die jungen Frauen sahen ihn ratlos an. „Motel six.“ „Is this your lodging?“ „Daddy, Motel six.“ Er tippte sich auf die Brust. „Robin.“ „Ah, ok sweetheart, we got it!“ Die Mädchen lachten, deuteten auf den VW, der gegenüber vor sich hin tuckerte und hiessen den Knaben einsteigen.

Was war da? Durch das Hupen vor dem Motel hatte sich Oliver für einen Moment vom Football ablenken lassen. Hatte da nicht jemand Robins Namen gerufen? Mit einem Satz war er beim Fenster und riss den Vorhang zurück. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, wie ein kleiner Junge einem gelben Auto zuwinkte und dann stracks Richtung Hotelzimmer marschierte. Doch er hatte sich nicht geirrt, es war sein Sohn und er war allein. Stolpernd stürzte der überrumpelte Vater zur ebenerdigen Zimmertür und empfing seinen leicht verstörten Sprössling erwartungsvoll und mit offenen Armen. „Robin, wo kommst du denn her? Komm herein. Wer waren die Frauen im Auto und wo sind die andern, wo sind Mama und Lino?“ Er kniete sich nieder, zog den Kleinen an sich und schubste die Türe zu.

Der gelbe Käfer bog vom Parkplatz nach rechts in die Strasse ein und schnitt dem alten Toyota Pick-up den Weg ab. „¡Caramba! ¡Maldito ojo de culo!, ich konnte nicht mehr bremsen!“ Miguel wandte sich mit aufgerissenen Augen an seinen Kumpel und fluchte weiter vor sich hin, während Pepe die Wagentür aufriss und aus dem Kleintransporter sprang. Auch die beiden Twens hatten ihren gestohlenen Wagen verlassen und standen mit schlotternden Knien und schuldbewusstem Gesichtsausdruck neben dem gerammten Vehikel. Pepe hatte sich bereits zwischen den beiden Fahrzeugen niedergekniet und war daran, sich einen Überblick über die Schäden zu verschaffen. „Alles halb so schlimm, ist ja nur Blechschaden.“
„Und jetzt, müssen wir die Polizei holen, oder geht das auch ohne?“ Heather stand noch immer der Schreck ins Gesicht geschrieben, während Sue in der nassen Gosse kauerte und flennte. Miguel, der nun ebenfalls auf der Strasse stand, wollte eben zu einer abermaligen Schimpftirade an setzen: „ Estúpida …“ Doch Pepe fuhr ihm übers Maul: „Miguel, halte deine Klappe!“ und wandte sich wieder den jungen Frauen zu. „Nein, keine Polizei, das ist nicht nötig! Ich mache euch einen Vorschlag, wie wir die Bullen aus dem Spiel lassen können. Wir sind Alteisenhändler, gebt uns die abgerissene Stossstange und eure vier Raddeckel, dann ist die Angelegenheit für uns erledigt.“
Die Miene der Unfallverursacherin hellte sich schlagartig auf, um sich nur Momente später wieder zu verfinstern, als sie das kurze, schrille Aufjaulen der Polizeisirene vernahm. Der schwarzweiss gestreifte Wagen der State Troopers hielt fünf Meter hinter dem Pick-up. Zwei junge Smokeys entstiegen ihrem Fahrzeug, traten betont lässig zur Unfallstelle und grüssten knapp, aber höflich. Während der eine damit begann, die beschädigten Fahrzeuge zu inspizieren, wandte sich der andere ohne den Anflug einer Regung an Heather, wies auf den Käfer und fragte: „Ist das ihr Wagen, Lady?“
Im selben Moment knackte das Funkgerät des Polizeifahrzeugs unüberhörbar. Eine weibliche Stimme durchdrang die Szenerie: „Cougar four, cougar four, Jeff, hörst du mich?“ 
Der Smokey wandte sich irritiert vom Ort des Geschehens ab und ging raschen Schrittes zurück zu seinem Wagen. Er glitt hinein, um nur Sekunden später aus dem offenen Fenster zu blöken: „Bernie, ein emergency call, ein kleiner Junge ist verschwunden und die Mutter scheint durchzudrehen, wir müssen los. Sorry Ladies, ein Notruf, seien sie beim nächsten Mal vorsichtiger!“

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