Von Maria Lehner

Wien besuchen – das fühlt sich in den Träumen von Wibkes Mutter und den Erinnerungen der Eltern von Uwe an, wie ein Flanieren inmitten von Versatzstücken aus „Sisi“-Filmen und dem „Kaisermühlen-Blues“, das Ganze dann garniert mit zuckergussglänzenden Erinnerungen und Bildern vom Riesenrad. „Da müsst ihr hin!“, schärft man dem jungen Hamburger Pärchen ein und nennt einige Sehenswürdigkeiten. Jeder will schließlich sein besonderes Erzählhäppchen haben, wenn der Urlaub vorbei ist. „Und das Café Griensteidl!“, ruft ihnen Papa noch am Flughafen nach. Dass es Letzteres nicht mehr gibt, ist Enttäuschung genug. Dass auch Lonely Planet nichts vorschlägt, was wirklich „cool“ ist (hach, und wie könnte man das brauchen an einem solchen Augusttag!) bedauern Wibke und Uwe.  

 

Was für ein Glück, die Studentin zu treffen, die im Vorstadthotel an der Rezeption aushilft; sie ist eine Wienerin – die versteht gleich, worauf es ihnen ankommt. „Doch“, sagt sie „ich wüsst´ da schon was!“ So kommen sie mittels einer ihnen übergebenen Postkarte (mit Foto und dem Untertitel „Felix Nechwatal, Gasthausphilosoph“) an den besten Ort, den es überhaupt an diesem Augusttag geben kann, zum NORDPOL! Der liegt nämlich in Wiens zweitem Bezirk, in der Leopoldstadt. Wenn das nicht originell ist! Die Rückseite der Karte enthält die genaue Adresse und den Vermerk: „Der Philosoph residiert wochentags ab 16 Uhr 10 auf seinem Stammplatz im Gasthaus NORDPOL. Er empfiehlt die hervorragenden böhmischen Spezialitäten.“ Wer kann heute an Essen denken – an einem Tag, an dem das Thermometer die 35-Grad-Marke erreichen wird? 

 

Ein paar Stunden treiben sie sich in der Innenstadt herum, geduckt in den Schatten der Häuser und keine der Sprühnebelduschen auslassend. Dann zum Augarten. Selbst dort, unter Bäumen, ist nur wenig Abkühlung.

 

Seit 15:45 lauern sie, bis zur Öffnungszeit um 16 Uhr, vor dem Gasthaus. Dann fragen sie die Wirtin, ob man sich zum Gasthausphilosophen voranmelden könne. Nein, das nicht, aber sie könne ihn günstig stimmen, indem sie ihn dezent auf die Spender des ersten bereitgestellten Biers hinweisen würde. Endlich sitzen sie. Vom Bierglas tropft verdunstender Tiefkühl-Raureif. Ein Mops hechelt – in der Musik würde man das Tempo als „prestissimo“ bezeichnen. 

 

Ein Mann, „gut im Futter“ sagt man in Wien zu einer solchen Erscheinung, betritt den Gastgarten. Blick auf das Foto: Das ist der Gasthausphilosoph! „Griass eahna, Herr Nechwatal!“ ruft die Wirtin herüber. Er antwortet: „Seawasküssdiehand!“. Ein bedeutungsschweres „Na alsdern!“ („Nun denn!“) markiert seinen Auftritt. Er setzt sich auf den gleichen Platz wie immer und wischt sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.

 

Das Bier wird ihm an den Tisch gebracht, die Wirtin deutet auf das Pärchen. Nechwatal prostet ihnen charmant zu und macht eine einladende Bewegung. Glücklich wechseln sie an seinen Tisch.

Mit „Jo, jo!“ leitet er schicksalsschwer eine erste philosophische Sequenz ein. Dann beginnt er, weil ihm die erhitzten Touristen so leidtun, in einem schönen und etwas breiten Wienerisch zu erzählen von einem strahlend weißen Raum, in dem die Eiszapfen von der Decke hängen. Er beschreibt eine Forschungsstation, nämlich die Nordpol-Expedition 1872-1874 („die österreich-ungarische“, ergänzt er stolz), nach der Straße und Gasthaus benannt sind. Man ist mitten in seiner Welt – dadurch, dass man ihm zuhört. Und das tun alle, die hierherkommen. Sie sprechen von ihm so, als sei er ein Geländer, das sie ihren Weg finden lässt: „Der Nechwatal hat aber g´meint g´habt…“ oder „Nein, also der Nechwatal hat das so erklärt…“. Die Zuhörenden drehen den Kopf langsam in seine Richtung. 

(L-a-n-g-s-a-m: Denn jede hastige Bewegung verbraucht Energie).

 

Nechwatal ist einer jener Wiener, die die schöne Kunst des Trink-Denkens beherrschen. Man könnte auch sagen, dass er die menschliche Existenz im Dunst von einem Teller böhmischer Krautsuppe zu hinterfragen, zu verstehen und im Bierschaum zu deuten imstande ist. 

Er kommt gern nach der Arbeit her. Friedhofsgärtner ist er in seinem „Brotberuf“. Wer da nicht zum Philosophen wird?! Und im „Fleischberuf“ ist er Gasthausphilosoph. Was wäre das Brot ohne Fleisch? Er lehnt sich ein wenig zurück. Hinter ihm wedelt eine Dame sehr heftig mit ihrem Fächer. Die kühle Luft streicht zu ihm herüber. So mag er sein Leben: ohne eigene Anstrengung an den Annehmlichkeiten teilhaben, die die Welt bereithält.

 

Das zweite Bier kommt. „Wissen´s…“, führt er aus, „…die Forscher – die Klimaforscher überhaupt, die beschäftigen sich mit der Zukunft. Und wie wird die sein?“. 

„Na“, examiniert er Uwe, „wird´s nächsten Freitag regnen?“ Uwe zuckt die Schulter und Nechwatal hat ihn dort, wo er ihn haben will. „Sehn´s, das können sie natürlich nicht wissen. Und die Klimaforscher können auch manches nicht wissen. Sie können nur annehmen, ob a oder b eintritt. Extrapolation also.“ Uwe und Wibke staunen, als dieses Wort so selbstverständlich hereinplumpst, gesprochen von einem Friedhofsgärtner. 

„Aber der Pol lässt sich nicht extrapolieren, der hustet ihnen was!“ Gespitzte Ohren an den anderen Tischen, manch einer notiert sich das Bonmot. Uwe und Wibke sind sehr stolz, im Zentrum des philosophischen Diskurses zu sein, der freilich ein Monolog ist. Nechwatal ist sein eigener Stichwortgeber. Grade holt er wieder aus: „Und das ist das Grundproblem der Klimaforscher, dass sie sich mit einer Zukunft beschäftigen, von der sie nicht wissen, wie sie beschaffen ist.“

Uwe hat vor, sich das zu merken. Er schaut auf die Straße. Der Asphalt flimmert in der Hitze. Trugbilder entstehen. Ein Gletscher? Er nimmt sich vor, langsamer zu trinken.

 

Das dritte Bier kommt. „Die Bodenversiegelung zum Beispiel“, so führt er den nächsten Denkschritt ein. Zu Wibke sagt er: „Sie seh´n das Flimmern? Backofenklima in der versiegelten Stadt! Was glauben Sie, wie viele Regenwürmer allein heut´ ihren Lebensraum verloren haben, weil der zubetoniert worden ist?“  Auf ihren – plangemäß – unsicher-fragenden Blick wartet er mit der Zahl „Elf Millionen!“ auf. 

Als er ihnen noch erklärt, was unterirdische Versiegelungen sind und dass jetzt das Grundwasser anders fließt, werden sie etwas verzagt. Erst recht als vom fehlenden Kohlendioxidspeicher die Rede ist. Nach einer kurzen Pause, in der alle drei ihr Essen bestellen („Natürlich Erdäpfelgulasch!“) legt er in wahrlich aufklärerischer Manier dar, was die Politik wolle: „Das Klima wollen´s schützen, aber den Bürger weiterleben lassen, wie bisher“. 

Uwe denkt (er hofft, dass man ihm das nicht ansieht): „Na hoffentlich“, und resümiert kurz den ökologischen Fußabdruck, den sie mit dem Flug hierher hinterlassen. Hinten am Dreier-Tisch kollabiert grad einer. Die Wirtin bringt eine Schüssel mit feuchten Tüchern und Eiswürfeln. Nechwatal seufzt „Sehn´s?!“, und legt seinen ganzen Philosophen-und-Friedhofsgärtner-Pathos in diese rhetorische Frage. 

 

Das Erdäpfelgulasch wird serviert. Erst einmal essen alle; geredet wird kaum. Es schmeckt unvergleichlich. Dafür ist der NORDPOL berühmt: für seine deftige Küche. 

 

Wibke hält kurz inne und massiert sich die angeschwollenen Füße. Mit: „Na, wo drückt der Schuh?“, leitet Nechwatal geschickt zum nächsten Thema über (sein letztes für heute): „Sehn´s – die Schuh´ sollen nicht drücken, aber sie tun´s trotzdem: Ein direkter Schluss vom Sein auf das Sollen ist unmöglich.“ (Uwe tippt das rasch ins Handy!). „Und so ist das in der Klimapolitik auch: In öffentlichen Diskussionen werden Begriffe gebraucht, die schwammig sind. Sie sag´n „die von den Kindern geliehene Welt“ und „die gestohlene Zukunft“ – damit lässt man uns dann allein. Und wir plagen uns, diese Begriffe zu verstehen. Wenn´s nicht gelingt, war alles für die Katz´, denn wir kommen nicht zur entscheidenden Frage: Wie kommen wir endlich zum Handeln?“ 

Alle drei nicken versonnen. Nechwatal lauscht nickend seiner eigenen Stimme nach. Wibke nickt in ihrer Müdigkeit wie eine dieser solarbetriebenen Puppen. Uwe nickt philosophisch-berauscht; er hat das dritte Bier nicht so gut vertragen und bittet um die Rechnung: „Alles zusammen bitte, der Herr ist unser Gast!“

Nechwatal schüttelt in gespielter Entrüstung den Kopf. Die Rechnung kommt. Er bedankt sich verschämt („Na hörn´s – wie komm´ ich denn dazu?“) und spendiert jedem zwei Kugeln Eis.

Die Wirtin, generös: „Das Eis geht’s auf´s Haus, die Herrschaften und Herr Nechwatal!“ In Wirklichkeit ist das die Provision für die Gäste, die der Gasthausphilosoph dem NORDPOL bringt. 

 

Alle drei fühlen sich beschenkt und gehen zufrieden ihrer Wege in der immer noch flimmernden Hitze. Uwe und Wibke werden daheim viel zu erzählen haben. 

 

Nechwatal beschreibt am Telefon seiner Enkeltochter mit lyrischer Inbrunst Konsistenz und Geschmack vom Erdäpfelgulasch. Morgen ist der 17. August; an dem ist 1784 eine Verordnung erlassen worden, quasi die Geburtsstunde des Heurigen. Darüber wird sich trefflich philosophieren lassen, sagt er; sie soll ihm wieder Gäste schicken. Sie notiert für heute, wie jedes Mal, zehn Punkte in einer Punkteliste. Wenn hundert erreicht sind, gibt’s den grünlichen knisternden Schein als Provision vom Opa… 

 

Und so haben alle gewonnen. Auch der am Nebentisch, der schon seit Wochen kommt, um zuzuhören. Er sammelt Material, denn er soll eine Begründung für die Verleihung eines Ehrenzeichens der Stadt Wien verfassen. Der Nechwatal soll es bekommen, weil er ein Kulturbotschafter ist. 

 

Version 2