Von Renate Oberrisser

„Guten Morgen, Vereinte Sektoren des Altkontinentes. Heute steht ein besonders

  heißer Tag bevor. Süd-West muss mit bis zu 50 Grad im Schatten rechnen. Nord-Ost

  dagegen kann sich zeitweilig an einer frischen Brise erfreuen, dank der großen 

Kühlrotoren von NacionA. Und ihr alle wisst, wessen es bedarf, um in den Genuss

  erträglicher Temperaturen zu gelangen. Mit eurer Unterstützung wird für euer 

Wohlbefinden gesorgt und euer Alltag erfrischt. Ein Hoch auf das Regelwerk und 

auf NacionA.“

 

Unüberhörbar tönte das Wohlbefinden-Programm durch die omnipräsenten Lautsprecher. Regelmäßig wiederholte sich die Durchsage mit aktualisierten Temperaturangaben und den für deren Erhaltung erforderlichen Pins. Dies sollte die Kollektive anspornen, ausreichend dazu beizutragen, um in den Genuss einer maximalen Erquickung durch die Windmotoren zu gelangen. Dafür wurde auf notwendige Regelwerkregeln hingewiesen. Zwischendurch gab es reichlich Zerstreuung und endlose Reklame für eine mitwirkende Lebensweise.

 

Zwischen Sonnenunter- und -aufgang verstummten die Lautsprecher. Im großen Regelwerk war dieser Tagesabschnitt als ‚Zeit der regenerierenden Muße‘ festgelegt. Ein ‚in sich gehen‘ und sich auf ‚das Große und Ganze‘ zu konzentrieren, war erwünscht. Die Allgemeinheit konnte sie auch für eigenen Kurzweil nutzen. Aufenthalte und Aktivitäten im Freien wurden jedoch streng reglementiert. Jede unnötige Erhöhung der sensiblen Sektor-Temperatur müsse vermieden werden, hieß es stets warnend. Weiters wurde im Regelwert auch auf das Risiko im Dämmerzustand entstehender Hirngespinste hingewiesen, vor deren Wiedergabe sich jeder tunlichst distanzieren sollte. 

 

Weitere Weisungen des Regelwerkes hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Das wäre nicht Sinn und Zweck dieses Nachweises über die Ereignisse rund um die Antwort auf die Frage aller Fragen, meinte zumindest Opa Fred. 

 

Fred war schon immer ein besonderer Opa für Liora. Sie liebte es, ihm zu lauschen, wenn er von ‚ganz viel früher‘ und dem großen Wandel erzählte. Freds Geschichten handelten meist von Marie und den lieben Tanten. 

 

So viele, für die kleine Marie unverständliche Dinge geschahen damals. Kein Spielen mehr vor dem Haus, nur mehr drinnen. An guten, aber seltenen Tagen gerade noch im Schatten unter den großen Bäumen. Doch die Hitze wurde allgegenwärtig und kein Baum und kein Schirm schützten davor. Die Phase der Großen Glut begann. Jeder igelte sich in den eigenen vier Wänden ein und sah zu, dass nichts von der angenehmen Kühle nach draußen entschwand. Vor jedem unnötigen Öffnen der Türe wurde ausdrücklich gewarnt und unachtsames Verhalten streng geahndet.

 

Besonders schlimm traf Marie in jener Zeit, dass sie ihre Tanten nicht mehr so oft besuchen konnte wie sie wollte. Die seltenen Anlässe wurden daher sorgfältigst durchdacht. Die Treffen, von den Tanten liebevoll Urlaub genannt, wurden mit viel Fantasie gestaltet und  Unternehmungen anhand alter Fotos nachgestellt. Für Marie war es die schönste Zeit ihrer Kindheit.

 

„Urlaub soll irgendwann, jedenfalls sehr viel früher als wir uns heute vorstellen können, eine sehr beliebte Kurzweil gewesen sein.“ Zu Lioras Leidwesen gingen Opa Fred’s Erzählungen oft in eine andere Richtung weiter.

 

Durch die weiter ansteigende Hitze wurde das gesellschaftliche Leben auf zumutbare, vorgegebene Kernzeiten reduziert. Im Zuge der Großen Glut schritten unvorstellbare Entwicklungen im Höchsttempo voran. Das Leben wurde immer mehr von Vorgaben bestimmt. Highest-Tec hieß eine Maxime. NacionA brillierte mit Windrotoren der neuesten Generation.

 

‚Die einzige Rettung vor der Gluthitze!‘ Diese Parole verbreitete sich explosiv und alle jubelten dem führenden Konzern der Technologie-Elite zu.

 

„Na, wenn das Mal gut geht!“, mahnten die Tanten und hitzige Diskussionen folgten. Die kleine Marie hörte gebannt zu.

„Warum hören die Menschen auf mitzudenken.“

„Wo sind Beweise … wo Alternativen …“

„Wovor ist die Angst größer?“

„Die Wahrheit wird ihre Stunde bekommen!“

 

Der offene Umgang ihrer Tanten mit schwerwiegenden Themen, prägte Marie für ihr Leben und sie hörte und sah, wo immer es ging, sehr genau hin. In vertrauten Runden wurde darüber gesprochen und vieles drehte sich immer wieder um die eine Frage: „Was verbirgt sich jenseits des großen Hitzeflimmerns?“

 

 

Während der großen Glut kam es nicht nur zur Highest-Tec-Revolution sondern zu unzähligen und  weitreichenden Neuordnungen.

 

Die Völker der Erdkugel konnten sich auf keine gemeinsamen Aktionen einigen. Das angeschlagene Ganze zerteilte sich und schottete sich zur Problembewältigung komplett voneinander ab. Es entstanden der Alt-, der Neu-, der Nah- und der Fernkontinent. Rund um die ‚Vereinten Sektoren des Altkontinentes‘, wurden von NacionA immer mehr Windräder hochgezogen, die für ein erträgliches Klima sorgen sollten. Unmengen an Energie wurde hierfür benötigt und die Bewohner schlossen sich zu Kollektiven zusammen, um diese Herausforderung zu meistern. Kritiklos setzte sich das Regelwerk durch, im Glauben an diesen alternativlosen Lösungsweg. Ob und welche Auswege die Anderen fanden, interessierte keinen mehr.

 

Die Wissensvermittlung für die Allgemeinheit war während der Hitzeperiode bereits auf ein Mindestmaß an Notwendigem reduziert worden. Unnötiges Wissen verschwand zusehends aus dem Regelunterricht, bis auf ein paar grundlegende und hauptsächlich auf den Altkontinent beschränkte Details. Die großen Kriege wurden zu einem ebenso abkömmlichen geschichtlichen Wissen wie, dass die Erde eine Kugel ist, zu einem geographischen. Vor allem im Geiste wurde der Globus wieder zu einer Scheibe, die beim Hitzeflimmern der großen Windmotoren endete. 

 

Diese Ära der Neuen Ordnung zog sich über Generationen hin. 

 

 

Aufgescheucht wie ein Erdmännchen flitzte Liora herum. Sie befürchtete schon, mit ihrer Unruhe die Sektor-Temperaturen zu erhöhen. Wie konnten Opa Fred und Mama nur so entspannt sein, während sie der zumutbaren Kernzeit des großen Festes entgegenfieberte.

 

Endlich ertönte die Ansprache von NacionA aus den allgegenwärtigen Lautsprecherboxen.

 

„Werte Kollektive der Vereinten Sektoren des Altkontinentes. Wir haben es versprochen 

und gemeinsam haben wir es geschafft! Ein besonders milder Tag zur Sommerwende 2333. 

Über 300 Jahre funktionieren die großen Windräder bereits reibungslos, dank euren

unermüdlich gesammelten Pins. NacionA hat alles nur Erdenkliche in die Wege geleitet, 

um für diese Feier einen satten Bonus ausschütten zu können …“

 

„Anlässlich des Jubelfestes schreibt NacionA den Wettbewerb ‚333 kreative Regelwerk-

Ideen für unsere Windmotoren‘ aus. Junge und Alte! Interessierte und Forscher! Reicht 

eure vielfältigen Modelle oder Experimente ein. Die Sektoren mit den meisten und

  innovativsten Einreichungen erhalten doppelte oder dreifache Pins. Damit erwerbt ihr 

ein beachtliches Guthaben und ihr habt viele Jahre für euer Wohlbefinden vorgesorgt. 

Ein Hoch auf das Regelwerk und auf NacionA. Und jetzt erfreut euch an der prächtigen

  Lasershow!“

 

Großer Jubel setzte ein und alle folgten hypnotisiert dem Lichterspiel, der beliebtesten Kurzweil beim Sommerwende-Fest. 

 

Zu keinem Zeitpunkt wurde nach stichhaltigen Beweisen gefragt, was zur großen Glut geführt hatte und ob die Windräder einzig der Bekämpfung der Hitze dienten und nicht vorrangig zu deren Erhalt beitrugen. Die, für den Betrieb benötigten Pins, konnten schon lange nicht mehr in ausreichender Menge erbracht werden. Immer öfter kam es zu Reibereien zwischen den einzelnen Kollektiven. Die Rivalität um die sammelbaren Pins eskalierte zunehmend. Wurde von NacionA der Versuch gestartet, durch den Ideen-Wettbewerb neue  Einkünfte zu lukrieren oder die Allgemeinheit zu beschwichtigen? Die Highest-Tec-Elite hatten es verabsäumt Alternativen zu entwickeln und sich lieber auf paradoxe und vorrangig luktrative Zerstreuungs-Programme spezialisiert. Die Weisungen des Regelwerkes empfanden viele bereits wie das Gedudel eines alten Leierkastens.

Das sich jemals etwas ändern würde, daran glaubten die Wenigsten und vor allem jene Mehrheit nicht, welche dem Regelwerk immer noch ergeben folgte.

 

Das Lichterspiel am Himmel verblasste. Die künstliche Geräuschkulisse eines Feuerwerks verstummte langsam. Eine unbekannte Stille breitete sich über den Sektoren des Altkontinentes aus.

Die letzten Energie-Pins waren durch die große Sommerwende-Lasershow verpufft. Die Motoren der riesigen Windräder drehten sich nicht mehr.

„Wir sind dem Untergang geweiht.“ Ersten verstörten Rufen folgten weitere. Menschen liefen in Panik herum, andere verharrten starr, wie in Trance.

Opa Fred hob Liora schützend auf seine Schultern. „Sing, meine Mädchen. Sing irgend etwas. Aber sing laut.“ Zaghaft kamen Liora die ersten Worte über die Lippen: „Der Morgen ist angebrochen als wäre es der allererste Morgen …“ Opa Fred stimmte laut und etwas schief mit ein. Mama sang ebenfalls mit. Immer weiter verbreitete sich die Melodie und schwoll an zu einem grenzenlosen Chor.

 

Hinter den Windrädern erhob sich ein großes Flugobjekt und nahm ein paar Privilegierte aus den Reihen von NacionA, der Highest-Tec-Elite und dem Regelwerk mit auf eine Reise in eine feudale Zukunft. All jene, für die kein Platz darin vorgesehen war, überließen sie ungerührt einem  unbestimmten Schicksal. 

 

„Es ist an der Zeit, dass wir uns auf unseren Hausverstand besinnen“, lachte Opa Fred erleichtert auf. „Die Menschheit hat schon so vieles überlebt, also werden wir auch das hier schaffen. Hauptsache das Regelwerk landet im Müll. Kommt, schauen wir mal, wer Hilfe braucht.“ 

 

Jenseits des großen Hitzeflimmerns, genau dort, wohin das Flugobjekt entschwunden war, zeigte sich ein riesiger Feuerball. Nachdem sich die Rauschschwaden verzogen hatten, ging langsam die Sonne auf und eine kühle Brise begrüßte den ersten Morgen einer neuen Ära und offenbarte die Wirklichkeit.

 

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