Von Vanessa Wedekämper

Erbarmungslos schien die Sonne auf mich herab. Um mich herum gab es weit und breit nichts. Nichts, außer den Staub, den ich mit jeder Bewegung auf dem steinigen Weg aufwirbelte. Ich konnte ihn schmecken und merkte, wie er an meiner nassen Haut klebte. Ich nahm die letzten Schlucke aus der Wasserflasche. Die Luft über dem steinigen Weg flimmerte. Fast so, als würde die Sonne versuchen, die Wirklichkeit zu verzerren. Die trockene Luft brannte in meinen Lungen. Ich mich in den letzten Stunden vorgekämpft. Aber jetzt ging mir die Kraft aus. Den Mut hatte ich schon vor langer Zeit verloren. Und das Ziel lag noch in weiter Ferne.

 

Ein paar Wochen vorher:

 

Lethargisch starrte ich aus dem Fenster und sah den Regentropfen dabei zu, wie sie langsam an der Scheibe herunterliefen. Sie schlängelten sich an ihr entlang, bis sie ihr Ende erreichten und sich auf zu neuen Abenteuern machten. Wehmütig schaute ich ihnen hinterher. Wie gern wäre ich einer dieser Tropfen. Dann wäre ich frei, dann könnte ich die Welt sehen. Aber ich war es nicht. Ich war an meinen Stuhl gefesselt. Ohne Hilfe kam ich nicht mal die Treppe hoch.

Während ich aus dem Fenster starrte, dachte ich an die entlegene Hütte am See. Dort machten wir jedes Jahr Urlaub, als mein Vater noch lebte. Jedes Mal schwärmte er davon, wie er und sein Bruder als Teenager von dort aus zu einem Wasserfall gewandert waren. Er erzählte von dem anstrengenden Weg und dass die Aussicht auf den Wasserfall für alle Strapazen entschädigte. In dem Fluss zu baden, sei erfrischender als jedes Bad zuvor. Und immer sagte er zu uns: „Sobald ihr Kinder groß genug seid, wandern wir da hin.“

Dazu kam es leider nie. Als ich Elf war, starb er plötzlich an einer seltenen Krankheit. Deshalb plante ich, ihm zu Ehren (und weil ich diesen Ort unbedingt sehen wollte) alleine dort hinzuwandern und zu zelten. Ich organisierte alles für die Wochen nach meinem Abschluss. Aber auch dazu sollte es nicht kommen. Ein Autofahrer übersah ein Stauende und fuhr ungebremst in unseren Wagen. So durchkreuzte er die Reisepläne und meine Lebensfreude.

Früher wäre Aufgeben für mich keine Option gewesen, aber seitdem war ich ein anderer Mensch. Nein, kein anderer Mensch! Genaugenommen war ich jetzt nur noch ein halber. Ich war seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt. Meine Beine waren nur Zierde und mehr Ballast als alles andere.

 

Es klopfte. Ich zuckte zusammen, reagierte aber sonst nicht. Zögerlich kam meine Schwester rein.

 

„Lexy, wie lange willst du noch aus dem Fenster starren?“

 

„So sechzig, siebzig Jahre“, antwortete ich, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

 

„Du musst mal wieder raus aus deinem Zimmer. Ein bisschen unter Leute.“

 

Ich verkniff mir das sarkastische: „Stimmt, ich kann ja zum Turnen gehen.“

 

Ich wusste ja, dass Maddy sich nur Sorgen machte. Aber jetzt nicht mit meinen Freunden trainieren zu können, machte mich so unsagbar wütend. Stattdessen musste ich mir einen weiteren Aufmunterungsversuch anhören. Aber ich hatte keine Kraft mehr, das tapfere Mädchen zu spielen.

 

„Komm Lexy, wir gehen mit den Mädels ins News einen Kaffee trinken.“

 

Bis auf die Besuche im Krankenhaus (wo keiner wusste, was er sagen sollte und mich alle behandelten als wäre ich aus Glas) hatte ich meine Freunde nicht mehr gesehen. Ich hatte nicht mal meine beste Freundin Sahra zurückgerufen, die mir seit der Entlassung etliche Nachrichten auf die Mailbox gesprochen hatte. Das News war unser Lieblingscafé, aber ich konnte mir nicht vorstellen, da mit dem Rollstuhl hinzugehen. Alle würden mich anschauen. Dort war es eng und ich würde mindestens gegen zehn Stühle fahren, bis ich an unserem Tisch ankam. Dann würden die Leute auf jeden Fall starren. Und viele würden lachen. Vielleicht auch meine Freunde. Vehement schüttelte ich den Kopf. Früher war ich nie schüchtern, aber so… War ich als halber Mensch überhaupt so viel Wert wie früher? Auf jeden Fall konnte man mit mir nichts mehr unternehmen.

 

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Damit Maddys das nicht sah, blickte ich weiter aus dem Fenster und sagte nur: „Bitte geh.“

 

 

Ein grelles Licht weckte mich. Es war mitten in der Nacht, aber sofort war ich hellwach.

 

„Ist was passiert?“, rief ich panisch.

 

„Nein, aber du musst jetzt aufstehen.“

 

„Maddy?“

 

„Komm schon, wir machen jetzt einen Ausflug.“

 

Ich zog mir die Decke über den Kopf und murmelte etwas in der Art wie: „Lass mich schlafen.“

 

Skrupellos zog sie mir die Decke weg. Die landete nur einen Meter neben meinem Bett. Doch für mich viel zu weit, um sie einfach aufzuheben und weiterzuschlafen. Der Tag fing schonmal richtig bescheiden an.

 

„Wie spät ist es überhaupt?“, fragte ich grummelig.

 

„Halb fünf, aber wir haben einen langen Weg vor uns.“

 

Ich weiß immer noch nicht, wie Maddy es geschafft hatte, aber ich saß mit ihr und Sahra im Auto. Und schmollte. Sie hatten mit unserer Mutter heimlich bestimmt, dass ich die Reise doch machte. Alles war sorgfältig geplant. Und ich fühlte mich von den wichtigsten Menschen in meinem Leben unverstanden und allein gelassen. Die Power-Lexy die nie aufgab und alles schaffte, die existierte nicht mehr. Ich konnte diese Wanderung nicht schaffen. Und sie wollten es nicht wahrhaben.

 

Der Anblick der Hütte weckte viele schöne Erinnerungen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich wieder wie ein Kind. Bis ich beim Versuch aus dem Auto zu steigen, wieder hart in der Realität landete. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

 

„So erstmal müssen wir uns stärken und dann machen wir uns auf den Weg“, sagte Maddy, während sie eine Kühlbox aus dem Kofferraum hievte.

 

Bei dem Gedanken an die Wanderung wurde mir übel. Wenn ich die Situation richtig einschätzte, hatte ich zwei Optionen: Entweder ich weigerte mich mitzukommen, dann würden Maddy und Sahra alles dafür tun, um mich dahin zu transportieren. Aber so wären die beiden schon auf halber Strecke am Ende ihrer Kräfte. Oder ich ging freiwillig mit. Das bedeutete aber, dass sie mich nicht aus den Augen lassen würden, um mir gleich zu helfen, wenn ich nicht weiterkam. Und das so oft, bis sie bereuten, mich mitgenommen zu haben.

 

„Ich geh allein!“, platzte es aus mir heraus.

 

Beide sahen mich verdutzt an. Aber mir gefiel die Idee. Entweder ich würde mein Ziel erreichen oder hier wenigstens als Festmahl für die Geier enden.

 

„Okay“, antwortete Maddy zu meiner Überraschung. „Du gehst los und später kommen wir mit der Campingausrüstung nach.“

 

Und deshalb saß ich jetzt hier. In der prallen Sonne, umgeben von ausgedörrtem Gras und einigen Felsen. Aus der geteerten Straße war schon lange ein Trampelpfad geworden. Mein Rollstuhl hing wieder irgendwo fest und mir fehlte die Kraft, mich da heraus zu manövrieren. Ich gab mir einen letzten Ruck und drehte die Räder, so fest ich konnte. Dabei durfte ich sie aber nur am Gummi berühren. Der Metallrahmen, hatte sich so aufgeheizt, dass ich ihn seit einer ganzen Weile nicht mehr anfassen konnte. Alles Drehen und Ruckeln half nichts. Ich saß fest. Maddy anzurufen war meine letzte Möglichkeit, hier lebend heraus zu kommen. Als ich sah, dass ich keinen Empfang hatte, schlug mein Herz schneller. Wie lange würde ich in der Hitze durchhalten. Meine Lippen waren schon so ausgetrocknet, dass sie an mehreren Stellen aufgerissen waren. Ich konnte nichts mehr tun, außer Warten und zu hoffen, dass die Rettung schnell genug kam. Obwohl ich dachte, dass ich schon komplett dehydriert war, rollte eine Träne meine Wange herunter. Und zum ersten Mal, seit ich im Rollstuhl saß, wurde mir klar: Ich wollte trotzdem leben. Es gab noch so viel, zu sehen. Aber dafür musste ich kämpfen. Nicht nur jetzt, sondern vor allem Zuhause.

 

„Genug mit der Pause“, sagte Sahra und schob den Rollstuhl mit einem kräftigen Ruck über einen Stein, der leicht aus der Erde ragte.

 

Dass es für mich unmöglich war und ihr so leicht fiel, mir hier raus zu helfen, gab mir einen kleinen Stich. Aber diesmal beschloss ich, ihn zu ignorieren und mich nicht davon unterkriegen zu lassen.

 

„Wir waren immer nur ein paar Meter hinter dir. Du denkst doch nicht, dass wir dich hier alleine lassen?“, antwortete Maddy auf meinen verdutzten Blick. „Das hättest du doch genauso gemacht.“

 

Da hatte sie recht. Nicht mal mit ihren zwei gesunden Beinen hätte ich sie hier alleine gelassen.

 

„So“, begann Sahra ihre Standpauke, „Ich weiß, du bist eigentlich taff und selbständig und bist es nicht gewohnt Hilfe zu brauchen. Aber jeder braucht mal Hilfe. Wie oft habe ich dich mitten in der Nacht angerufen, weil ich vor Liebeskummer nicht schlafen konnte. Wie viele Stunden hast du mir in Mathe geholfen, weil ich sonst durchgefallen wäre. Und das jedes Jahr wieder.“

 

„Wie oft musstest du mir zur Seite stehen, weil ich mich alleine nicht getraut habe. Und dabei bin ich doch die große Schwester“, unterbrach Maddy sie.

 

„Also schluck` deinen Stolz runter! Lass uns dir helfen, wenn du nicht oben ans Regal kommst oder wenn dir eine Stufe im Weg ist oder wobei auch immer.“ Sahra hatte sich so in Rage geredet, dass sie fast schrie.

 

Sie hatten recht. Ich würde alles verpassen, wenn ich mir nicht helfen ließ. Und ich hatte ja grade festgestellt, dass es viel gab, was ich noch erleben wollte.

 

„Los jetzt. Zusammen schaffen wir das“, sagte Maddy mit einem Lächeln.

 

„Ich kann nicht“, sagte ich kleinlaut. „Die Räder sind zu heiß.“

 

Anstatt mich zu schieben, kramte Maddy ein Paar Socken aus dem Rucksack und gab sie mir mit den Worten: „Damit sollte es erstmal gehen, und zu Hause besorgen wir dir Handschuhe.“

 

Maddy´s Idee funktionierte und nachdem ich ein paar große Schlucke aus ihrer Wasserflasche genommen hatte, starteten wir wieder durch. Wir kamen schnell voran, vor allem, dass ich den Rollstuhl nicht selbst über jeden großen Stein hieven musste, sparte viel Kraft.

 

„Wow“, flüsterte ich leise, als wir unser Ziel endlich erreichten. Mein Vater hatte recht gehabt. Es war ein atemberaubendes Gefühl, hier zu stehen. Und dafür hatte es nur ein wenig Hilfe gebraucht. Und ich wusste: Mit meinen Freunden schaffe ich alles. Denn Aufgeben, ist keine Option.

 

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