Von Yvonne Tunnat

Henry zerrt noch immer an einem erstaunlich großen Tannenbaum, der auf seinem Autodach festgebunden ist. Wenn der so weitermacht, bleiben bald keine Nadeln mehr übrig. Eine Weile beobachte ich das durchs Küchenfenster, dann habe ich genug. Ich lege den Schwamm zur Seite, trockne mir die Hände und gehe zu ihm hinaus.

“Brauchst du Hilfe?”

Er dreht sich zu mir um: “Oh Mann, das wäre super!” Einige Tannennadeln haben sich in seinem graumelierten Igelschnitt verfangen und seine Stirn ist voller dunkelbrauner Schlieren. Erde, hoffe ich.

“Wer hätte gedacht, dass das Ding so piksig ist”, sagt er. “Der Typ hat ihn mir professionell aufs Dach gebunden. Und ich kriege jetzt die Seile nicht durch.”

Henry hat etwas in der Hand, das wie eine einfache Küchenschere aussieht. Ich muss grinsen.

“Warte mal” sage ich. “Rühr dich nicht von der Stelle, fass nichts mehr an, versuche nichts mehr zu zerschneiden!” Erfahrungsgemäß muss man Henry alles dreimal sagen, wie einem Kindergartenkind. Sonst hat er sein Auto zerkratzt, bis ich mit einem vernünftigen Werkzeug wieder zurück bin und der Baum ist trotzdem noch eng mit seinem Dachgepäckträger verzurrt.

Nur wenige Minuten später bin ich mit meinem Werkzeugkasten zur Stelle und durchtrenne die Seile mit einem scharfen Cutter.

“Danke dir”, sagt Henry und rubbelt seine Stirn mit einem weißen, rüschenbestickten Taschentuch ab, wobei er die braunen Schlieren gekonnt verteilt.

“Ist deine Frau noch auf dem Zero-Waste-Trip?”, frage ich mit einem Kopfnicken in Richtung Taschentuch.

“Was? Ach das!” Er lässt das Tuch in seiner Hosentasche verschwinden. “Ja, total. Aber einen Weihnachtsbaum durfte ich zum Glück trotzdem kaufen.”

Ich schaue abwechselnd zu ihm und zu dem Tannenbaum, den er nun behutsam vom Autodach hievt und vor sich aufstellt. Der Baum überragt ihn locker um zwei Kopflängen.

“Ja”, sage ich vorsichtig. “Deswegen… also, dir ist es vielleicht noch nicht aufgefallen, aber Weihnachten ist erst in fünf Monaten.”

Er wirft mir einen Blick zu, bei dem sogar Bela Lugosi neidisch geworden wäre. Seine Augenbrauen ziehen sich dabei zusammen wie eine Raupe auf der Flucht.

“Ach!”, macht er, umfasst den Baum weit oben an der Spitze und zieht ihn in Richtung seines Hauses. Die unteren Äste drohen umzuknicken.

“Mann, Henry, warte!” Ich packe den Stamm und hebe ihn an, so dass er nicht mehr auf dem Boden schleift.

Henry flucht vor sich hin, während ich ihm stumm folge. Meine nackten Oberschenkel klatschen dabei bei jedem Schritt aneinander.

“Echt ätzend, das Geräusch”, sagt Henry, dreht sich um und guckt an mir herunter. “In deinem Alter solche Shorts. Du bist nicht vier Jahre alt!”

“Hast du schon mal aufs Thermometer geguckt?”

Er trägt seine Arbeitshose. Die müsste von Rechts wegen mit Schweiß durchtränkt sein. Sein kurzärmeliges Hemd sieht ebenfalls trocken aus. Wie macht er das nur? Ich habe schon beim Spüle schrubben ein paar Liter in mein T-Shirt gespült. Nach dem Tragen des Baums klebt mir sämtliche Kleidung direkt auf Haut und Körperhaar.

“Wie geht es denn Tanjas Mutter?” Ich habe sie schon ein paar Wochen nicht gesehen, was ich nicht unbedingt für ein gutes Zeichen halte. Sonst hat sie immer unter dem Apfelbaum gesessen, jeden Nachmittag, mit einem Buch in der Hand und einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf.

Sonne verträgt sie nicht mehr, hat Tanja mir erzählt. Nicht mal mit Lichtschutzfaktor Fünfzig.

“Kannste dir ja wohl denken”, brummt er und nickt in Richtung Weihnachtsbaum.

Nun. Ähm. Das kann ich mir denken?

“Na, der Arzt hat gesagt, bis Weihnachten schafft sie’s nicht mehr.”

Wir starren beide den Baum an.

“Ist nicht unbedingt so einfach, um diese Jahreszeit an einen Weihnachtsbaum zu kommen.” Henry kratzt seinen Unterarm mit der rechten Hand. Seine Haare sind immer noch voller Nadeln. Er scheint das zu merken und fängt an, sie vom Kopf zu zupfen. Ein paar erwischt er sogar, pflückt sie heraus und lässt sie auf den Boden fallen.

“Hilfst du mir noch, ihn ins Haus zu bringen und aufzustellen?”, fragt er. “Ich habe den Baumständer und den Fußbodenschutz schon im Wohnzimmer. Das Schmücken erledige ich dann am Mittag vorher. Wie immer. Ihr kommt doch auch? Wie jedes Jahr?”

 

***

 

Eine Stunde später stehe ich geduscht und mit frischer Kleidung im Türrahmen zum Arbeitszimmer meiner Frau. Sylvia bemerkt mich, schaut von der Tastatur zu mir, zieht die Brauen hoch. Dabei tippt sie weiter, kommt nicht einmal aus dem Takt.

“Das macht mich total wahnsinnig”, sage ich, nicht zum ersten Mal. “Du musst doch hingucken, was du tippst.”

“Ich kann das blind”, antwortet sie, ebenfalls nicht zum ersten Mal. Es ist, als würden wir ein altes Stück proben. Jeder liefert seine Textzeile, keiner lässt den anderen hängen.

Sie merkt aber offenbar, dass irgendetwas los ist, hört auf zu tippen, steht auf und kommt auf die andere Seite des Schreibtischs, so dass keine Barriere mehr zwischen uns ist.

“Wir sind eingeladen. Bei Henry und Tanja. Und natürlich Irmgard. Übermorgen Abend.”

Ich kratze mir den Kopf. Alleine dabei habe ich schon das Gefühl, dass sich neuer Schweiß in meinen Achseln bildet.

“Wir sollen möglichst in langen Sachen kommen. Vorher stundenlang fasten, es wird viel zu essen geben. Braten.” Ich mache eine Pause. Appetit auf Braten könnte gerade ferner nicht sein. “Und Weihnachtsgeschenke mitbringen. Adäquat verpackt.”

Sylvia starrt mich an. Wie zu erwarten war. Vermutlich habe ich es sogar absichtlich so erzählt, um diesen Blick zu ernten. Sie guckt, wie ich mich fühle.

“Weihnachtsgeschenke?”

“Ja, genau. Ich habe schon das passende Papier herausgesucht.”

Zimtkekse, Lebkuchen, dicke Kartoffeln und Weihnachtsbraten. Mir ist gerade mehr nach Wassereis, Schlafen im kühlen Keller und Eiswürfeln im Planschbecken. Die Kilos vom letzten Winter zwicken am Saum der Shorts und lassen mein T-Shirt spannen, das schon wieder an mehr als nur zwei Stellen nass wird.

“Weihnachtsgeschenke”, wiederholt Sylvia, diesmal nicht als Frage.

“Ja, genau.” Ich nicke, dabei sieht sie mich gar nicht an. “Wegen Irmgard. Natürlich.”

 

***

 

Es gibt dann tatsächlich Braten. Niemand kommentiert, dass es draußen noch hell ist und so bald auch nicht dunkel wird. Man hört einen Rasenmäher rumoren. Auch dazu sagt niemand etwas. Es ist, als hätten wir uns eine Dezemberinsel mitten im Juli gebaut.

Irmgard sagt nicht viel, beobachtet uns aber und isst mehr, als ich ihr noch zugetraut hätte. Sie ist inzwischen so dürr, dass sich ihr Herzschrittmacher als perfektes kleines Rechteck deutlich unter der Haut abzeichnet, die fast so dünn wirkt wie der Stoff ihrer weißen Bluse.

Nach dem Essen setze ich mich neben sie, nicht so sehr, weil ich mich unterhalten will, sondern eher, weil ihr Sessel am weitesten vom Kamin entfernt ist.

“Wenn ich jetzt sagte, es wäre mein schönstes Weihnachten gewesen, wäre das natürlich gelogen”, fängt sie an, in ihrer üblichen, sehr direkten Art, die ich immer zu schätzen wusste, wirklich immer. Doch in der zwickenden Cordhose und den fürchterlich langen Hemdsärmeln hätte ich nichts dagegen gehabt, dreist angelogen zu werden. Wenn Henry wenigstens den Kamin nicht angezündet hätte! Doch er meint, das gehöre sich so.

“Doch sie waren alle bei mir.”

Ich starre sie an. “Wer war bei dir?”

Wird sie etwa doch dement? Sie lacht, als hätte sie meine Gedanken erraten.

“Die anderen Weihnachtsfeste natürlich! Sogar die ganz frühen, als ich noch ans Christkind geglaubt habe und unter der Treppe auf der Lauer lag, ob ich es zu Gesicht bekomme. Oder später, das erste Weihnachten mit eigener Familie. Zuerst nur mit Tanjas ältestem Bruder. Und als wir mit Tanja endlich vollständig waren, einer ihrer Brüder versehentlich eine Christbaumkugel hat fallen lassen und sie gebrüllt hat, bis sie ganz rot im Gesicht war.”

Sie verstummt und schaut zu ihrer Tochter. Die unterhält sich mit Sylvia. Beide stecken die Köpfe so nah zusammen, als ob sie sich gleich die Kartoffelbreireste aus dem Gesicht lecken wollen.

“Wie viele es waren. So viele. Diese Erinnerungen. Die hätte ich nie so lebhaft vor mir sehen können. Ohne das hier.”

Sie breitet die Arme aus, zeigt auf den Baum, das Feuer und uns, die wir in langärmeligen und langbeinigen Klamotten stecken, offenbar bin ich immerhin der einzige, der sie schon komplett durchnässt hat. Von dem Geruch des brennenden Holzes vermischt mit Zimt und Bratenduft könnte mir fast übel werden, aber erstaunlicherweise ist es angenehm. Unpassend, aber angenehm.

“Ein paarmal im Laufe des Abends habe ich mir wirklich eingebildet, es wäre der 24. Dezember. Nicht der 24. Juli.”

Sie drückt meine Hand, ich genieße ihre herrliche Kühle. Auch wenn mich diese Kühle daran erinnert, was bald mit ihr passieren wird.

“Danke”, sagt sie und schaut mich an, als würde sie direkt in mein Herz blicken. “Einfach nur danke.”

 

Wir sehen sie danach nicht wieder. Sie verlässt das Haus nicht mehr. Bei ihrer Beerdigung ist es schon merklich abgekühlt. Als sich dann das tatsächliche Weihnachten nähert, kommt keine Einladung von Henry und Tanja. Ich sehe ihn auch keinen Weihnachtsbaum schleppen. Nicht einmal ihre Beleuchtung haben sie in diesem Jahr angebracht. Am heiligen Abend stelle ich fest, dass Sylvia nichts über die Feiertage sagt und mich auch nicht fragt, wann ich denn endlich einen Weihnachtsbaum besorgen will.

“Dieses Jahr fällt Weihnachten wohl aus?”, frage ich sie um drei Uhr am Nachmittag.

Sie guckt mich an, lächelt und erwidert: “Was, wieso? Nein. Dieses Jahr haben wir ja schon gefeiert.”

 

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