Von Thomas Gärtner

“Es war ein Irrtum”, sagte Friedemann Kragel.

Wir trauten unseren Ohren nicht. Da stand der Große Kragel und gab zu, dass er sich getäuscht hatte.

“Ja, das war ein Fehler”, sagte Kragel noch einmal.

Er wirkte ratlos, war gelähmt und verfiel von Sekunde zu Sekunde – das erschütternde Dokument eines steilen Niedergangs.

Dies alles war hässlich und peinlich, und bevor er noch weiterreden konnte, hatten wir uns bereits in alle Himmelsrichtungen zerstreut und ihn allein zurückgelassen. Wer steht schon gern neben einem schwächlichen Versager.

Und Kragel hatte versagt. Er war nicht mehr der “Große Kragel”, der sich auskannte und alles wusste. Er hatte sich, was niemand von uns für möglich gehalten hätte, schlicht und ergreifend als Niete entpuppt. Es war, wie gesagt, eine hässliche und peinliche Sache.

In den darauffolgenden Tagen versuchte Kragel, sich zu rechtfertigen. Er wollte erklären, Gründe nennen, Zusammenhänge aufzeigen; offenbar war ihm nicht klar, wie sehr wir unter seiner Anwesenheit litten. Eine ganze Weile lang überspielten wir taktvoll seine plumpen Umdeutungsversuche. Sagte Kragel etwas, so ließen wir uns nichts anmerken und taten einfach so, als habe Kragel nichts gesagt, ja, als sei er gar nicht anwesend! Er dankte es uns nicht, wurde immer wilder und ungehemmter in seinem Verlangen, akzeptiert oder zumindest wahrgenommen zu werden, obgleich er eigentlich wissen musste, dass seine Zeit vorbei war.

Insgeheim ahnte er das wohl auch. Seine Stimme bekam einen weinerlichen Tonfall, die Augen starrten glasig, seine Hände zitterten, und er begann zu stottern. Es war nicht zu fassen, dass dieses Wrack von einem Menschen einmal Kragel gewesen sein sollte.

Die Woche darauf hörte Kragel auf, in ganzen Sätzen zu sprechen. Er konnte sich jetzt nur noch fragmentarisch äußern, litt an mangelnder Bewegungskoordination, stolperte, rutschte aus, verhedderte sich und lief vor Wände und Türen. Auch versagte er häufig selbst bei ganz einfachen Dingen wie zum Beispiel: einkaufen und bezahlen, eine Schiebetür öffnen, eine Haferflockensuppe löffeln, jemandem in die Augen schauen, nach der Uhrzeit fragen.

Wir erkannten Kragel kaum noch. Er verblasste immer mehr, wurde abstrakter und seine Gesichtszüge verschwammen; die ganze Gestalt ging nach und nach ins Unwirkliche über. Irgendwann im Spätsommer verloren wir ihn dann aus den Augen.

Seitdem ist Kragel nicht mehr aufgetaucht. Nur von Zeit zu Zeit, weit draußen vor der Stadt, haben wir gelegentlich seinen Schatten über die Felder huschen sehen, wenn wir zum Schwimmen an den Waldsee gefahren sind.