Von Kornelia Wulf

Noch höre ich den Klang seiner Sohlen, noch das Klackern der Absätze auf den Treppenhausstufen, die Arme verschränkt vor meinem Leib, als versuchten sie die Erinnerung festzuhalten, an seine Berührung, die noch tief kribbelt unter der Haut.

Dicht an dicht standen wir vor der Wohnungstür. Jede Pore meines Körpers schrie nach ihm.

„Warum lässt du mich wieder nicht rein?“

Sein feuchter Atem streifte mein Ohr, bevor er – die Fäuste um meine Schultern geballt – mich weit weg von sich schob.

„Wie bitte – ein Wasserschaden? Überall wächst Schimmel an der Wand? Oh Mann!“ Mats rollte die Augen. „Letzte Woche wars die alte Tante, die schon seit Tagen dein Zimmer belagert. Ey sorry, ich muss auf der Wohnzimmercouch schlafen“, äffte er mich nach. „Und – was ist es das nächste Mal? Vielleicht eine Leiche eingerollt im Flurläufer, über die ich beim Hereinkommen stolpere?“ 

Aus seinem Blick schienen Zornesdornen zu wachsen. 

„Ich bin es leid, deine albernen Lügen zu hören.“ 

Und ich sah, wie sein Gesicht sich im Schmerz verzerrte, als er mir den Rücken zukehrte. 

Schnell, lauf ihm nach! drängt die innere Stimme in mir. Du darfst ihn nicht verlieren. Sei endlich still, zische ich. 

Das Schlüsselbund aus der Tasche gezogen, öffne ich die Wohnungstür.

Mats hat Recht, nicke ich, als ich den Läufer im Flur betretend mich wieder schrumpfen fühle, wie die kleine Alice, die sich schon lange über nichts mehr wundert und sehe mich hier mit dem Ranzen stehen. 

Ich hefte die Augen auf Mamas Rücken. Gerade hat sie die Fransen in die Hand genommen, den Brückenrand hoch zur Schulter gezogen und alles unter die gummierte Fläche geschoben. Den ganzen Dreck, den sie aus allen Ecken kehrte. Ihre Haut scheint sich dann in Schuppen zu verwandeln, nicht schillernd, glänzend, nein, in gräulich-braune. Wie der Teppich-Krokodilsfisch in meinem Tierbuch, den ich nie finde, wenn ich ihn suche. 

Mit ernster Miene drehte sie sich stets um.

„Kind, denk immer dran. Alles bleibt bei uns.“

Noch klingt ihr Appell in meinem Ohr, der mich bis in die Schule verfolgte.

Ich stopfe die Erinnerung in eine Nische, tauche ein in den Geruch, während ich sie in der Wohnung suche. Im Schlafzimmer trifft mein Blick auf zerwühlte Bettwäsche, in der ich verdächtige Flecken entdecke. Daneben einen Berg getragene Kleidung, die man nur mit Schutzhandschuhen anfassen mag.

Na bravo, seufze ich, morgen heißt es wieder Großwaschtag.

Der Dunst im Flur dominiert nun die Luft. Beißt bitter und scharf in meine Nase, als ich sie drei Schnaufer weiter im Wohnzimmer aufspüre. Schwer liegt ihr Körper auf der Couch, der Atem in lautem Schnarchen verfangen, als sei er wie ein Klotz auf das Polster gefallen. Fettige Strähnen rahmen die Wangen, teilen sich auf der rötlich gedunsenen Fläche. Ihr Arm hängt über der Sofakante, die Finger gekrümmt, als versuchten sie, nach dem Glas auf dem Boden zu greifen. Wohl aus der zitternden Hand gerutscht, noch vor dem finalen Gnadenschluck. Ebenfalls die Flasche, bäuchlings in einer klebrig-bräunlichen Lache, aus der eine Wolke aufsteigt, gegen die meine Nase sich nicht wehren kann.

Eigentlich seltsam, denke ich, nach so vielen Jahren. 

Gottseidank ist nichts aus ihrem Mund gefallen. Wie schon so oft, auch damals in unseren Kindertagen.

Ida schleppt die Waschschüssel zum Wohnzimmertisch. „Los, hol den Feudel! Mama ist wieder ein Malheur passiert.“ Zähneknirschend laufe ich in die Küche. Blöde Ida! die Wut scheint zu knabbern an meinem Hirn. Immer muss meine große Schwester mich kommandieren. 

Bevor wir aufwischten, musste ich kichern. Ganz nah kam die weiße Fingerspitze – wie das kitzelte! –  einen Klecks Nivea unter das Nasenloch tupfend. Das hatte Ida bei Dexter entdeckt. Nachts, im Fernseher, vor dem sie mit Chips und Cola hockte, wenn Mama sich mit Mr. Doornkaat im Bett versteckte, oder einem ihrer anderen Geliebten wälzte, die sich allesamt als Flaschen erwiesen. 

Noch bummert in mir Idas Stimme. Grob weckte die mich an den trüben Morgen, an denen Mama sich ihre Wunden leckte. Oft klebte ein Stück Chips in Idas Mundecke. 

„Los, beeil dich, wir haben verschlafen.“ 

Der dürre Körper in eine Schürze gewickelt, wirbelte sie durch die Küche. Goss mit gähnenden Augen Milch über die Frühstücksflocken.

Wenn ich den Ranzen auf meinen Rücken schnallte, schien auf Idas Kopf ein Papagei zu flattern.

„Denk immer dran. Alles bleibt bei uns.“

Ein schmatzendes Geräusch schreckt mich aus den Gedanken. Mutter fährt ihre Zunge aus. Und ich sehe, wie die Spitze langsam kreisend die Lippen von trockenen Bröseln befreit. Neben dem Mund. Ein Speichelfaden. Rinnt an ihrem Kinn entlang. 

Ein schmerzhafter Schub in meinen Gliedern. Muskeln und Sehnen dehnen sich aus, als wüchse ich über mich selbst hinaus. Und ich sehe das magere Häufchen da liegen. Zähl ihre Rippen, die sich durch die Flecken des Hemdchens drücken. Möchte sie tragen auf Gulliverarmen, möchte sie wiegen – vielleicht nur mental, und frage mich, wie lange man leben kann nur gesättigt von flüssiger Nahrung.

Früher konnte sie nicht genug von der Festen kriegen.

Und mein Blick wandert weiter zum Kinderzimmer, in dem ich gemeinsam mit Ida gewohnt hatte, tastet sich durch die geöffnete Tür. Rechts in der Ecke, die Miniaturküche. Mit Backofen, Herd. Volleingerichtet.

Ich rühre in der Nudelsuppe. Die mit den Buchstaben liebt meine Puppe. Ich spüre Mamas Lächeln auf meinem Rücken. Komm, sagt sie, lass uns Pudding kochen. Vanille mit Himbeeren, im großen Topf. In der Küche darf ich den Löffel ablecken. Als meine Zunge das Holz berührt, versinkt Mamas Hand in der Schüssel und stopft ihren Mund voll mit Früchten, bis roter Speichel über die Lippen quillt und hinab zu Kinngrübchen rinnt. Unvergorener Saft, süß und rein, den auch ein Kind trinken darf.

Wie oft habe ich mich an ihr festgeklammert. An dieser Mutter, die uns schwor, jetzt werde alles anders. Bis die Farbe der Hoffnung in mir verblasste. Wie eine Fata Morgana. Die löst sich auf, wenn man an sie glaubt.

Neben dem Herd. Mein kleiner Eisdrache. Es friert mich beim Blick in die Gletscheraugen. Ein Geschenk von Ulli, der bei uns wohnte. Viel länger als mein Kinderhirn denken konnte. Die Augen verborgen unter nervös flatternden Lidern, hatte er ihn mir in die Hand gedrückt. 

„Der will jetzt bei meinem Frostbeulchen wohnen.“ 

Ein letzter Versuch, mich mit Worten zu streicheln, bevor er sich mit der Neuen in die Kreisstadt absetzte, nur ein paar Kilometer entfernt von uns. Für mich so weit weg wie die Arktis meiner Welt. 

Drei Tage hatte Mutter sich im Bett verkrochen, all ihre Geliebten mitgenommen. Sie völlig ausgesaugt. Bis zum letzten Tropfen. Ida und ich hatten sie in den Container geworfen. Heimlich, in der Nacht, als wir nicht schlafen konnten.

Fest umfasst meine Hand die Klinke, will endlich die Tür der Erinnerung schließen, als ich ihn hoch oben auf dem Schrank entdecke. Den alten Schuhkarton. Gefüllt mit den Schmetterlingskerzen für die Tortendekoration. 

Und ich sehe mich am Geburtstagstisch sitzen. Neben mir Carmen, gegenüber Biggi, die gerade schwatzte mit den anderen Kindern.

Bitte, bitte, bitte, du hast es versprochen. 

Noch klimperte mein Hirn auf den weißen Tasten des Klaviers. 

Und noch wackelt Mama nur ein wenig, als sie sich über den Kuchen beugt, das Zündholz über die raue Fläche streift, laut krächzend Happy Birthday kreischt. 

Dann zitterte die Hand. Sie ließ es einfach fallen. Auf der Serviette tanzten Flammen. Ida riss ihn an den Blüten aus der Vase heraus, meinen Geburtstagsstrauß und schüttete das Wasser auf dem Feuer aus.

Los, die Löschdecke liegt im Vorratsschrank! 

Wieder große Schwester schrie sie mich an.

Und erstickte meine Torte, die nach rauchenden Resten stank. 

Warum sollte ich nicht den Flurläufer holen, hatte sich mein Kinderhirn damals gefragt, der ist an üble Gerüche gewohnt. 

Als die Mütter die schreienden Kinder abholten, haben sie ihnen den Umgang mit uns verboten.

Nur die Carmen hatte sich verweigert. Stets ist sie an meiner Seite geblieben. Hat sich ganz dicht an mich gedrückt, wenn die in der Schule gegen mich Hetze betrieben. 

Letzte Woche ist sie von zuhause fortgezogen. In ihre erste, eigene Wohnung. 

„Komm mit mir“, hat sie gesagt, „du darfst nicht bleiben. Sie brennt dich aus. Hör endlich auf, dich aufzureiben.“

Auch Ida lebt jetzt an einem anderen Ort. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht.  

„Du musst da raus. Sofort!“ Tag für Tag bohrten ihre Worte sich in meine Ohren. „So viele Jahre haben wir schon verloren. Jetzt wird’s Zeit an dich selbst zu denken. Und an den Mats. Oder soll es so enden wie mit Lars und dem Max?“

Und mein Blick streift an der Couch entlang. Fällt auf die Decke, zusammengeknüllt am Sofarand. Ich schüttele sie aus, hülle Haut und Knochen in wärmenden Flausch. Bald wird sie die Kälte der Ernüchterung spüren, wenn sie erwacht von ihrem Rausch.

Langsam schreite ich über den Läufer. Nehme die Fransen in beide Hände und rolle den Teppich des Schweigens auf. Eine Wolke aus Flocken wirbelt im Raum. Ich zupfe Staubfusel von Haar und Haut, die an mir kleben fest wie Spinnfäden. Weit öffne ich die Wohnungstür, fühle die Schwelle unter den Füßen. Ein seltsames Kitzeln in meiner Faust. Die Finger gespreizt strecke ich die Handfläche, auf der eine kleine Wollmaus tanzt. 

Mein Atem trägt sie hinaus. Über die Schwelle ins Treppenhaus.

 

V3 9290 Z.