Von Christian Günther
»Mehmet, Bruder, bleib hier!«
Er hatte Solingen im Mai ‘93 miterlebt als Jugendlicher. Nun, Anfang Mai 2025, sah er das Haus, in dem er mit seiner eigenen Familie wohnte, in Flammen. Seine Frau und sein etwa zehnjähriger Sohn, sie standen im zweiten Stock am Fenster, winkten und schrien in Panik. Das Feuer war schon in der Wohnung, es loderte sichtbar in den Räumen. Rauch stieg über ihren Köpfen hinaus in den Nachthimmel.
»Ich muss hin, Bruder«, erwiderte er keuchend und wollte sich von mir losreißen.
Seine Familie, sie waren die Letzten in dem Gebäude. Ich stand davor mit ihm, meinem Kumpel, der 1993 nach Werden gezogen war. Weg von dem Ort des Terrors in Solingen. Wir waren über Jahre Schulfreunde und hatten uns danach aus den Augen verloren.
Ich war kurz vor ihm zusammen mit meiner Kripo-Partnerin Judith hier vor Ort in Rüttenscheid eingetroffen durch den Notruf in der Einsatzzentrale. Nun hielt ich ihn zurück, damit er nicht in das brennende Haus hineinrannte. Er war von einem Nachbarn telefonisch über den Brand informiert worden.
»Rettung ist auf dem Weg«, beruhigte ich ihn.
Wir waren nicht allein. Die ganze Straße voller Einsatzfahrzeuge. Ein riesiges Aufgebot an Feuerwehr, Rettung und Polizei. Menschen aus dem Haus mit geröteten Gesichtern, gebrochenen Extremitäten und teils heftig hustend, sowie viele Unbeteiligte, die von Judith hinter die Absperrung gedrängt wurden. Der Korb des Leiterwagens nahm Kurs auf das Fenster mit Mutter und Sohn.
»Warum geht das nicht schneller, Nick?«, schrie Mehmet mich an.
Als der Notruf bei den Kollegen in der Zentrale hereinkam, waren zunächst unbekannte Personen mit Taschenlampen im Hausflur gemeldet worden. Ein Einbruchsversuch? Klare Order in solch einem Falle: nicht in Gefahr begeben, drinnen bleiben! Bereits bei der Anfahrt entwickelte sich das vorsätzlich herbeigeführte Inferno, der Einsatz weitete sich aus. Der einzige reguläre Fluchtweg für die Betroffenen blockiert. So waren nicht nur im Parterre geöffnete Fenster zu sehen.
»Ein paar Sekunden noch, Mehmet.«
Nur mit Mühe konnte ich ihn zurückhalten. Gut ein Viertel der Bevölkerung würde laut Umfrage gesichert Rechten die Stimme geben. In was für Zeiten lebten wir? Wie konnte die Situation hier derart eskalieren? Würden wir die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen können?
»Endlich!« Mehmet atmete auf. Seine Angehörigen waren im Korb. Gleich würde er sie in die Arme schließen können. Entkommen aus der Feuerhölle!
In der Schule hatten sich Mehmet und ich schnell angefreundet. Zu der Zeit kam das Lied Brüder von Rainhard Fendrich heraus. Wir fanden den Song damals beide cool, bezeichneten uns daher fortan als solche.
Der Korb senkte sich zur Straße. Mutter und Sohn waren nur mit dem Notwendigsten bekleidet, er drückte ganz feste einen Teddybären. Der war das Einzige, das ihm von den Spielzeugen bleiben würde.
Herr Hirsch, der Zugführer, kam zu mir.
»Wie ist die Lage?«, erkundigte ich mich.
»Zehn Verletzte«, seufzte er, »und ein Todesopfer, leider. Ein Herr ist aus dem zweiten Stock gesprungen, bevor wir zu ihm kommen konnten. Die Dame aus dem Ersten rechts hat sich beide Beine gebrochen. Ihre beiden kleinen Kinder wurden von einem Nachbarn gefangen. Familie im Ersten links in Urlaub. Aus EG weitere Brüche, Wunden, Schocks und Rauchgasintox. Das Treppenhaus brennt lichterloh. Vorsätzlich gelegt, auf natürlichem Weg entsteht solch ein Inferno nicht.«
*
Weit nach Mitternacht schloss Judith unsere Wohnungstür auf.
»Tritt ein, Bruder«, bat ich Mehmet. »Wir haben genug Platz. Ab morgen stellt die Stadt Essen eine Notunterkunft zur Verfügung.«
Seine Familie blieb über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus.
Meine Partnerin legte ihr Handy mitsamt angeschlossenem Kopfhörer auf den Dielenschrank. »Hab Euer Lied auf der Fahrt gehört.«
»Kannten Sie es bisher nicht?«, wollte Mehmet wissen.
»Ist eher Nicks Musikrichtung, weniger meine. Aber da hab ich echt was verpasst, toller Song! Hätte ihn nur gerne unter erfreulicheren Umständen kennengelernt. Die Textzeile mit den beiden Namen Mehmet und Rainhard: Wegen dieses Namensunterschieds hätten Häuser schon gebrannt. Schockierend, diese Aktualität!«
»Wie Mehmet in dem Lied kam ich im Alter von zwei her. Und Brüder bleiben Brüder, richtig, Nick?«
»Brüder sind wir, Brüder bleiben wir, wie in dem Lied.« Ich schnappte mir Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf den Küchentisch, die Judith umgehend mit Wasser füllte. »Mir will die Zeile mit dem ,Gestern treffen‘ gerade nicht aus dem Kopf gehen«, meinte ich und setzte mich auf einen der Stühle. Judith nahm gegenüber Platz, Mehmet in unsrer Mitte. »Wenn ich mir die nächste Stadt vor Augen halte«, fuhr ich fort, »bei der Wahl zum Bundestag, der blaue Punkt gleich nebenan.«
»Ich könnt kotzen«, stimmte Judith zu. »Die als Sieger in Jelsenkirschen, dazu Kaiserslautern und der Osten nahezu komplett. Merken die nicht, was die da Dummes tun? Entschuldigen Sie, Mehmet, ich wollte nicht von Ihrer Situation ablenken. Sie haben vieles verloren heute, nur das Allerwichtigste ist Ihnen geblieben.«
»Wie konnte das so eskalieren?«, fragte ich.
Mehmet trank sein Glas aus, bevor er mit leiser Stimme zu erzählen begann. »Mit Sergej, der leider verstorben ist, fing das an. Er war so ein netter Mensch, hat öfter auf die Kinder seiner Nachbarin aus der Ukraine aufgepasst. Den Angriffskrieg seines Landes hat er immer abgelehnt. Einmal standen ihm die Jugendlichen im Weg und er hat sie höflich gebeten, ob sie ihn durchlassen. Sie haben ihn gefragt, was er hier will, und ob er Kriegsdienstverweigerer wär. ‚Deutschland den Deutschen‘, das haben sie gerufen. Sie fanden heraus, wo er wohnt und mit wem er da wohnt. Er hat sie ignoriert, wollte ihnen keinen Anlass geben. Wir nähmen ihnen alles weg, von den Werten über Arbeit bis hin zur Wohnung. Natürlich haben sie uns immer nur angesprochen, wenn wir alleine waren.«
»Wie hat sich das bei Dir und den anderen geäußert?«
»Warum ich hier leben würde. Ich käme doch aus einem Land mit einem guten Führer, meinten sie. Dabei kann ich diesen Typen gar nicht leiden, schätze unsere Werte hier. Den syrischen Arzt fragten sie, ob er mit seinen Kenntnissen der Medizin hier überhaupt helfen könnte. Die beiden Italiener, die verheiratet sind und gerade Urlaub machen … die Worte möchte ich gar nicht wiederholen.«
»Wobei die Kanzlerkandidatin zum eigenen Familienbild der Partei gar nicht passt«, merkte Judith an.
»Sie hat das einmal versucht zu erklären, warum das doch passt«, widersprach ich. »Allerdings hab ich es nicht verstanden, muss ich gestehen.«
»Damit bist Du nicht allein.« Sie sah wieder zu Mehmet. »Was macht das mit Ihnen, wenn Sie solch Dinge über sich oder Ihre Nachbarn hören?«
Er lehnte sich zurück und atmete einmal kräftig aus. »Es tut weh und macht mir Sorge. Ich kann mir deren Meinungen nicht erklären, wie sie darauf kommen, so weltfremd und dass das nur mit der Herkunft zu tun hat. So als seien wir wegen unserer Wurzeln schlechte Menschen und wären von allen nicht erwünscht. So Zeiten gab es schon einmal, die müssen nicht unbedingt wiederkommen. Ihr habt recht, wenn Ihr sagt, die Zustimmung für die Partei ist besorgniserregend. Andererseits: Dreiviertel positionieren sich dagegen. Noch! Ich kann nur hoffen, dass die aktuelle Regierung abliefert. Denn wenn nicht, dann …« Er stockte.
»Dann werden sie noch stärker, die Rechten«, vervollständigte ich, »und dann droht hier noch mehr Spaltung.«
»Es gibt so viele Menschen, mit denen ich mich gut verstehe. Die mich respektieren und ich sie, die mir die Kraft geben, an das Gute zu glauben. Trotzdem: Solch negative Erfahrungen gehen tiefer. Wirken stärker als hundert Positive. Das Frustrierende ist, ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Ich mache im Grunde nichts falsch. Die Sprache habe ich gelernt und Regeln akzeptiere ich. Ich liege niemandem auf der Tasche. Meine Frau zähle ich nicht zum schwachen Geschlecht. Wie Alkohol schmeckt, ist mir bekannt. Ich möchte einfach bloß Frieden, aber das ist leider ein frommer Wunsch.« Seine Augen begannen zu glänzen. »An das letzte Mittel, zu dem sie griffen, möchte ich gar nicht denken. Sie haben mir meine ganze Habe genommen, setzten unsere Leben aufs Spiel dafür. Der Anblick meiner Allerliebsten in dem brennenden Haus wird mich immer verfolgen.«
Es gibt Momente, in denen fehlen die Worte.
»Sagen dürft Ihr zu den Ermittlungen sicher nichts?«, forschte Mehmet.
Judith schüttelte den Kopf. »Leider dürfen wir Ihnen da nichts zu sagen.«
»Warum siezt Ihr Euch nach wie vor?«, wollte ich wissen. »Eine Schwester wäre doch ebenso toll, oder nicht, Bruder?«
»Nun«, er sah zu Judith, »ich hab ehrlich Respekt vor Ihrem gewählten Beruf und wie Sie Stellung beziehen.«
»Das wird sich beim Duzen nicht ändern«, war meine Partnerin sicher. »Es ist noch sehr frisch, das, was vorgefallen ist. Ihr seid aus Solingen weggezogen, damals. Was wird jetzt kommen? Bleibt Ihr in Essen?«
»Passieren kann das überall, leider«, meinte Mehmet. »Nur eins ist sicher: Ich werde nicht in die USA auswandern. Die sind dort leider schon weiter als wir in Deutschland. Wenn Leute jemand wählen, der im Grunde gegen sie ist.«
»Ein unerklärliches Phänomen. Aber guck Dich um, solch Typen, diese narzisstischen Kriegstreiber oder bei uns der Erfolg dieser Partei. Nur große Worte und Parolen, und nix dahinter, keine Substanz. Zivilisiert, manche kennen dieses Wort schon lange nicht mehr.«
»In den Neunzigern gab es Lichterketten zur moralischen Unterstützung«, erinnerte Mehmet und schluckte. »Wichtig, jedoch: Was auf meine Familie und mich jetzt alles zukommt? Wir müssen ganz von vorn starten.«
»Wir werden unseren Bruder damit nicht allein lassen«, versprach ich, »und wir sind bestimmt nicht die Einzigen. Ich bin übrigens mit ‘ner Expertin verheiratet, die et kennt, sich aus ‘em größten Tief herauszukämpfen.«
»… und ich bin mit ‘nem Experten verheiratet, der weiß, wat aufrichtige Unterstützung bedeutet«, ergänzte Judith, hob beide Hände und richtete sie zu Mehmet und mir aus. »Gebongt? Dann schlagt ein, Ihr Brüder!«
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Link zum Lied (Originalversion) : https://www.youtube.com/watch?v=IEIywNMwKG4&pp=0gcJCdgAo7VqN5tD