Von Irmi Feldman
Der Applaus ist ohrenbetäubend wie immer. Ich verbeuge mich. Hierhin und dorthin. Lächle mein Lächeln. Strecke meine Arme aus. Bin hingerissen. Reglos verharre ich, bis der Applaus verebbt. Es dauert … lange.
Ich öffne die Augen. Schaue mich um. Wo bin ich?
Eine Frau ganz in Weiß reicht mir etwas. Blumen? Nein. Es sind meine Schuhe. Die Eleganten. Die mit den etwas höheren Absätzen. Im Spiegel sehe ich, dass ich mein gutes Kleid trage; das mit den Plissee-Falten und dem delikaten Unterrock.
„Ist heute mein Geburtstag?“, frage ich.
„Nein, Frau Heuer. Heute ist die Auszeichnung.“
„Was für eine Auszeichnung?“
Es klopft an die Tür. Ein Mann tritt ein.
„Fertig, Frau Heuer?“, fragt er und lächelt mich an.
Sie führen mich aus dem Zimmer. Wo bringen die mich hin?
Die Frau in Weiß beugt sich zu mir herunter.
„Das wird Ihnen gefallen, Frau Heuer.“
Woher kennt die meinen Namen? Was will die von mir?
„Wir müssen uns beeilen“, sagt der Mann. „Die Auszeichnung fängt bald an.“
Wovon redet dieser Mann?
Jetzt führen die mich durch die Eingangstür. Ich dreh mich herum. Seniorenheim Hallinger steht über dem Eingang.
Der Mann hilft mir ins Auto, drückt sanft meine Schulter nach unten, damit ich mir nicht den Kopf am Autodach anstoße.
„Viel Spaß, Frau Heuer!“ ruft die Frau in Weiß und winkt mir zu.
Bevor ich etwas sagen kann, fährt der Mann los. Ich schaue zurück. Schwester Gerti. Das ist Schwester Gerti. Jetzt erinnere ich mich.
„Wohin bringen Sie mich?“, frage ich den Mann.
„Zur Auszeichnung!“, sagt er. „Sie werden für ihr Filmwerk ausgezeichnet.“
Wovon redet der nur? Weil ich das nicht weiß, denke ich wieder an Karlheinz Beck. Ach, der Karlheinz Beck. Meine Güte, war der in mich verliebt.
„Wissen Sie“, sage ich zu dem Mann. „Der Karlheinz Beck war der Liebling der Frauen. Einmal, bei den Dreharbeiten zu dem Film… zu dem Film… also bei den Dreharbeiten haben sich zwei Statistinnen um seine Gunst gestritten. Der Karlheinz Beck hat nur gelacht, und gesagt, aber meine Damen, ich liebe Sie alle. Am meisten aber liebe ich die Henny Heuer. Die hat was los. Das hat er wirklich gesagt. Die hat was los. Der Karlheinz Beck. Das hat der gesagt.“
Der Chauffeur nickt beiläufig. Kennt er diese Geschichte schon?
„Wohin bringen Sie mich?“
„Zur Auszeichnung!“
„Was denn für eine Auszeichnung?“, rufe ich ärgerlich.
„Sie werden für ihre Filme ausgezeichnet.“
„Filme“, wiederhole ich langsam. Filme. Etwas in mir erwacht. Plötzlich fällt mir wieder alles ein. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich. So klar konnte ich lange nicht mehr denken. Die Auszeichnung. Natürlich. Ich habe die Einladung gesehen. Wie lange ist das jetzt her? Der Umschlag war unter meiner Tür hindurchgeschoben worden. Auf blauem Kartonpapier stand in schnörkeliger Schrift sowas wie: Einladung. Auszeichnung. Filmwerk. Henny Heuer. Hans Alberts. Lena Waller.
Meine sorgsam gehütete Welt zerbröselt. Wie ein Trockenkeks unterm Hammer. Stürzt ein wie ein Kartenhaus. Setzt Gedanken, Gefühle, Gewissensbisse frei, die ich seit 35 Jahren verdränge. Ich schließe die Augen. Ich will sie nicht sehen. Ich kann sie nicht sehen. Und doch ist sie da, weil sie immer da ist. Immer da war.
Claire Lamont. Meine beste Freundin. Unzertrennlich waren wir. Das war ungewöhnlich im Filmgewerbe. Doch mit Claire war es anders. Wir verstanden uns von Anfang an. Filme machen während des Krieges war nicht einfach. Es war das Jahr 1943. Wir drehten viele dieser Durchhaltefilme. Das Publikum liebte uns. So übersah man, dass wir nicht in die Partei eintraten, sondern mehr oder weniger unparteiisch blieben.
Eines Abends, nach ein paar Gläsern Champagner, hatte mir Claire anvertraut, dass sie Halb-Jüdin sei. Niemand wusste das. Ihre Mutter war Jüdin, bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater war Deutscher, wusste aber nichts von ihrem Dasein. Claire war ein uneheliches Kind. Sie war von Freunden ihrer Mutter, Nicht-Juden, als deutsches Kind aufgezogen worden. Vor ein paar Jahren waren die Ersatzeltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Dann kam das Filmprojekt Karlotta. Meine Karlotta. Endlich. Darauf hatte ich jahrelang gewartet. Ich hatte mich in dieses Drehbuch verliebt. Ich dachte, fühlte, lebte wie Karlotta. Jede Faser in mir war Karlotta. Es war meine Rolle, für mich geschaffen, für mich allein. Niemand würde sie mir wegnehmen. Niemand. Doch der Produzent, der Regisseur, der Kameramann, einfach alle, wollten Claire. Warum Claire? Warum nicht mich? Ich war doch Karlotta. Konnte das denn keiner sehen?
Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er war in der Partei. Das wusste ich, auch schon damals. Ich wusste es und trotzdem erzählte ich ihm von Claire. Kurz darauf wurde sie von der Gestapo verhaftet. Ein jüdischer Bastard konnte keine standhafte, deutsche Schauspielerin sein, hieß es in der Presse.
Und ich bekam die Rolle. Endlich. Doch der Film war von Anfang an verflucht. Claire ließ mir keine Ruhe. Überall sah ich sie. In meinen Träumen. Am Filmset. Auf der Straße. Im Restaurant. Und dann kam die Filmpremiere. Der Applaus war spärlich. Die Begeisterung gedämpft. Die Stimmung gedrückt.
Beim Galaempfang trat ein Mann auf mich zu. Ich kannte ihn. Es war Claires Freund, der nichts mit der Filmbranche zu tun hatte.
Er erzählte mir, dass Claire im KZ war. Jemand habe sie an die Gestapo verraten.
„Weiß man denn, wer sie verraten hat?“, fragte ich atemlos.
„Aber liebes Fräulein Heuer“, rief der Mann aus, so laut, dass die Umstehenden es hören konnten. „Sie, natürlich! Das waren Sie. Sie haben Claire verraten!“
Das Champagner-Glas fiel mir aus der Hand. Hilflos schüttelte ich den Kopf. Schaute mich um. Suchte nach Unterstützung. Von meinen Freunden. Von den Kollegen. Vom Publikum, das mich doch so liebte. Alle zogen den Kopf ein. Blindlings und beschämt stolperte ich hinaus. Ich war verwirrt. Konnte nicht denken. Akuter Nervenzusammenbruch hieß später die Diagnose. Es war das Ende meiner Karriere.
Lautes Hupen bringt mich wieder in die Gegenwart zurück.
Schon hält das Auto. Der Mann läuft um den Wagen herum, öffnet die Autotür und hilft mir behutsam heraus.
Eine junge Frau im eleganten blauen Kostüm tritt auf mich zu.
„Gnädige Frau!“, ruft sie. „Was für eine Ehre! Mein Name ist Edith Müller. Ich werde Sie hineinbegleiten.“
Kameras umschwirren uns. Wir gehen durch eine Halle. Überall hängen Kinoplakate.
Man zieht mich nach vorne. Hans Alberts und Lena Waller sitzen schon. Sie platzieren mich daneben.
Filmausschnitte werden gezeigt. Danach fangen die Reden an. Endlose Reden. Ich muss auf die Toilette. Wovon reden die denn? Ich verstehe kein Wort. Wieso dauert das so lange?
In der Pause bleibe ich auf meinem Stuhl sitzen. Ich traue mich nicht weg. Habe Angst, dass ich mich verlaufe. Auch, dass ich mit den Schuhen stolpere. Der Absatz ist zu hoch. Wer hat mir nur diese Schuhe angezogen?
Aber ich muss doch auf die Toilette. Wo ist denn nur die Frau mit dem blauen Kostüm? Hilflos schaue ich mich um. Endlich sieht sie mich und eilt auf mich zu. Sie bringt mich zur Toilette. Dort geht alles schief. Das Kleid hat zu viele Falten. Der Toilettensitz ist zu niedrig. Der Unterrock ist im Weg. Da passiert das Malheur.
Ob sie helfen könne, fragt die Frau von draußen.
„Nein!“, rufe ich. „Nein! Um Gottes Willen! Ich bin gleich fertig.“
Aber ich bin nicht fertig. Ich kämpfe immer noch mit der Kleidung. Der weite Rock vom Kleid ist verrutscht. Der Unterrock ist gerissen. Wer hat mir dieses Kleid angezogen? Schwester Gerti. Im Heim. Jetzt weiß ich es wieder. Die hat mir das angetan. Das ist alles ihre Schuld.
Endlich bin ich fertig. Die Frau bringt mich zurück zu meinem Platz. Dann geht es an die Preisverleihung. Sie überreichen uns die Statuen. Hans Alberts und Lena Waller bedanken sich herzlich und geben Reden, die ich nicht verstehe.
Ich bedanke mich auch, als sie mir die Statue in die Hand drücken. Lächle in die Kamera. Verbeuge mich. Das kann ich. Tausendmal gemacht. Dann verstummt der Applaus. Die Leute warten. Auf was? Auf eine Rede? Von mir? Aber mir fällt Nichts ein. Gar nichts.
Ich schließe die Augen und denke an Karlheinz Beck.
„Wissen Sie“, sage ich, „der Karlheinz Beck war der Liebling der Frauen. Einmal, bei den Dreharbeiten zu dem Film, zu dem Film …. also, bei den Dreharbeiten haben sich zwei Statistinnen um seine Gunst gestritten. Der Karlheinz Beck hat nur gelacht, und gesagt, aber meine Damen, ich liebe Sie alle. Aber am meisten liebe ich die Henny Heuer. Die hat was los. Das hat er wirklich gesagt. Die hat was los. Der Karlheinz Beck.“
Die Leute lachen. Begeisterter Applaus folgt. Ich verbeuge mich wieder. Strecke meine Arme aus. Es ist wie früher. Das Publikum liebt mich noch immer.
Ein älterer Herr bahnt sich einen Weg durch die Menge. Er kommt auf mich zu. Ist das? Nein! Das kann er nicht sein? Oder doch? Ist er es wirklich? Mein Herz klopft zum Zerspringen.
Ich strahle ihn an. Beim Näherkommen sehe ich, dass es nicht Karlheinz Beck ist. Doch ich kenne diesen Mann. Von irgendwo her. Von ganz weit weg. Von früher.
Hasserfüllt blickt er mich an. Mein Lächeln erstarrt.
„Claire ist 1944 in Ausschwitz vergast worden“, sagt er laut.
Ich schüttele den Kopf. Nein. Nein. Das passt doch nicht. Das ist alles falsch. Der Applaus. Das Publikum. Es liebt mich doch. Wovon spricht denn dieser Mann?
„Der Karlheinz Beck“, beginne ich. „Der Liebling der Frauen…“
„Sie haben Claire auf dem Gewissen, Frau Heuer.“
„Also zwei Statistinnen…“
„Sie haben Claire umgebracht.“
„Bei den Dreharbeiten zu dem Film…“
Weiter komme ich nicht, weil die Frau im blauen Kostüm mich wegzieht.
Sie bringt mich zum Wagen. Zurück im Seniorenheim erwartet mich die Frau in Weiß. Das ist Schwester Gerti. Jetzt weiß ich es wieder.
„Wie war die Auszeichnung, Frau Heuer?“
„Sie haben mir das falsche Kleid angezogen“, rufe ich wütend. „Und dann musste ich auf die Toilette.“
„Das tut mir leid“, sagt Schwester Gerti. „Wie war denn nun die Auszeichnung?“
„Was für eine Auszeichnung?“
Irmi Feldman, 2025, v2; 9978z