Von Simone Tröger
Die dunklen dicken Wolken lassen vermuten, was gleich hier abgehen wird. Wie trotzige Fünfjährige scheinen sie der Sonne zu sagen, dass sie sie nicht mehr in ihrer Mitte haben wollen.
Heute Morgen sind sie noch Schäfchenwolken gewesen. Jetzt regnet es, als muss hier unbedingt ein neuer See entstehen.
Kleine Rinnsale mutieren zu Bächen. Gartenmöbel spielen Weitfliegen in der Luft.
Dazu blitzt und donnert es, als ob eine Lichtshow einen Drummer auf der Bühne begleitet.
Vielleicht wiederholt sich die Geschichte – selbstverständlich ohne Gartenmöbel. Anstatt der Endzeit der Dinosaurier betrifft es nun die Menschheit.
Eventuell ist das als Urknall zu werten. In alle Richtungen müssen die Tiere gelaufen sein, um dem Desaster zu entgehen. Doch es hilft alles nichts…
Meine Gedanken an die Urzeitkreaturen brechen jäh ab, da die Bühnenshow und die Musik leiser werden und bald ganz aufhören.
Inzwischen geben die Vögel ein lieblicheres Konzert mit Querflöte und Harfe.
Die Wolken sind auch nicht mehr böse auf die Sonne und lassen sie wieder mitspielen.
Einige Leute sammeln ihre Gartenmöbel ein und stellen sie zurück an Ort und Stelle. Jeder trotzt dem aufgeweichten Boden. Manche ohne Schuhe, die meisten in Gummistiefeln. Mit letzterem kommt man im Schlamm am besten vorwärts – für die Kinder ist das ein neuer Spielplatz. Entstandene Pfützen werden sogleich als Ozeane für Miniaturschiffe genutzt.
Heute ist mein freier Tag, und mein Auto in der sicheren Garage bringt mich zu einer „Besichtigungstour“, bei der ich meine Hilfe anbieten kann.
Hinter dem Haus staune ich über einen wunderschönen Regenbogen im blauen Himmel. Dieser Maler benötigt meine Hilfe nicht, um das satte Grün, das kräftige Rot, das leuchtende Blau, das sonnige Orange und all die anderen Farben dahin zu zaubern. Wo vorhin Toben und Tosen wie Meereswellen angesagt waren, herrscht nun Ruhe und Frieden in der Natur.
Die Eltern der Kinder begutachten ihre Häuser. Auf meine Nachfrage sagen sie mir, dass meine Hilfe hier unnötig ist, denn Schäden halten sich in Grenzen.
Zufrieden geht meine Fahrt weiter. Die Sonne freut sich, wieder dabei sein zu dürfen. Ihre Augen strahlen über den Bergsee, auf dem kokett ein Segelboot seine Fahrt aufnimmt. Jeder Schatten, den die schroffen Berge verursachen, versucht, einen 1000-Meter-Lauf zu gewinnen. Mannschaften in Weiß, Gelb, Lila und Blau treten gegeneinander an.
In der Luft spielen Schmetterlinge Fangen. Das Laub an den Bäumen ist nun sauber gewaschen.
Liebespaare machen Hand-in-Hand ihre Spaziergänge. Verliebte Blicke zueinander und in die wunderschöne Landschaft wechseln sich ab.
Die Kindergartenkinder formen kleine Lehmhütten, und die „großen“ Bauarbeiter bauen echte Wohnungen.
Ungeplanter Weise brachte mich meine Fahrt zum städtischen Friedhof. Auch hier machte ich meine Runde, wenn ich schon einmal da war. Am Grab des 13-jährigen Ludwig legte ich eine Gedenkminute ein.
Grab konnte man das nicht nennen. Man hätte es als einen Dreckhaufen bezeichnen können, der allerlei Bauschutt unter sich begrub und stetig von Gras überwuchert wurde.
Ludwig hatte nicht so viel Durchsetzungsvermögen wie unser heller Himmelskörper.
Dreizehn Jahre!
Die Taucher entdeckten seine Leiche auf dem Grund des Sees. Er hatte einen mit vielen Steinen gepackten Rucksack um. Damit ihm seine eigene Angst vor seiner Tat die Möglichkeit nahm, wieder an die Oberfläche zu gelangen.
Dreizehn Jahre!
Für die meisten in unserer Kleinstadt war sein Suizid widersinnig. Für mich ebenso.
Nach und nach kam einiges ans Tageslicht. Vielleicht, so hoffte ich, war auch alles Gerede. Denn glauben konnte ich daran nicht wirklich, und von der Ursache wurde niemals gesprochen.
Für seine Familie war er so durchsichtig wie eine Qualle. Ob er daheim schlief oder nicht war ihnen schlichtweg egal. Ab und an nahm Ludwig gar nicht erst den Weg zu seinem Haus, sondern schlief unter freiem Himmel am Seeufer. Die, die dort campierten, waren von der Gesellschaft ebenso missachtet
Die Ordnungshüter hatten nicht immer dauerhaften Erfolg bei einer ihrer Razzien.
Beim Betrachten eines Sonnenuntergangs kam Ludwig möglicherweise die Idee mit dem Selbstmord in den Sinn.
Der Kühlschrank war gefüllt, aber der Tisch wurde für Ludwig niemals mit gedeckt. Kein Teller von aus dem die schmackhaftesten Speisen seinen Magen füllten. Wenn er hungrig war, musste er sich selbst bemühen und sich etwas brutzeln. Sein Frühstück bestand meist aus einem trockenen Brötchen, was er auf dem Weg zur Schule zu sich nahm. Er war immer der erste vor dem Schulgebäude, da Ludwig für seine Eltern so lästig war wie Kaugummi auf dem besten Sonntagshemd. Er war ein begabter Schüler. Singen war sein Hobby. Seine Songs schrieb er selbst. Allesamt fröhliche lustige Lieder… Wie war das noch mit dem traurigen Clown?
Sportliche Auszeichnungen waren an der Tagesordnung. Aber nicht ein einziges Mal feuerten ihn seine Eltern bei der Leichtathletik an. Keiner brüllte vor Begeisterung, wenn die Mannschaft einen Sieg errang, für den er verantwortlich war.
Wenn er Klamotten brauchte, bekam er das Geld, und er konnte sich dafür kaufen, was er benötigte. Die Waschmaschine anstellen, durfte er selbst.
Von Ausflügen oder gar Urlaubsreisen träumte Ludwig sicher manchmal. Aber allein? Freunde hatte er schon, die hatten ihre eigene liebende Familie. Dass er selbst behandelt wurde wie ein blutsaugendes Insekt, das man abschätzig verjagte, verriet er einer einzigen Menschenseele, wie später herausgefunden wurde.
Geburtstagsgeschenke packte er nur aus, wenn er sie sich auch selbst einpackte. Ob er das tat?
Die Eltern kamen nicht einmal zur Beerdigung. Von wem die organisiert war, wusste ich nicht.
Bestimmt waren die Eltern auch noch nie hier. Das wäre die größte Ironie, denn sie hatten ihn auf dem Gewissen!
Die eine Menschenseele, der sich Ludwig anvertraute, eine, die keinesfalls helfen konnte, war ein Obdachloser. Einer, der selbst Hilfe von anderen benötigte.
Dass er Ludwig kannte und der Polizei erzählte, was er von und über Ludwig wusste, gab er zu Protokoll. Danach wurde er von manchen Einwohnern belagert, um etwas herauszubekommen.
Mit Sicherheit erteilte er Infos für ein paar Euro oder auch etwas Flüssiges.
Ludwig blieb dennoch erst Dreizehn Jahre bei seinem Tod. Warum hatte er sich bloß nicht mehreren Menschen mitgeteilt?
Mit Kloß im Hals stieg ich in mein Auto und fuhr wie ferngesteuert zurück.
V2 6392