Von Andreas Schröter

Der Tag, um den es hier gehen soll, beginnt ausgesprochen erfreulich. Die Kopfschmerzen, die mich seit einiger Zeit plagen, sind weg, und so hüpfe ich fast beschwingt aus dem Bett, als der Wecker um 7 Uhr klingelt. Meine Frau Annette hat bei ihrer Schwester und deren Mann übernachtet. Deswegen kann ich meinen üblichen Weckspruch für sie heute nicht anbringen: „Guten Morgen, du Schönheits-Upgrade meines Lebens!“ Heute Abend ist sie aber wieder zu Hause. Dann werfen wir den Grill an und öffnen den teuren Barolo, den ich neulich gekauft habe. Darauf freue ich mich.

Ich beschließe, das Auto stehen zu lassen und die zehn Minuten ins Büro zu Fuß zu gehen. Heute ist langweiliger Papierkram angesagt. Abgelaufene Versicherungspolicen ausmisten. Aber ich will mir davon meine gute Laune nicht verderben lassen. Unterwegs sehe ich Frau Senkblei, die ihren Labrador ausführt. Sie ist von der Sorte Frau, die einen in ein gefühlt stundenlanges Gespräch vertiefen kann, in dem es vor allem um ihre diversen Krankheiten geht. Das will ich mir heute ersparen. Also täusche ich große Eile vor, beschleunige meinen Schritt und hebe lediglich kurz die Hand zum Gruß. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass die Schnepfe mich ignoriert und den Gruß nicht erwidert. Wahrscheinlich ist bei ihr eine weitere Krankheit hinzugekommen – extreme Kurzsichtigkeit. Ich muss kurz grinsen. Lediglich ihr Hund, der seltsamerweise Hartmut heißt, schaut in meine Richtung und knurrt. Komisch. Haben Hunde auch ihre miesen Tage? Sonst ist Hartmut doch meist friedlich und freundlich.

Im Büro stelle ich fest, dass erst ganz wenige Schreibtische besetzt sind, und die stehen weit weg vom Eingang. Trotzdem brülle ich ein beschwingtes „Guten Morgen, meine allerwertesten Leidensgenossen!“ Den Spruch gönne ich mir gelegentlich mal. Wahrscheinlich würden die Kollegen ihn bei meiner Abschiedsfeier vor der Rente in zwei oder drei Jahren zitieren. Schon deshalb sollte man sich irgendeine Besonderheit gönnen: damit die Kollegen überhaupt irgendwas zum Zitieren haben. Die so betitelten „Leidensgenossen“ am anderen Ende des Raums machen keine Anstalten, auf meine Begrüßung zu reagieren. Vielleicht sollte ich mir mal was anderes ausdenken. Es muss ja nicht sein, dass man heimlich die Augen verdreht, wenn ich reinkomme.

Ich setze mich an meinen Platz und beginne ganz langsam mein Tagewerk. Wieso gibt’s im Dateiordner „Aktuelles“ im System noch Policen von 2003 von einem gewissen Heinrich Notenbloom, gestorben 2007, an den ich mich leider noch genauestens erinnern kann? Ein Widerling. Ich verschiebe den Herrn ins „Archiv“ und versehe die Datei mit dem Vermerk „Vertrag wegen Todes 2007 erloschen“. Nach und nach trudeln weitere Kollegen ein – zum Beispiel die hübsche Janina. Ich hebe kurz die Hand, aber sie übersieht es offenbar. Nicht schlimm, ich finde es ziemlich ekelerregend, wenn sich die alten Säcke im Büro an die jungen Kolleginnen schmeißen. Deswegen versuche ich, Janina genauso zu behandeln wie alle anderen. Was mir schwerfällt, denn schließlich denke ich permanent an sie und ihren perfekten Körper. Na gut, ab und zu schlendere ich genau dann zum Kaffeeautomaten, wenn Janina davorsteht. Dann gilt es, irgendwas Witziges zu sagen, sodass sie vielleicht doch Gefallen an mir findet und mir anbietet, die Nacht mit ihr zu verbringen. Mein Spruch am Tag zuvor war: „Kaffee: Mein Lieblingskollege, der nie nervt.“ Sie lächelt milde und geht zurück zu ihrem Platz. Für die gemeinsame Nacht scheint das jedenfalls noch nicht ganz gereicht zu haben. Heute hat sie offenbar rein gar keinen Kaffeedurst. Sehr schade. Aber ich hätte ohnehin noch keinen guten Spruch auf Lager gehabt.

Als sich der Bürotag um 17 Uhr dem Ende zuneigt, frage ich mich, ob ich an diesem Tag überhaupt mit jemandem gesprochen habe. Ich glaube nicht. Habe ich etwas an mir, dass man keinen Kontakt zu mir will? Stinke ich vielleicht? Na gut, als ich 30 oder 40 war, habe ich auch nicht unbedingt das Gespräch mit den Büro-Mumien gesucht. Ich beschließe, morgen aktiv auf die Kollegen zuzugehen.

Ich gehe nachmittags gerne noch zum Sport: Ganzkörper-Workout mit Trainerin Christine. Ich bin stolz, dabei mit Abstand der Älteste zu sein. Was mich allerdings stört, ist, dass es dabei oft reichlich anonym zugeht. Es kommt vor, dass man niemanden der anderen Teilnehmer kennt, obwohl man schon jahrelang dabei ist – große Fluktuation eben. Ich betrete die Turnhalle und rufe: „Hallo, hallo, liebe Mitverrückte.“ Keine Reaktion. Die anderen, von denen ich tatsächlich niemanden kenne, scheinen sich selbst nicht als Verrückte zu sehen. Sonderbar! Mist, ich habe meine Matte im Auto vergessen – das ich heute ja stehengelassen habe. Naja, es muss auch ohne gehen. Während des Trainings kommt mir ein junger, stark schwitzender Mann sehr nahe. Ich mag es nicht, wenn man den Mindestabstand nicht einhält, außer bei Janina natürlich. Theoretisch. Ich sage aber nichts. Immerhin hat das Training auch einen positiven Aspekt: Ich bewältige heute spielend die fiesen Sit-ups, Planks und Lunges. Ich bin stolz auf mich. Für mein Alter bin ich extrem fit.

So, jetzt aber ab nach Hause. Annette, das Grillen und der Barolo warten. Als unser Haus in Sicht kommt, fährt es mir zugleich heiß und kalt durch die Glieder. In der Einfahrt stehen ein Krankenwagen und ein Leichenwagen. Nein, nein, nein – bitte nicht! Annette sah blass aus in den letzten Tagen, und sie hat über Stress auf der Arbeit geklagt. Bitte, bitte nicht! Fast blind vor Angst erreiche ich die offene Eingangstür. Ich gehe durchs Wohnzimmer und die Küche und betrete unser gemeinsames Schlafzimmer. Dort kennt meine Erleichterung keine Grenzen: Annette steht mit dem Rücken zu mir und spricht mit einem mir fremden Mann. Auf seiner Jacke steht „Notarzt“.

„Hat Ihr Mann in letzter Zeit über Beschwerden geklagt?“

„Kopfschmerzen“, flüstert Annette tonlos.

„Ja, das würde zu meiner These passen. Es könnte ein Aneurysma gewesen sein, das zu seinem Tod geführt hat. Wahrscheinlich hat er es gar nicht bemerkt und ist im Schlaf verschieden. Immerhin ein angenehmer Tod, wenn ich das so sagen darf. Ich spreche Ihnen hiermit mein herzliches Beileid aus.“

„Gute Nacht, du Sprüche-Upgrade meines Lebens!“, murmelt Annette.

„Bitte?“

„Ach, nichts.“

Ich verstehe gar nichts mehr. Erst jetzt habe ich einen freien Blick aufs Bett. Dort liege: ich.

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