Von Angelika Brox

In jenen alten Zeiten geschah es einmal im Großen Land, dass der Winter ungewöhnlich früh und mit aller Härte hereinbrach. Die Äste der Fichten trugen schwer an ihrer Schneelast. Die Sonne schaffte es kaum noch über den Horizont, die Tage blieben in grau-blaues Dämmerlicht gehüllt.
Auf Polstern aus Fichtenzweigen und Fellen hockte eine Gruppe vom Volk der Gwich’in mit einigen Hunden um kleine, flackernde Feuerstellen. Die Hunde wurden von ihrer dichten Unterwolle und dem langen Deckhaar warmgehalten, die Menschen mummten sich dick in Felle ein. Wind ließ den Pelz wehen, der ihre Gesichter umrahmte.
Sie waren hungrig. Zuletzt hatten die Jäger nichts mehr erlegt außer ein paar Schneehasen und Eichhörnchen.

Tsalkaa saß in dem Iglu, den sie sich mit ihren beiden Töchtern teilte, und betrachtete ihren linken Fuß. Er war stark geschwollen. Um den Knöchel herum hatte sich die Haut violett verfärbt. Neben ihr stand ein hölzerner Topf mit einem Aufguss aus Weidenrinde. Sie tunkte einen Streifen Karibufell hinein und wickelte ihn fest um den verletzten Fuß. Ein stechender Schmerz zuckte hindurch.
Sie ärgerte sich über sich selbst. Warum war sie auch so unachtsam gewesen? In ihrem Alter trugen die Beine sie ohnehin nicht mehr allzu sicher – sie benutzte einen Gehstock mit einem kleinen runden Schneeschuh am unteren Ende – und dann hatte sie gestern zwei Kindern beim Ringkampf zugeschaut, war ausgerutscht und hatte sich den Fuß verdreht.
Behutsam zog sie den Fellstiefel wieder an, nahm ihren Stock und humpelte nach draußen zu den anderen.
Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihr Sitzpolster plumpsen.

Shoh, der Häuptling, erhob sich und verkündete: „Elche und Karibus sind in Richtung Süden gezogen. Wir müssen das Lager auflösen und ihrer Fährte folgen.“ Er machte eine Pause. „Wie ihr wisst, schreibt unser Stammesgesetz vor, in der Not die Alten und Schwachen zurückzulassen.“
Tsalkaa zuckte zusammen. Meinte der Häuptling etwa sie?
„Tsalkaa“, sagte er, „du kennst den Lauf der Dinge. Ich muss zum Wohle des Volkes entscheiden.“
„Aber …“ Angst setzte sich als Kloß in ihrem Hals fest und sie konnte nicht mehr weitersprechen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
„Bald wirst du bei den Ahnen sein“, versprach Shoh, „dort wird es dir gut ergehen.“
Entsetzt schaute Tsalkaa einen nach dem anderen an. Wollte denn niemand ein Wort für sie einlegen? Sie war soeben zum Tode verurteilt worden!
Die Stammesmitglieder wagten es kaum, zu ihr hinüberzusehen. Ihre Gesichter waren von Entbehrung gezeichnet, die Augen blickten leer.
„Packt alles auf die Schlitten!“, befahl der Häuptling. „Nehmt auch Tsalkaas Sachen mit, wir brauchen sie nötiger.“
Tsalkaa erstarrte, als wäre sie bereits zu Eis gefroren. Ihr Stolz verbot es ihr, zu weinen oder zu betteln.
Endlich erhob sich Ninjii, ihr ältester Sohn. Sie schöpfte Hoffnung.
„Shoh, hab Mitleid“, bat Ninjii. „Nimm meiner Mutter nicht alles weg.“  
Der Häuptling schien etwas antworten zu wollen, zögerte, nickte kurz und wandte sich ab.
Tsalkaa saß da wie betäubt und sah zu, wie die Schlitten beladen wurden und sich die Kolonne in Bewegung setzte. Dort gingen die Menschen, mit denen sie ihr ganzes Leben verbracht hatte.

Die Feuer gingen allmählich aus. Tiefer und tiefer kroch die Kälte in Tsalkaas Körper. Sie zitterte heftig. Wenn sie hier sitzenblieb und auf den Tod wartete, müsste sie wohl nicht mehr lange warten. Sie würde hier sterben wie eine hilflose, nutzlose alte Frau.
Ihr Widerspruchsgeist erwachte und verlieh ihr neue Kraft.
„Nein!“, dachte sie. „Ich werde kämpfen!“

Mühsam erhob sie sich. Leise ächzend band sie die Schneeschuhe unter ihre Stiefel, nahm in die eine Hand ihren Gehstock, in die andere einen Korb aus geflochtener Birkenrinde und ging Holz sammeln. Die kalte Luft biss ihr ins Gesicht und ließ ihre Augen tränen. Jeder Schritt war eine Qual.
Sie füllte den Korb bis zum Rand. Zusätzlich pflückte sie von den Zweigen einer umgestürzten Balsampappel becherförmige Rindenschwämme. Damit konnte sie das Feuer nachts zum Schwelen bringen, so dass es nicht zu rasch niederbrannte.

Zurück im Lager, ließ sie die Flammen hell auflodern und ruhte sich von der Anstrengung aus.
Vor ihrem inneren Auge erschienen vertraute Gesichter: Ninjii, ihr Ältester … ihr jüngerer Sohn Dinjik … ihre Töchter Shree und K‘aii … ihre Freundinnen …
Energisch wischte sie sich übers Gesicht. Es wäre nicht gut, wenn die Tränen auf der Haut gefrieren würden.
Sie nahm eine Elchhaut, schnitt schmale Streifen ab und formte daraus Schlingen für Schneehasenfallen. Dann humpelte sie wieder los.
Unter niedrig wachsenden Weidensträuchern fand sie einige Hasenfährten. Dort band sie die Lederschlingen an die tiefsten Äste und errichtete zu beiden Seiten kleine Zäune aus Zweigen, welche die Tiere in die Falle lenken sollten.

Danach ruhte sie sich wieder am Feuer aus und trank einen Weidenrindentee gegen die Schmerzen. Es war vollkommen dunkel geworden. Leuchtend grüne Nordlichter tanzten am Himmel.
Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt. Zu ihrer Trauer kam Wut. Wie hatten sie ihr das nur antun können! Zwar kannte sie den grausamen Brauch und wusste, dass er in anderen Gruppen schon angewandt worden war, doch sie hätte nie gedacht, dass dieses Schicksal einmal sie selbst treffen würde.
Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Weinend kroch sie in ihren Iglu, wickelte sich in ein Karibufell und schlief nach einer Weile erschöpft ein.
Im Traum sah sie den Vater ihrer Kinder, Neejok, der vor vielen Sommern bei der Elchjagd umgekommen war. Er beugte sich über sie und sagte: „Belehre sie alle eines Besseren! Du bist stark!“

Am nächsten Morgen suchte sie die Fallen ab. Tatsächlich hatte sie einen Schneehasen gefangen. Er zappelte noch.
„Verzeih mir“, sagte sie. Dann gab sie ihm mit der Handkante einen kurzen, präzisen Schlag in den Nacken.
Im Lager kochte sie in einem Topf aus Speckstein eine Hasensuppe und würzte sie mit Fichtennadeln. Die warme Mahlzeit weckte ihre Lebensgeister und schenkte ihr neue Zuversicht.

So verging die Zeit. Der linke Fuß ließ sich inzwischen wieder recht gut belasten und Tsalkaa wurde kräftiger. Sie schlug Brennholz mit ihrer Steinaxt, bewachte die Glut, ernährte sich von Schneehasen, Rentiermoos, getrockneten Kräutern aus dem Sommer und manchmal naschte sie von den Preiselbeeren, die sie im Herbst gesammelt hatte.

Es wurde noch kälter. Unter dem Druck des Frostes knackten die Äste der Bäume. In der Ferne heulten hungrige Wölfe.
Wenn es nichts mehr zu tun gab, saß Tsalkaa am Feuer und drückte ihre Arme an die Brust. Eigentlich wollte sie es sich nicht eingestehen, doch sie vermisste die Gesellschaft ihres Volkes – obwohl ihre Leute sie so erbarmungslos im Stich gelassen hatten.
Oft nahm sie in solchen Momenten ihre Knochenflöte und spielte dem Mond und den Sternen etwas vor, bis ihre Finger zu kalt wurden.

Eines Tages spürte sie die Einsamkeit besonders schlimm. Tsalkaa verlor den Mut und wollte aufgeben. Sich einfach in den Schnee legen und erfrieren.
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie schloss die Lider. Der Vater ihrer Kinder lächelte sie an und sagte: „Belehre sie alle eines Besseren! Du bist stark!“
Energisch presste sie die Lippen zusammen.
„Ich werde kämpfen!“, dachte sie.
Mit einem Steinmesser schnitt sie aus einem Karibufell ovale Stücke heraus. In eine Nadel aus Karibuknochen fädelte sie eine dünne Tiersehne. So, wie sie es früher häufig getan hatte, begann sie, Handschuhe zu nähen. Diese hier sollten für Ninjii sein. Während sie nähte, dachte sie an ihren Sohn und lächelte. Vor ihr entstanden Bilder aus der Vergangenheit. Manche Erinnerungen wirkten so lebendig, dass sie sogar leise mit ihm sprach.
Als die Handschuhe fertig waren, nähte sie ein weiteres Paar für ihre jüngere Tochter K‘aii. Dabei unterhielt sie sich mit ihr über alles, was sie früher gemeinsam erlebt hatten.
In den folgenden Wochen fertigte sie auf die gleiche Weise Handschuhe für ihre anderen Kinder und ihre Freundinnen.
Als ihr die Karibufelle ausgingen, nahm sie Hasenfelle, die sie in einem Sud aus Fichtenrinde gegerbt hatte. Ein Stammesmitglied nach dem anderen bedachte sie mit warmen Handschuhen, zum Schluss sogar Shoh. Mit dem Häuptling hatte sie besonders viel zu besprechen.

Nach und nach wurden die Tage länger und die Nächte kürzer. Irgendwann entdeckte Tsalkaa die ersten Schneehühner – willkommene Boten des Frühlings! Sie pickten die Knospen von den Bäumen und scharrten überwinterte Preiselbeeren aus dem Schnee.
Geschickt schlich sie auf einen der Vögel zu, packte ihn und brach ihm mit einem Ruck das Genick.
Die Hühnersuppe stellte eine willkommene Abwechslung auf ihrem Speiseplan dar.

Weitere Tage vergingen, die Sonne stieg höher und schien wärmer. Eines Nachmittags, als Tsalkaa Holz sammelte, hörte sie Stimmen. Schnell versteckte sie sich hinter einem Baum.
Eine Gruppe pelzbekleideter Menschen näherte sich. Auf einigen Schlitten lagen erlegte Karibus.
Tsalkaas Herz klopfte schneller. Ihr Volk kehrte zurück!
Sie verließ ihr Versteck. Ruckartig blieben alle stehen und starrten sie an.
Schließlich trat der Schamane einen Schritt vor. Er nahm sein Amulett vom Hals, einen Raben zum Schutz gegen Geister, und hielt es ihr entgegen.
Sie sah ihm fest in die Augen. „Ich bin kein Geist.“
Gemurmel wurde laut. Alle schauten auf Shoh.
Mit angespannter Miene ging der Häuptling auf sie zu, bereit, jeden Augenblick zurückzuspringen. Vorsichtig legte er eine Hand an ihr Gesicht.
„Es stimmt. Sie ist warm“, erklärte er den anderen. Und zu ihr sagte er: „Ich bin froh, dass du lebst.“
Alle Stammesmitglieder nickten, legten eine Hand aufs Herz und verbeugten sich respektvoll.
Tsalkaa lächelte. „Siehst du, Neejok, ich habe gekämpft“, dachte sie stolz.




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