Von Helmut Blepp

Der alte Mann mit dem Besen stand im Treppenhaus, als ich die letzten Kartons hineintrug. Er begrüßte mich sehr förmlich als neuen Hausbewohner und entschuldigte sich wortreich dafür, dass er mir nicht helfen könne. Die Bandscheiben waren es wohl. Ich sah es ihm nach. Meine spürte ich auch schon nach der ganzen Plackerei. Nachdem ich alle meine Habseligkeiten in den zweiten Stock geschleppt hatte, zitterten mir regelrecht die Knie. So nahm ich die Einladung auf eine Tasse Tee gerne an. Sichtlich erfreut führte mich der alte Mann in seine Wohnung, ein verstaubtes Kuriositätenkabinett mit vielen Büchern, nachgedunkelten Gemälden und allerlei Nippes in jeder Ecke. An den Fenstern siechten ein paar Gummibäume vor sich hin. Die Küche allerdings war blank geputzt, und der friesische Tee hervorragend.

Tatsächlich war es dann ein sehr anregendes Gespräch über Lieblingsbücher und ihre Illustratoren, das ich so nicht erwartet hätte. Der Alte, ein ehemaliger Buchhändler, verehrte Slevogt und seine Cooper-Illustrationen, während ich schon immer Kubin den Vorzug gegeben habe, der die düsteren Werke von Poe so wundervoll in Bilder gefasst hat. Wir rühmten unsere Favoriten, verglichen Stile und Sujets, so dass im Nu zwei Stunden vergingen, und ich verabschiedete mich etwas überhastet, weil ich wenigstens noch das Nötigste in meiner neuen Wohnung einräumen wollte. Wir stimmten einander zu, das doch öfter zu machen, was wir in der Folge auch taten. Es wurde uns zur Gewohnheit, nach Möglichkeit zumindest einmal wöchentlich zum Tee zusammenzukommen und uns über Leseerlebnisse auszutauschen. Wir schwärmten für Klassiker, sprachen bewegt über die Protagonisten des Expressionismus und die Nachkriegsliteratur von Borchert bis Bachmann. Besonders hatten es dem Alten die Franzosen angetan. Er war in seinen jungen Jahren ein begeisterter Existenzialist und geradezu vernarrt in „Das Sein und das Nichts“ gewesen, war einmal sogar nach Paris gereist und hatte im Café Deux Magots Kaffee getrunken. Doch Sartre war nicht aufgetaucht. 

So verging fast ein Jahr. Unsere Zusammenkünfte wurden mir zur lieben Gewohnheit, und die Lektüreempfehlungen meines Nachbarn verschafften mir manches Lesevergnügen und ungeahnte künstlerische Neuentdeckungen. Irgendwann aber häuften sich Begebenheiten, die mich irritiert zurückließen. Einmal servierte der Alte kalten Tee, der offenbar nie aufgebrüht worden war. Bei anderer Gelegenheit sprach er über Trakl, als seien sie Zeitgenossen. Er unterstrich seine Bewunderung für große Schriftsteller, konnte sich aber letztlich weder an die Titel ihrer Werke noch an deren Inhalte erinnern. Manchmal hielt er mitten im Satz inne, und nach einer peinlich langen Pause griff er dann ein völlig anderes Thema auf, erzählte plötzlich von seiner Schulzeit oder verlor sich in Erinnerungen an seine verstorbene Frau.

Unsere Teestunden wurden mir zunehmend unangenehm, und auch er spürte wohl die Veränderung, denn im Verlauf der nächsten Wochen gab es keine weiteren Einladungen mehr und bald beschränkten wir uns darauf, einander im Treppenhaus höflich zu grüßen.

Eines Abends aber läutete er an meiner Tür. Er war sehr aufgeregt und stammelte, er habe etwas gesehen, auf der Stiege zum Speicher. Ob ich einmal nachschauen könne. Ich nahm zur Sicherheit meine Taschenlampe mit. An der Mansardenwohnung des mir noch unbekannten Studenten vorbei ging ich die halbe Treppe hoch zu dem kleinen Podest, von dem die Speicherstiege nach oben führte. Ich schloss die massive Holztür auf und betrat den Speicher. Er war leer. Keine alten Koffer, keine vergessenen Kartons oder ausrangierten Möbel. Nicht einmal Tierkot fand ich vor. Die Dachfenster waren fest verriegelt, alle Bodendielen unbeschädigt. Ich verschloss die Tür wieder und ging hinunter zu dem Alten. „Da oben ist nichts“, beruhigte ich ihn. „Absolut nichts.“ Er schaute mich zweifelnd an. Er glaubte mir nicht. Er habe etwas gehört, versicherte er. Dann sei er hoch gegangen, was ihm nicht leichtgefallen sei. „Und da oben war etwas.“

An zwei weiteren Tagen in der folgenden Woche klingelte er mich aus dem Bett, weil beim Speicher etwas sei. Ich inspizierte die Stiege und den Dachboden zunächst ein weiteres Mal, ohne irgendetwas zu finden, und forderte ihn zuletzt auf, mich so spät am Abend nicht mehr zu stören. Daran hielt er sich auch, nachdem ich ihm noch einmal ausdrücklich gesagt hatte: „Da oben ist nichts. Sie bilden sich das ein.“

Ich dachte bald nicht mehr an die Vorfälle, zumal ich beruflich sehr eingespannt war. Den Alten sah ich kaum noch. Er hielt sich nicht, wie früher üblich, im Treppenhaus auf, wenn ich von der Arbeit kam. Der Flur aber war weiterhin sauber gefegt, sein Briefkasten immer geleert. Eines Tages, ich wollte gerade meine Wohnung betreten, rief mich jemand mit Namen. Es war der Student von oben, dem ich bislang noch nicht begegnet war. Er stellte sich in aller Kürze vor und kam dann gleich zur Sache. Ob ich den Alten näher kenne, wollte er wissen. Er hielte ihn für ziemlich verkalkt, meinte er. Schon mehrfach sei der in den letzten Tagen zu ihm hochgestiegen und habe bei ihm geklopft, weil etwas vor oder auf dem Speicher sei. „Aber da war nichts, gar nichts!“ Er habe es wieder und wieder überprüft. Nun verliere er langsam die Geduld, denn er stehe vor dem Examen und habe viel zu tun. Ich versicherte ihn meines Verständnisses und erzählte ihm, dass ich ähnliche Erfahrungen gemacht hätte. Wir nahmen uns vor, ein Auge auf den offenbar etwas verwirrten Nachbarn zu haben und notfalls den Sozialdienst einzuschalten.

Wochen später bemerkte der Student als erster den vollgestopften Briefkasten. Beunruhigt läuteten wir bei dem alten Mann an der Wohnungstür und bemerkten, dass sie einen Spalt offenstand. Ich rief erfolglos nach ihm. Der Student betrat kurz entschlossen die Wohnung, schaute sich um und kam kopfschüttelnd zurück „Keiner da.“ 

Wir suchten und fanden den alten Mann tot oben auf dem Podest. Er lag verkrümmt auf der Seite, die Beine angezogen, als wolle er seinen Leib schützen. Seine gichtigen Finger waren in die Holzdielen gekrallt. Die weit aufgerissenen Augen starrten hoch zur Speicherstiege, zu Tode erschrocken über etwas, das wir nicht sahen.