Von Björn D. Neumann

Die Klimaanlage des Vans lief auf Hochtouren. Die Sonne brannte gnadenlos am wolkenlosen Himmel. Aus den Lautsprechern des vollbeladenen Wagens dröhnte Countrymusik und Melissa und John sangen nicht schön, dafür aber lauthals mit. Sie freuten sich auf einen Neuanfang. Weit weg vom hektischen Treiben der Großstadt New York. Zurück ließen sie viele Freunde und John den Job als Assistenzarzt an der Mayo-Klinik. Da war es für Melissa als freie Journalistin einfacher, aber das soziale Umfeld, die Bars und Szene-Clubs einer Millionenmetropole würden ihr bestimmt fehlen. Beide waren sich jedoch einig, dass ein Leben in der Provinz, auf dem Land den Verlust mehr als aufwiegen würde, besonders, wenn sich ihr Kinderwunsch erfüllen würde. 

„Laut Navi sind es noch 15 Meilen, Schatz. Spätestens in einer Dreiviertelstunde sind wir da.“ John trommelte auf dem Lenkrad. 

„Fahr nur nicht zu schnell. Ich habe keine Lust, dass wir uns mit einer Anzeige wegen Raserei in die Gemeinde einführen.“

John grinste. „Yes, Ma’am! Schon ganz die vornehme Südstaaten-Lady. Was, Mel?“

Sie gab ihm einen Knuff in die Seite. „Nicht lustig!“

Wie versprochen erreichten sie nach gut 45 Minuten das Ortseingangsschild. ‚Welcome to Hope, GA‘ stand darauf verheißungsvoll. Wenig später erreichten sie die Zufahrt ihres neuen Zuhauses. John stieg aus und öffnete das Holztor, das den geschlungenen Weg zwischen Zypressen zu ihrem Anwesen freigab. Es war die typische Südstaaten-Villa mit einladender Veranda, großem Garten und schattigen Bäumen.

„Es ist ein Traum, John!“, jubelte Mel. „Ich fühle mich jetzt schon wie eine Plantagenbesitzerin.“

Auf Johns Miene legte sich ein Schatten.

„Entschuldige, das war nicht so gemeint, Darling. Ich habe nur schon als kleines Mädchen von genau so einem Haus geträumt. Fast erwarte ich, dass Orry Main um die Ecke geritten kommt.“ Als Jugendliche hatte sie die Bücher „Fackeln im Sturm“ verschlungen und Patrick Swayze brachte sie in der Verfilmung zum Dahinschmelzen. Sie hielt ihm als Friedensangebot eine Flasche Wasser hin. „Trink einen Schluck und lass uns dann das Gepäck reinbringen.

John schnaufte und leerte das Getränk in einem Zug. Dann warf er einen Blick auf das Gebäude und schnappte sich einen Karton. So ein Haus wäre unter normalen Umständen für ein junges Paar wie sie unerschwinglich gewesen. Da er aber die vakante Stelle des verstorbenen Arztes der Gemeinde übernommen hatte, gehörte dieser Luxusbau, finanziert von der Bezirksverwaltung, mietfrei dazu. „Wahrscheinlich war sonst niemand bereit, in der Provinz zu arbeiten“, dachte John und betrat die Eingangshalle. Die geschwungene Treppe ins Obergeschoss war in der Tat die Kulisse für einen filmreifen Auftritt.

Die Kisten wurden weniger und die glühende Sonne verschwand langsam am Horizont, als es an der Tür klopfte. Mel öffnete. Vor ihr stand eine etwa 40-jährige Rothaarige, im blauen 50er-Jahre-Kleid, perfekt geschminkt, mit passender blauer Schleife im akkurat frisierten Haar. Mel hatte das Gefühl, dass die Dame einem Modemagazin entsprungen war und fühlte sich in Jeans, T-Shirt und den strubbeligen blonden Haaren, etwas underdressed.

„Hallo, ich bin Pam. Pam Hollander. Ich wollte Sie in der Nachbarschaft begrüßen.“

„Oh, das freut mich. Ich bin Melissa. Mich nennen aber alle Mel“. Mel streckte die Hand zur Begrüßung aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass Pam die Hände voll hatte. „Oh, wie unaufmerksam. Darf ich Ihnen etwas abnehmen?“

Pam hielt in der einen Hand eine mit Alufolie eingewickelte Auflaufform, in der anderen eine Flasche Wein. „Ähm, das ist ohnehin für Sie. Zur Begrüßung. Ich dachte mir, Sie werden heute nicht kochen wollen und da habe ich Ihnen meine stadtbekannte Lasagne gemacht und was ist Lasagne ohne den passenden Rotwein?“

„Ich danke Ihnen vielmals. Das ist so lieb von Ihnen.“

„Keine Ursache. Gute Nachbarschaft ist doch so wichtig, oder? Sie werden sich hier schnell einfinden. Gemeindefeste von der Kirche, der Country-Club und ganz viele Aktionen des Hausfrauen-Vereins. Es wird nie langweilig. Spielt ihr Mann Golf? Meinen George kriege ich kaum zu Gesicht, so oft wie er auf dem Platz ist. Vielleicht können unsere Männer ja mal zusammen spielen.“

„John ist eigentlich eher der Tennisspieler. Apropos ‚John‘. John! Kommst du mal? Wir haben Besuch!“

„Naja, irgendetwas werden die beiden bestimmt unternehmen können“, lächelte Pam. Ein Lächeln, das von einem Moment zum anderen erstarrte, während eine Augenbraue fast unmerklich hochzuckte.

Mel drehte sich um und sah, dass ihr Mann gerade die Treppe hinunterkam. „Ah, da bist du ja endlich. Darf ich dir Pam vorstellen? Sie hat uns Lasagne und Wein vorbeigebracht.“

„Sehr freundlich von Ihnen! Hallo, mein Name ist John.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Pam ignorierte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. „Ich fürchte, ich muss los. Es ist schon spät. Mel. Dr. Washington.“ Sie drehte auf dem Absatz um und verschwand in der Auffahrt. 

John und Mel sahen sich achselzuckend an, als Pam mit ihrem Porsche davonbrauste. Später beim Abendessen kamen sie noch einmal auf den merkwürdigen Abschied zu sprechen. „Die Gute war schon ein wenig seltsam, oder?“, schmatzte John, der sich den letzten Bissen Lasagne in den Mund schob. „Zwar hat sie einen Trump-Aufkleber auf dem Porsche, aber kochen kann sie.“

„Keine Ahnung. Sie war plötzlich wie ausgewechselt. Wobei sie vorher schon ein wenig drüber war. Also, wenn sie glaubt, aus mir so ein Muster-Hausweibchen machen zu können, hat sie sich geschnitten. Ich bin hier nicht, um Kochrezepte auszutauschen.“

„Wobei, das von der Lasagne darfst du dir gerne geben lassen“, lachte John und leerte das Glas Wein.

 

Mel blickte vom Laptop auf, als sie den Van in der Auffahrt hörte. Sie blickte auf die Uhr. Es war noch keine vier Uhr. Sie seufzte.

John kam herein und warf seine Aktentasche aufs Sofa. Dann ließ er sich daneben fallen und massierte seine Schläfen. Mel setzte sich neben ihn und lehnte ihren Kopf an seine Schultern. 

„So schlimm?“, fragte sie mehr zu sich selbst, als ihn.

„Nicht ein verfluchter Patient. Schon den ganzen Monat nicht. Diese ganzen MAGA-Mützen-Träger fahren lieber 50 Meilen in die nächste Stadt.“ John klang verzweifelt.

„Über kurz oder lang werden sie einsehen, was für ein guter Arzt du bist.“

John lachte auf. „Die krepieren lieber, als dass die sich von mir behandeln lassen.“

„Wir geben nicht auf! Wir leben im 21. Jahrhundert, verflucht.“ 

 

John machte sich schon früh auf den Weg in die Praxis. Die Genugtuung, sich nachsagen zu lassen, er wäre faul und unzuverlässig, wollte er ihnen nicht geben. Auch wenn er wusste, dass er wieder vergeblich auf einen Patienten warten würde. Eine Sirene heulte auf und im Rückspiegel sah er das Blaulicht des Fahrzeugs des örtlichen Sheriffs aufleuchten. Stöhnend fuhr er rechts ran und legte seine Hände aufs Steuer. Ihm war klar, dass er diesen Hillbillys keine Gelegenheit geben durfte. Im Rückspiegel beobachtete er, wie der Beamte sich aus dem Auto quälte. Eine kleine, dicke Gestalt mit hängenden Wangen näherte sich. Die Schweinsaugen versteckt hinter einer dunklen Pilotenbrille, rann ihm der Schweiß das Gesicht runter. Angekommen, klopfte er gegen die Scheibe. John ließ sie herunter und der Uniformierte tippte kurz mit seiner Rechten an den Hut.

„Die Papiere, Sir.“ Das ‚Sir‘ spuckte er fast belustigt aus. 

Ohne Kommentar reichte John Führer- und Fahrzeugschein durch das Fenster.

Sheriff McMillen nahm sie mit einer Hand entgegen, während die andere auf seiner Dienstwaffe ruhte. Ohne einen Blick draufzuwerfen, gab er die Dokumente zurück.

„Was habe ich falsch gemacht?“, wollte John wissen.

McMillen ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, holte ein Taschentuch aus seiner Hose, mit dem er sich den Schweiß aus dem Nacken wischte.

„Wissen Sie, das Landleben ist nicht für jedermann gemacht. Es gibt Landmenschen. Für die sind Traditionen und Gebräuche wichtig. Dann gibt es Stadtmenschen. Die sind furchtbar modern, progressiv. Wollen alles verändern. Landmenschen und Stadtmenschen – das passt einfach nicht. Die gehören einfach nicht hierher.“ Erstmals sah er John direkt an. 

„Ist das eine Drohung?“, fragte John jetzt direkt.

McMillen räusperte sich. „Sehen Sie es als gutgemeinten Ratschlag. Ich weiß nicht, was man sich bei der Bezirksverwaltung gedacht hat. Wir wollen doch alle keine Probleme.“

„Und das hat nichts mit meiner Hautfarbe zu tun, Sheriff?“ John biss die Zähne zusammen.

„Fahren Sie jetzt besser, Doktor.“

 

Wieder saß John in seiner Praxis. Keine Patienten, kein Personal. Gelangweilt knüllte er von einem Rezeptblock Papierkugeln, die er in den Mülleimer in der Ecke warf. Plötzlich hörte er quietschende Reifen, einen dumpfen Aufprall, Schreie, Stimmengewirr. Er sah aus dem Fenster. Wie befürchtet hatte sich ein Autounfall ereignet. Er sah den leblosen Körper eines kleinen Mädchens. Die 8-jährige Tochter des Sheriffs. Mit seiner Tasche stürmte er hinaus. Er konnte ihren Puls spüren, doch war sie nicht ansprechbar. Vorsichtig hob er das Kind auf und bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. „Sie muss ins Krankenhaus“, rief er und legte sie auf den Rücksitz seines Vans, um sie die 50 Meilen dorthin zu transportieren.

 

„Jetzt müssen sie dich akzeptieren, John“, tröstete Mel ihn abends beim Essen.

„Glaubst du daran?“. Seine Stimme klang resigniert. „Du hättest ihre Blicke sehen sollen.“

Das Telefon klingelte. Mit müden Schritten ging John zum Apparat.

„Ja. Ich danke Ihnen. Schönen Abend.“ John seufzte.

„Was ist?“, fragte Mel besorgt.

„Die Kleine hat es nicht geschafft.“

 

Das Klirren riss beide aus dem Schlaf. Eine Fensterscheibe war zu Bruch gegangen. Draußen flackerte ein seltsames Licht. Vorsichtig ging er ans Fenster. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Mitten im Garten stand ein brennendes Kreuz und ringsherum Männer mit weißen Kapuzen, die still zum Haus blickten. 

 

Als sie die Stadt verließen, sah John noch einmal in den Rückspiegel. „Welcome to Hope, GA“. Er musste bitter auflachen. Dann gab er Vollgas.

 

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