Von Ina Rieder

Eines Tages, in einem meiner dunkelsten Momente, begann ich, den Himmel zu malen. Ich stand mit geschlossenen Augen vor der noch leeren Leinwand meiner Mutter, atmete ein paar Mal tief ein und spürte den stillen Schrei in mir so deutlich wie das nahe Donnern eines Sturms. Dann tauchte ich den Pinsel in tiefstes Blau und setzte den ersten Strich, der sich friedlich auf die Leinwand legte: leicht und fließend, als würde ich den Himmel selbst streicheln und das Himmelreich mich. Nach einer Weile vergaß ich das Brennen zwischen meinen Beinen und das Ziehen in meinem Unterleib. Stattdessen breitete sich ein Gefühl der Stille in mir aus. 

Das tiefe, dröhnende Geräusch der zufallenden Eisentür von gegenüber reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue durch das bodentiefe Fenster. Da ist er wieder, dieser eigenartige Typ mit dem kalkweißen Gesicht. Von der Ferne kenne ich ihn schon lange, aber ich habe noch nie ein Wort ihm gewechselt. Die schwarze Kapuze seines Sweatshirts verhüllt sein Antlitz, sein Blick zu Boden gerichtet, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Das Licht des vollen Mondes fällt auf seine helle Haut, die diese noch weißer erscheinen lässt. Tagsüber habe ich ihn noch nie gesehen, immer nur nachts, wenn die Sonne bereits untergegangen ist. 

Oh, was macht er jetzt? 

Ich beobachte ihn, wie er direkt auf mein Atelier zugeht und plötzlich klingelt es an meiner Tür. 

Soll ich ihm öffnen oder nicht?

Ich besinne mich, dass alle Lichter brennen, da kann ich es wohl nicht bringen, so zu tun, als wäre ich nicht zu Hause. Ich seufze leise und öffne ihm. Das steht er, das „Kalkgesicht“ von gegenüber. Er streift seine Kapuze nach hinten. Zum ersten Mal sehe ich seine feinen und zugegebenermaßen sympathischen Gesichtszüge. Ich blicke in seine dunklen Augen, die mich an schwarze Oliven erinnern, die ich so gerne mag. Sie erscheinen mir tiefgründig, aber auch geheimnisvoll.

„Ja, bitte?“

Ich fixiere erwartungsvoll sein milchiges Gesicht. 

„Hallo, ich bin Tim, dein Nachbar von gegenüber. Ich wollte dich etwas fragen.”

„Okay … Worum geht es denn?“

Sein Blick verflüchtigt sich, er zieht die Schultern nach oben und seine Hände zittern leicht. Ich sehe das Unbehagen in seinen Augen und spüre, wie schwer es ihm fällt, offen zu reden. Seine Nervosität und Unsicherheit berühren mich. Ich empfinde Mitleid mit ihm und wäge kurz ab, ob ich ihm vertrauen kann. Er wirkt hilfsbedürftig auf mich und ich glaube einen Funken Verzweiflung in seinem Antlitz zu erkennen.

„Möchtest du vielleicht kurz reinkommen?“

„Ja, das wäre nett.“

Ich höre die Erleichterung in seiner Stimme, trete zur Seite und schließe die Tür hinter ihm. 

Tim geht ein paar Schritte, sein Blick schweift durch den Raum, dann bleibt er abrupt stehen. Seine Atmung wird schneller und flacher, und er beginnt leicht zu zittern. Seine Augen huschen von einem Gemälde zum nächsten, als ob er nach einem Ausweg suchen würde.

Er reibt seine bebenden Hände aneinander, als könnte er die Nervosität damit wegwischen. Sein Blick senkt sich immer wieder auf den Boden, nur um dann erneut zu meinen Malereien zu wandern.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, nein … Ich weiß nicht… Ich habe nicht damit gerechnet, dass du so viele Bilder hast, die den Himmel zeigen.“

„Okay …“, sage ich, „Wir können gerne auf meine Terrasse gehen, wenn sie dich stören. Ich wollte mir ohnehin gerade einen Eistee genehmigen. Vielleicht magst du auch einen?“

Tim nickt, folgt mir nach draußen und setzt sich auf den Treppenabsatz, der in meinen Garten führt. Ich schenke ihm ein Glas ein, reiche es ihm und setzte mich mit etwas Abstand neben ihn. 

„Danke.“

„Gefallen dir meine Bilder nicht?“

„Nein, so ist das nicht! Es ist mir peinlich, aber … „

„Aber?“

„Ich habe Angst vor dem Himmel.“

Meine Gedanken kreisen. Nach einer Weile beginnen sich die Fragezeichen in meinem Kopf langsam zu lösen.

„Verstehe. Ist das der Grund, warum du tagsüber nie das Haus verlässt?“

„Ja, ich leide leider an Uranophobie.“

Als mich die Ironie der Situation wie ein Blitz trifft, kann ich nicht anders, als zu schmunzeln. Je mehr ich darüber nachdenke umso lustiger finde ich es. Tim sieht mich überrascht an.

Entschuldige bitte! Es ist nur… Du fürchtest dich vor dem Himmel und suchst ausgerechnet bei mir nach Hilfe!”

„Ja, stimmt … das ist tatsächlich ein sehr eigenartiger Wink des Schicksals …“

Das anfängliche Zucken meiner Mundwinkel steigert sich in ein unbändiges, lautes Lachen, das sich in einen regelrechten Anfall ausdehnt. Ich halte mir den Bauch. Tim kann offensichtlich nicht anders und steigt in mein glucksendes Gelächter mit ein. Wir schaukeln uns gegenseitig auf. Schließlich liegen wir gekrümmt vor Lachen mit Tränen in den Augen nebeneinander auf dem gefliesten Terrassenboden, der sich noch immer warm von der Sonne anfühlt. 

„Das war irgendwie …“, beginnt Tim.

„Heilend?“, beende ich den Satz und sehe in seine dunklen Augen. 

„Ja, ich fühle mich irgendwie erleichtert!“

Es kommt mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Uns scheint etwas zu verbinden, das ich noch nicht richtig fassen kann. Ich mag die ruhige Energie, die von ihm ausgehet. Wir liegen nebeneinander, den Blick auf den weißen Mond gerichtet. 

„Warum all diese Bilder?“, fragt Tim nach einer Weile. 

Ich höre seine Worte, doch innerlich fühle ich mich wie gelähmt. 

Nach jener schicksalsträchtigen Nacht habe ich ihn nie wieder gesehen. Er war irgendein Fremder, der zu einer der zahllosen Partys, die meine Mutter mit ihren „Künstlerfreunden“ ausrichtete, in Begleitung von jemanden gekommen war. Nach wie vor hat er für mich kein Gesicht und keinen Namen. Wenn ich an ihn denke, dann ist da nur dieses schwarze Loch, das auf einem langen, zu schmalen Hals sitzt. Ab und zu höre seine säuselnde Stimme in meinem Ohr: „So ist es brav…“ oder ich nehme seinen Duft nach Tabak, Alkohol und Schweiß wahr. 

„Entschuldige! Ich wollte nicht …!“, unterbricht Tim meine Gedanken. 

„Nein, ist schon gut. Wenn ich den Himmel male, überkommt mich eine seltene Ruhe und ein Gefühl inneren Friedens breitet sich in mir aus. Ich vergesse dann alle meine Sorgen.“

„Verstehe.“

„Ich kann mir im Gegenzug ein Leben wie deines gar nicht vorstellen. Wie lange ist es her, dass du tagsüber draußen warst?“

„Zu lange. Das Ganze begann bereits in meiner Kindheit, als meine Mutter am helllichten Tag auf offener Straße erschossen wurde.“

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, stattdessen drücke ich kurz sanft seine Hand.

„Die Vorstellung von der Unendlichkeit und die eigene Bedeutungslosigkeit im Vergleich zum riesigen Universum haben mir immer schon Angst gemacht. Aber nach diesem Tag wurde es immer schlimmer…“

„Deine Angst vor dem Himmel?“

„Ja! Jedes Mal, wenn ich ihn tagsüber sehe, kommt alles wieder hoch und ich bekomme Panikattacken.“ 

„Das tut mir leid. Wenn ich bemerke, dass Angst in mir hochsteigt, dann murmle ich ein heilendes Mantra vor mich hin.“

Tim setzt sich auf und schaut mich mit großen Augen an. „Und welches ist das?“

„Die Vergangenheit ist vorbei! Ich bin sicher.“

„Die Vergangenheit ist vorbei! Ich bin sicher“, wiederholt Tim und lächelt. 

„Was wolltest du mich eigentlich fragen?“, will ich wissen, um vom Thema abzulenken. 

„Meine Medikamente, die ich dringend brauche, müssten morgen in der Apotheke abgeholt werden. Normalerweise erledigt das mein Onkel für mich, aber ihn hat die Grippe erwischt. Könntest du das vielleicht für mich übernehmen?“

„Klar, kann ich das für dich machen! Aber schöner wäre es, wenn du es selbst machen könntest.“

„Ich weiß, aber meine Angst ist zu groß.“

„Vielleicht schaffst du es doch Schritt für Schritt dich mit dem Tageshimmel anzufreunden. Und wenn es nur eine Minute am Tag ist.“

„Hm, vielleicht …! Vielleicht solltest du aber auch mal etwas anderes malen als nur den Himmel!“

Tim zwinkert mir grinsend zu.

„Okay, okay, ich habe es verstanden. Ich gehe morgen zur Apotheke und besorge dir deine Medikamente, und später hole ich dich zur Abenddämmerung für einen kurzen Spaziergang ab.“

„Das klingt nach einem Plan!“

Tim steht auf und kramt in seiner Hosentasche herum. „Hier ist meine E-Card. Das Rezept ist dort aufgeladen.“

„Alles klar. Du kannst über den Garten zurückgehen. Dann musst du meine Himmelbilder nicht noch einmal ansehen.“ Ich zwinkere ihm zu, sehe meinem Nachbar nach und bleibe nachdenklich zurück.

Er hat mir meine Kindheit geraubt. Danach war nichts mehr wie vorher. Ich schob eine unsichtbare Wand vor mich her, die zwar niemand sah, aber deutlich zu spüren war, mich gleichzeitig ein- und ausgrenzte. 

Ich fühlte mich wie eine Erwachsene gefangen in dem Körper eines Kindes. Bis heute habe ich es niemanden erzählt. In einigen meiner Himmelbilder erkennt man allerdings die Wut, die Ohnmacht oder die Traurigkeit, besser als ich es je mit Worten ausdrücken könnte. Meine Mutter spürte, dass etwas anders war, fragte mich aber nie nach dem Grund. Stattdessen sorgte sie dafür, dass die Leinwände nie ausgingen und ausreichend Farbe vorhanden war. 

Und so fand ich nachts als der Himmel am dunkelsten war meinen Frieden in Bildern, die den Himmel in seinen prächtigsten Farben zeigen. 

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