Von Winfried Dittrich

»Mama, das ist unfair. Ich möchte da mitfahren! Alle anderen Kinder dürfen es doch auch!«

»Michi, ich habe mit Frau Kralver telefoniert. Leider geht es nicht, weil du noch nicht so weit bist.«

 

*** Dreißig Minuten später ***

»Dann möchte ich an dem Tag zu Hause bleiben!«

»Michi, es ist eine Schulveranstaltung. Ich muss dich da hinschicken.«

 

*** Dreißig Stunden später ***

»Michi, es ist Zeit zum Aufstehen. Heute creme ich dich noch ein, bevor du zur Schule gehst. Ihr seid nach dem Unterricht den ganzen Tag draußen.«

»Mama, ich möchte nicht mit. Sag, ich hab‘ Fieber.«

»Michi, nein, ich muss auf der Station einspringen. Ich helfe heute und morgen am Ende der Frühschicht und am Anfang der Spätschicht aus, und ich kann dich nicht zu Hause lassen, wenn du nicht krank bist. Papa holt dich am Ende ab. Es tut mir so leid!«

 

*** Dreißig Tage später ***

»Mama, ich möchte nochmal einen Kurs machen. Diesmal strenge ich mich richtig an und schaffe ich es bestimmt!«

 

*** Dreißig Jahre später ***

Ich öffne den Karton, auf dem »Schule« steht, und finde Schreib- und Rechenhefte, Bücher und Zettel aus meiner Grundschulzeit. Ich blättere einige durch und werfe sie in den Korb, den ich für Altpapier aufgestellt habe. Zwischen zwei Heften finde ich die alte Urkunde über das Juniorretter-Abzeichen der DLRG, lege sie an die Seite, um sie aufzuheben.

Eigenartiges Gefühl, die Wohnung der eigenen Mutter auszuräumen, nach 24 Jahren. Zwei davon lebte ich mit mir zusammen, mehr oder weniger. Eher weniger. Mutter hatte mir ein Bett aufgestellt, einen Schreibtisch, und sie lagerte in diesem Raum bis zuletzt Dinge, die mir gehörten. Aber eigentlich war ich selten da. Entweder verbrachte ich Zeit bei meinem Vater, wo ich auch ein eigenes Zimmer hatte, oder, zu der Zeit, noch im Schwimmbad.

»Den Inhalt der Schränke in den anderen Zimmern sollen wir wirklich entsorgen?«, fragt der Vorarbeiter der Entrümpelungstrupps. »Das sind doch noch gute Sachen.« Ich nicke ihm zu, und er verlässt den Raum.

»Hier dürfen Sie ran, sobald ich mit den Kartons fertig bin!«, rufe ich ihm hinterher.

Einen großen grauen Müllsack habe ich an der Türklinke aufgehängt und fülle ihn nach und nach mit Überbleibseln und denjenigen Erinnerungsstücken, die ich nicht ins Altpapier werfen kann – man kann nicht alles aufheben und mit sich herumschleppen.

In dem alten Umzugskarton komme ich dem Boden näher. Irgendjemand muss ihn in all den Jahren mal ausgeräumt und umgeschichtet haben, denn ich finde nach und nach die Urkunden über meine Rettungsschwimmerabzeichen in Bronze, Silber und Gold, die ich mir in der Zeit auf der weiterführenden Schule mühsam erschwamm und erarbeitete. Meine Eltern waren sehr stolz auf mich, beide, als ich, nachdem ich so spät erst das Seepferdchen gemacht hatte, jahrelang eifrig, motiviert und ausdauernd weitermachte, bis ich alle Abzeichen gesammelt hatte, die man in unserer Stadt zu der Zeit ablegen konnte. Ich lege sie ordentlich an die Seite, auf die andere Urkunde, zu den wenigen Dingen, die ich nachher mitnehmen werde, bevor ich mich dem restlichen Kartoninhalt zuwende.

Nachdem ich viele weitere Blätter in den Altpapierkorb gelegt habe, halte ich etwas in der Hand, das ich nicht erwartet habe. Dessen Existenz ich nicht einmal kannte. Meine Mutter muss es hier hineingelegt haben. Es ist ein gedrucktes Fotoalbum mit der Aufschrift »2021 bis 2025 – Vier Jahre Entdeckungsreise der Seehundklasse«. Ich blättere es durch. Es ist eine Fotosammlung über meine Grundschulzeit, die jemand aus dem Kreis der Eltern zum Abschluss angefertigt haben muss. Einschulung, Wanderungen, Eisdielenbesuche, die erste Klassenfahrt. Merkwürdig, dass meine Eltern mir das Album nie zeigten.

Und dann blicke ich auf einige Fotos, die mir unbekannt vorkommen. Die Kinder aus meiner Klasse auf einer Wiese an einem Wasser. Das Kapitel ist überschrieben mit einem Teil unseres alten Schulmottos: »Unterwegs zum WIR – die letzte Etappe«. Ich gehe die Bilder durch und wundere mich. War ich da krank? Ich erinnere mich nicht.

Ich sehe mir ein Gruppenfoto an, entdecke zuerst meine Kappe, dann mein Gesicht, und der Anblick trifft mich wie ein Faustschlag in der Magengegend. Wir stehen da, die ganze Klasse, vor dem Boot mit dem großen Drachenkopf am Bug. Die ganze Klasse steht dort mit der Lehrerin, Frau Kralver, und den Drachenbootführern, die am Ruder und an der Trommel eingesetzt wurden. Jedes Kind ausgestattet mit einer Schwimmweste und einem Paddel, jedes Kind außer mir.

Als Kind belauschte ich meine Mutter oft bei Telefonaten, die sie führte, und versuchte, mir deren Inhalt zusammenzureimen. Eines – das hatte ich bis jetzt vergessen hatte – trifft mich wie ein weiterer Schlag:

»Ja, hallo Frau Kralver, ich möchte mit Ihnen über das Abschiedsfest für die Seehundklasse sprechen … Ja. … Sie wissen ja, dass mein Sohn noch nicht schwimmen kann … Wie meinen Sie das, dass man es ihm einmal vor Augen führen muss? … Nein, wir haben uns um Kurse bemüht und auch welche besucht, aber die verfügbaren sind für uns im Moment nicht bezahlbar … Er kann doch nichts dafür, er braucht für manche Dinge einfach etwas mehr Zeit … Ich weiß, dass Sie das alles beim Elternabend schon besprochen haben. Ich musste an dem Abend auf der Arbeit einspringen, und mein Mann musste auf Michi aufpassen … Also haben Sie schon alles gebucht? … Achso … Na ja, also, wenn alle anderen Eltern schon dafür gestimmt haben …«

Plötzlich ist meine Erinnerung sehr klar. Meine Mutter musste an dem Tag wieder einmal spontan einspringen. Während sie arbeitete, verbrachte ich den Nachmittag des Abschiedsfestes ohne meine Eltern. Mein Vater hatte kurz zuvor seinen Arbeitsplatz verloren und musste, damit das Amt weiter Geld bezahlte, an dem Tag bei einer Firma zur Probe arbeiten. 

Das Abschiedsfest verbrachte ich damit, keine Schwimmweste anzuziehen, kein Paddel in die Hand zu nehmen, kein Gehör zu finden, als ich mich weigern wollte, mich vor dem Boot mit für das Gruppenfoto aufzustellen. Ich verbrachte diesen Nachmittag, ohne dass jemand mit mir ein Spiel aus der Spielesammlung spielte, die meine Klassenlehrerin mir für die zweieinhalb Stunden Wartezeit hingestellt hatte, die ich während der Bootstour im Beisein der anderen Eltern irgendwie überbrücken sollte.

Ich bemerke, dass ich meine Augen zugekniffen habe und öffne sie. Das Gruppenfoto ist nass. Nass geworden von Tränen, die ich damals hätte weinen sollen.

»Jungs brauchen doch bei sowas nicht zu weinen …«, hallte die oft wiederholte Weisheit meiner Lehrerin damals in meinen Ohren. Vor ihr wollte ich das nicht mehr.

Ich atme durch. Meine Rettungsschwimmerurkunden, alle vier, nehme und lege ich in das Fotoalbum, in das aufgeschlagene Abschiedskapitel, klappe es zu und lasse es in den Altpapierkorb gleiten.

 

Nun bin ich bereit, ein offenes Kapitel meiner Grundschulzeit zu schließen:

Eine Etappe auf der Reise zu MIR.

 

Version 2/ca. 7000 Zeichen inkl. Leerzeichen