Von Bergthora Eldey
(Nordisland, um 1670)
An einem kalten Sommertag konnte Guðmundur morgens nicht aufstehen. Er war gerade vier geworden und seine Mutter hatte gesagt, er sei nun alt genug, um selbst aus der Wiege zu klettern, und er hatte sich wie ein großer Junge gefühlt. Aber jetzt gehorchten seine Beine nicht. Ängstlich rief er nach der Mutter, die ihn mit einem „Komm, sei nicht albern!“ aus der Wiege hob und auf den Boden stellte. Guðmundurs Knie knickten ein und er schlug sich die Stirn auf.
Der Pfarrer kam, um für den kranken Jungen zu beten. Die Großmutter trug dem Vater auf, Guðmundur in den warmen Quellen von Laugarbakki zu baden. Nichts half.
Guðmundurs Eltern hatten einmal vom Gefängnis erzählt, einem finsteren Ort in Kopenhagen, wo man böse Menschen einsperrte. Jetzt war er selbst eingesperrt, in der muffigen Torfstube, in einem Leib mit stöckchendünnen Beinen, die ihn nicht mehr trugen, und Armen, die nicht mehr gehorchten. Womit hatte er das verdient?
Die Eltern waren den ganzen Tag bei der Heuernte, die wegen des kalten Wetters zu mager ausfiel, um das Vieh durchzufüttern. Im Winter zog der Vater zum Fischen nach Snæfellsnes und kam mit leeren Händen heim: „Das Meereis!“
Dennoch pachteten die Eltern ab Juni eine Kate auf Snæfellsnes. Guðmundur ließen sie bei Verwandten in Staðarbakki. „Wir holen dich, wenn wir können. Sei tapfer!“
Bauer Egill hatte Guðmundur aufgenommen, weil er dazu verpflichtet war: Als Vetter seines Vaters war er der nächste Verwandte, der einen nutzlosen Esser durchbringen konnte. Den gelähmten Jungen zu versorgen, überließ er seiner Frau Ása.
Ása sang Guðmundur nie etwas vor, wie seine Mutter es getan hatte, und verzog das Gesicht, wenn sie ihn aus dem Bett hob, damit er den Nachttopf benutzen konnte. Im Sommer, wenn alles bei der Heumahd war, lag er allein in der Stube, ohne andere Gesellschaft als die Fliegen an der Decke. Im Winter wurde es besser, da füllte sich die Stube und es wurden Geschichten erzählt und Gedichte aufgesagt; der gebildete Egill las sogar aus der Bibel vor. Guðmundur lauschte begierig. Er würde einen Geschichtenvorrat für den Sommer anlegen, so wie die Erwachsenen Heu für den Winter ernteten.
Aus dem Haus kam er nur, wenn der Haushalt zur Kirche ging und Egill nicht vergaß, dem Knecht zuzurufen: „Gísli, trägst du den Jungen?“ Guðmundur liebte den kurzen Weg zur Kirche, wenn die Möwen kreischten oder Schafe im Schnee nach Wintergras gruben, aber er hasste die Blicke der Kirchgänger, wenn er hilflos in Gíslis Armen lag, hasste es, wie Gísli sich abwandte, als müsse er der Gemeinde diesen Anblick ersparen.
In Guðmundurs zweitem Sommer in Staðarbakki stiefelte seine Großmutter herein, eine rüstige Witwe von gut fünfzig Jahren. „Denk dir, Guðmundur, ich bin Magd in Ytra-Bjarg geworden und kann dich öfters besuchen kommen, wenn du magst.“
Großmutter war gekommen! Er war nicht mehr allein auf der Welt! Guðmundur kamen die Tränen, aber er wollte nicht heulen, nicht vor Ása, und so flüsterte er: „Können wir rausgehen?“
Die Großmutter trug ihn hinunter zum Fluss, hielt ihn auf dem Schoß und ließ ihn weinen. „Wenn ich könnte, würde ich deine Krankheit auf mich nehmen. Oder dich bei mir wohnen lassen. Aber ich bin zu arm. Sind sie gut zu dir in Staðarbakki?“
Guðmundur schüttelte wütend den Kopf. „Sie behandeln mich wie ein krankes Schaf! Nur dass ich keine Wolle gebe! Ich glaube, sie wissen nicht mal meinen Namen –“
„Mein armer Junge“, sagte die Großmutter und nahm tröstend seine Linke. „Guðmundur, was war das? Mir schien, als hätten sich deine Finger bewegt!“
Guðmundur sammelte seine Kraft und befahl der Hand, sich zu bewegen. Langsam beugten sich die Finger zur Faust.
In den nächsten Wochen übte er unablässig, die linke Hand zu bewegen, und bald gehorchten alle Finger und das Handgelenk, und in der Rechten Handgelenk und Daumen. Im August kehrte die Kraft in seinen Schultern wieder, und die Großmutter trug ihn hinaus und ließ ihn üben, auf die Ellenbogen gestützt durchs Gras zu kriechen. Jeden Abend betete Guðmundur um einen weiteren Fortschritt. Vergebens. Ellenbogen und Beine blieben lahm wie zuvor.
Im übernächsten Winter beschloss Egill, seinen Sohn Lesen und Schreiben zu lehren. Er setzte sich auf das Bett, das Ólafur und Guðmundur teilten, winkte den unwilligen Sohn zu sich und schlug die Bibel auf. „Das ist ein A…“
Guðmundur stemmte sich auf die Ellenbogen und kroch näher.
In den nächsten Wochen sog er Buchstaben und Worte auf, und wenn Egill seinen Sohn abhörte, wusste Guðmundur die Antwort schneller als Ólafur. Endlich etwas, worin er gut war! Doch eines Morgens trat Ása an sein Bett. „Du wirst aufhören, Ólafurs Unterricht zu belauschen.“
„Aber –“
„Kein Aber, Junge. Du lenkst ihn ab!“
Von da an saßen Egill und Ólafur beim Unterricht auf einem anderen Bett. Wenn sie fertig waren, reichte Egill Guðmundur mitunter die Bibel, damit er weiterüben konnte – bis Ása dahinterkam und ihm das Buch wegnahm. Guðmundur ballte die Linke und schmiedete wütende Reime.
Einst werd ich berühmter sein
Als Ólafur, der Tropf.
Denn was ich nicht hab im Bein,
habe ich im Kopf!
War ‚hab‘ und ‚habe‘ ein annehmbarer Stabreim? Er würde Großmutter fragen.
Egill ist kein schlechter Mann,
Ása bleibt ein Drachen.
Lächelt fromm den Pfarrer an,
piesackt dann die Schwachen.
Warte nur, bis der Pfarrer im Herbst wieder Hausbesuche macht…!
Pfarrer Páll war ein müder, alter Mann. Er begann den Besuch mit einem Schwätzchen, ehe er die Hausbewohner einzeln über ihren Glauben befragte. Bei Guðmundur wollte er es kurzhalten: „Du wirst ja kaum groß gesündigt haben…“
„Doch!“ sagte Guðmundur. „Ich habe versäumt, nach Kräften Gottes Wort zu studieren.“
„So?“
„Aber ich bitte um Nachsicht. Ása legt die Bibel immer da oben hin, wo ich nicht drankomme.“
Mach schon, dachte Guðmundur. Weis sie zurecht!
Doch der Pfarrer murmelte nur: „Ja, ja, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach… Egill, vielleicht wird es Zeit, dass er mit dem Katechismus anfängt. Acht Fragen bis zum nächsten Hausbesuch?“
Müsst ihr so über meinen Kopf hinwegreden, dachte Guðmundur. „Pfarrer Páll, ich wette mit Euch um einen Stoß Papier: Wenn Ihr mir Euren Katechismus leiht und Ása mich in Frieden lässt, kann ich bis Ostern das ganze Buch auswendig!“
Da sah Páll ihn zum ersten Mal richtig an. „Wetten ist unchristlich. Aber hier hast du das Buch.“
Guðmundur fand den Katechismus, den Trittstein zum Erwachsenwerden, eher langweilig, aber Ende Februar konnte er ihn auswendig. Páll ließ Guðmundur in sein Haus tragen und fragte ihn ab. Er bestand fehlerlos.
„Erstaunlich. Nun, für die Konfirmation bist du trotzdem zu jung. Wozu wolltest du damals Papier?“
„Für Gedichte, Pfarrer Páll.“
„Kannst du denn schreiben?“
„Noch nicht. Aber es geht wie lesen, nur umgekehrt, oder? Die Frage ist, ob ich die Feder halten kann.“
„Versuch es!“
Es war nicht einfach, denn Guðmundur konnte nicht am Tisch sitzen. Also legte er sich auf den Bauch, die Ellenbogen aufgestützt, das Papier vor sich auf einem Brett. Weil er mit Links schreiben musste, verwischte er ständig die Tinte. Nach ein paar Wochen beschloss er, auf dem Kopf schreiben. Das ging von rechts nach links.
Pfarrer Páll, zunehmend von Gicht geplagt, überließ ihm bald einen Großteil seiner Schreibarbeit und entlohnte ihn mit Papier und Lesestoff.
„Der Pfarrer sollte lieber uns für Guðmundurs Unterhalt entschädigen, wenn er seine Arbeit so schätzt“, schimpfte Ása.
Guðmundur horchte auf. Wenn er nur Arbeit finden und dem Dasein als armer Verwandter entkommen könnte! Konnte er Hilfspfarrer werden? Predigten schreiben musste zu lernen sein, wenn er eifrig die Bibel studierte…
Aber Páll schüttelte mitleidig den Kopf. „Dazu müsstest du die Lateinschule besuchen, und einen so lahmen Jungen werden sie nicht nehmen.“
Jeden Frühling ließen seine Eltern ihn durch die heimkehrenden Winterfischer grüßen. Sie waren zu arm, um ihren Sohn zu sich holen.
Seit er zwölf war, schickte Guðmundur ihnen jedes Jahr einen Brief mit Gedichten, denn er wusste noch, dass seine Mutter selbst gern Reime schmiedete. Der Pfarrer von Stapi las ihnen Guðmundurs Briefe vor und schrieb ihre Antwort nieder.
„Stell dir vor“, erzählten sie im fünften Brief, “Als der Pfarrer uns deine neuen Werke vorlas, kam Bezirksrichter Jakob herein und sagte: ‚Pfarrer Jón, ich wusste nicht, dass Ihr so geistreiche Gedichte schreibt!‘ Jón erklärte, wie es steht, und da lachte Jakob und sagte: ‚Schickt dem jungen Dichter meine Anerkennung.‘ Er ist überhaupt ein kluger Mann. Er will, dass alle Kinder in Snæfellsnes lesen lernen.“
Guðmundurs Herz klopfte. Suchte der Bezirksrichter einen Lehrer? Könnte er doch noch Arbeit finden? Er schrieb Jakob ein Dankgedicht für seine freundlichen Worte, bat Páll um ein Empfehlungsschreiben und beschwor seine Mutter, bei Jakob für ihn zu werben und ihm bloß nicht seine älteren, holprigen Werke zu zeigen.
Ein Jahr später erhielt Guðmundur eine Einladung nach Stapi. Die Winterfischer, die ihn mitnahmen, waren wenig entzückt von ihrem gelähmten Reisegenossen, setzten ihn in einen Korb, den sie an einen Packsattel banden, und überließen ihn seiner Furcht. Was, wenn das Pferd in einer Furt strauchelte?
Am vierten Abend hielten sie vor einem stattlichen Haus. “Eure Fracht, Herr Richter!”
Ein Fischer hob Guðmundur aus dem Korb, und ihm fiel auf, dass sein Dienstherr sichtlich zögerte, ehe er vortrat und ihn in die Stube trug.
Jakobs Kinder nahmen kein Blatt vor den Mund. „Soll das unser Lehrer sein? Der sieht aber seltsam aus!“
Guðmundur brach der Schweiß aus, aber er versuchte zu lächeln.
Zwar erschreckt es manchen Mann,
mich gut anzuschauen.
Doch ein lahmer Lehrer kann
Keine Schüler hauen.
Die Kinder sahen ihn verdutzt an. Die Jüngste kicherte. „Wie reimst du das so schnell? Kannst du mir das beibringen?“
Gott sei Dank, sie mochten Gedichte!
„Ich denke schon“, sagte Guðmundur. „Wenn du fleißig bist.“
Guðmundur Bergþórsson (1657-1705) war Lehrer und einer der größten Dichter Islands. Damit konnte er trotz seiner Krankheit seinen Unterhalt bestreiten.
V2 – 9981 Zeichen