Von Barbara Hennermann

Was für ein hektischer Tag!

 

Als erstes fiel am Morgen der Kaffeeautomat aus und Sylvia musste sich mit einem uralten Rest Nescafe behelfen.

Als sie die Wohnungstür zuziehen wollte, klingelte das Telefon.

Es war Mutter.

„Sylvi, Liebes, kannst du in der Mittagspause rasch vorbeikommen und mich zur Krankengymnastik bringen?“

„Ach Mama, ich hab doch nur eine Stunde Zeit! Warum nimmst du dir denn kein Taxi?“

Kurze Pause, dann in weinerlichem Ton die Antwort:

„Ja gut, wenn es dir zu viel ist, für deine alte Mutter …“

„Nein Mutti, lass gut sein, ich komme dich abholen.“

Natürlich kam sie zu spät ins Büro und erntete einen bösen Blick von Frau Pause am Nachbartisch. Garantiert machte die sich wieder eine Notiz für den Chef …

 

Dabei sollte heute doch ein ganz besonderer Tag werden!

Sylvia holte verstohlen das Bild aus ihrer Tasche.

Mein Gott, was für ein hübscher und sympathischer Mann!

Sie strich mit dem Finger über die angegrauten Schläfen, fuhr das markante Kinn nach und verweilte auf den vollen Lippen …

Heute Abend würde sie ihn kennenlernen!

Ihr Herz machte einen Sprung.

Heute Abend würde sie seine sonore Stimme nicht mehr durch das Telefon, sondern direkt an ihrem Ohr hören, nein, besser: spüren.

 

Mutter hatte ihr mal wieder einen Strich durch ihre Planung gemacht.

Eigentlich wollte sie in der Mittagspause zum Friseur gehen, das musste sie nun auf Büroschluss verschieben.

Ach Gott, irgendwie wird es sich schon richten …

 

Sylvia wuselte durch den Tag

Mutter war grantig gewesen, weil sie nicht auf  das Ende ihrer Behandlung wartete und sie wieder nach Hause fuhr.

„Kind, werde du erst einmal so alt wie ich, dann wirst du schon sehen …“

Im Büro verzögerte die telefonische Anfrage eines Kunden ihr pünktliches Verschwinden und der Friseur hatte deshalb eine andere Kundin vorgezogen.

 

Und bei alledem brannte ihr das Date im Herzen, dass ihr davon ganz schwindelig wurde.

Wie würde er wohl wirklich aussehen? Bilder ließen sich ja schönen.

Offen gestanden hatte sie selbst auch ein bisschen Photoshop genutzt … nur ganz wenig selbstverständlich, nur ein paar Falten und graue Haare retuschiert … aber er wusste ja, dass sie 50 plus (nun ja – plusplus) war … wie er auch … da konnte doch keiner gertenschlanke Unberührtheit erwarten, oder?

 

„So, Frau Staudenbach, wunderbar ist´s geworden!“

Der Friseur riss sie aus ihren Gedanken und ließ den Spiegel um ihren Kopf kreisen.

„Zehn Jahre jünger, Frau Staudenbach, mit der Kurzhaarfrisur!“

Er lachte meckernd.

Nur rasch weg aus dem Salon!

Das Trinkgeld fiel in ihrer Eile viel zu üppig aus. Sei´s drum.

 

Endlich!

Sylvia atmete tief durch.

Geduscht. Dezent geschminkt.

Die neue Bluse mit dem gerade noch anständigen Ausschnitt würde seinen Blick von ihrer Taille ablenken, die sich seit längerem schon mit der Fülle des Wohlstandes umgeben hatte.

Sie schlüpfte ins Auto und zog die Tür zu.

Autobahn oder Landstraße?

Jetzt waren es nur noch fünfzig Kilometer,  die sie von ihrem Glück trennten.

„Hans-Eberhard, ich komme!“

 

I was bruised and battered
And I couldn’t tell what I felt
I was unrecognizable to myself
Saw my reflection in a window
I didn’t know my own face
Oh brother are you gonna leave me wasting away
On the streets of Philadelphia

 

O, the Boss auf Bayern 3!

Gerade die richtige Musik … es ging aufwärts … auch mit ihrer Stimmung …

Sie liebte Bruce Springsteen!

Streets of Philadelphia.

Sylvia summte die Melodie mit, der Text war unwichtig. Nur diese samtene Stimme … würde Hans-Eberhard sie ebenso verzaubern?

„Bald wirst du es wissen, Sylvi.“

Lächelnd wiegte sie sich im Takt.

 

Zuerst kam der Donner.

Dann der Blitz. Er tauchte alles in gleißendes Licht.

 

Zutiefst überrascht kniff Sylvia die Augen zusammen.

Woher kam diese plötzliche, unerträgliche Helligkeit?

Hans-Eberhard?

Der Rest der Fahrt war so rasch verflogen!

 

I walked the avenue till my legs felt like stone
I heard the voices of friends vanished and gone
At night I could hear the blood in my veins
Just as black and whispering as the rain
On the streets of Philadelphia

 

Die Gestalt trat aus dem Licht. Bewegte sich auf Sylvia zu.

Kam näher und näher.

Hans-Eberhard?

O nein – the Boss?

Bruce?

Wenn nur das Licht sie nicht so blenden würde!

Wer war das? Schwarz gekleidet, vermummt?

 

Ain’t no angel gonna greet me
It’s just you and I my friend
And my clothes don’t fit me no more
I walked a thousand miles just to slip this skin

 

Er trat neben sie.

Sylvia sah die knochige Hand.

Den Schädel, weiß, mit unendlich großen schwarzen Augenhöhlen.

Melancholie strahlte er aus, ewig währende Trauer.

Was wollte er von ihr? Was hatten sie miteinander zu tun?

Doch jetzt – –

O mein Gott! Er lächelte!

Hatte man ihr nicht immer erzählt, er würde grinsen?

Aber nein, er lächelte!

Sanft und liebevoll.

Berührte mit der knochigen Hand ebenso sanft ihre Schulter.

Das Licht um ihn herum verlor an Bedrohlichkeit, wurde warm und heimelig.

 

The night has fallen, I’m lyin‘ awake
I can feel myself fading away
So receive me brother with your faithless kiss
Or will we leave each other alone like this
On the streets of Philadelphia

 

Sylvia seufzte auf.

Hans-Eberhard oder Bruce Springsteen,

oder wer auch immer —

sie würde ihm folgen.

Ihr Körper entspannte sich, fiel aus dem gleißenden Licht in tröstliche Dämmerung …

 

Da durchfuhr sie ein stechender Schmerz, der sie in die Höhe warf, sich aufbäumen ließ.

Zurückwarf.

Die Dunkelheit wich und wieder beherrschte sie das schmerzende Licht.

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

 

„Frau Staudenbach! Frau Staudenbach?“

Jemand schüttelte sie am Arm.

„Frau Staudenbach, bleiben Sie mal schön hier bei mir!“

Wie durch Watte drangen die Worte in ihr Bewusstsein.

Mühsam blinzelte sie, sah verschwommen mehrere Gestalten um sich herum stehen.

Ein unbekanntes Gesicht beugte sich über sie.

„Frau Staudenbach, Sie sind im Kreiskrankenhaus, Sie hatten einen Unfall. Wir haben schon das Schlimmste befürchtet. Aber wir konnten Sie zum Glück wieder zurückholen.“

 

hb 06/19 V2