Von Nadja Kaspar

Es war ein warmer Samstagabend im Juli. Großmutti saß, in eine leichte Baumwolldecke gehüllt, in ihrem Korbstuhl auf der Terrasse und summte vor sich hin. Ich war gerade ins Haus gegangen, um einen Rotwein und drei Gläser zu holen. Roman, mein Bruder, schmierte Käsestullen. Wenig später saßen wir rechts und links neben Großmutti, genossen das einfache Abendessen und freuten uns am Anblick des Gartens, mit seinen rosafarbenen Dahlien, den prunkvoll roten und gelben Gladiolen, dem tiefblauen Meer an Kornblumen und den verschiedenfarbigen Lilien, Großmuttis Lieblingsblumen. Der Garten war das Werk ihrer letzten zehn Jahre; eine kunstvolle Mischung aus Wildnis und mit Bedacht angelegten Blumeninseln. Darüber summten und brummten für gewöhnlich die verschiedensten Insektenarten und brachten damit ihre pure Freude an der reichhaltigen Vielfalt zum Ausdruck. Jetzt, gegen Abend, war es etwas ruhiger geworden. Ein paar Mücken schwirrten durch die würzig riechende Sommerluft, hoch oben drehten übermütige Schwalben ihre Runden. Ich sog die Luft in meine Lungen, auch Großmutti atmete tief ein. Es war ein unglaublich friedlicher Augenblick.

Roman schenkte uns noch einen Schluck Wein nach und holte das Schachbrett aus seinem Rucksack. Es war Jahre her, dass wir das letzte Mal gespielt hatten. Sein Medizinstudium hatte ihn zunächst fast vollständig absorbiert, danach kam die nicht weniger zeitraubende Facharztausbildung. Seit drei Jahren arbeitete er als Gynäkologe in einer Gemeinschaftspraxis. Als wir nun abwechselnd unsere Figuren über die Felder schoben, redeten wir nicht viel, genossen einfach das Spiel, das wir als Jungs so oft miteinander gespielt hatten.

Obwohl ich angestrengt über meine Züge nachdachte, überkam mich auf einmal eine tiefe Ruhe. Eine angenehm schwere Ruhe, wie kurz vor dem Einschlafen. Vermutlich der Wein. Als Nächstes nahm ich Stille wahr. Ich blickte zu Roman, der über seinem nächsten Zug grübelte, dann zu Großmutti. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet, ein ganz sanft angedeutetes Lächeln. Stille. Frieden. Mein Blick blieb an Großmutti hängen und wollte sich nicht mehr lösen. Wie sie dort saß – alles um uns herum, die Blumen, die Insekten, der Nachthimmel, alles wurde in eine heilige Stimmung der Ruhe und Klarheit getaucht, ich kann es nicht anders beschreiben.

Ein lauter Ruf riss mich aus meinem Dämmerzustand. Romans Stuhl kippte nach hinten, als er aufsprang. Die Sekunden, Minuten, die nun folgten, verflogen rasend schnell; Roman, wie er Großmuttis Puls fühlte. Roman, wie er mir hektisch zu verstehen gab, den Notarzt zu rufen, dann eine Decke und Kissen zu holen. Roman, wie er Großmutti auf den Boden legte und anfing, ihr Herz zur Weiterarbeit anzuregen. Wenig später Sirenen, Blaulicht, Stimmen; Großmutti auf einer Trage. Die Augen weit aufgerissen.

***

„Warst du schon bei ihr?“ Straßengeräusche drangen zusammen mit Romans Stimme aus dem Handy. Ich schaltete den Lautsprecher ein und legte das Gerät auf den Küchentisch neben meine Skizze.

„Sie will keinen Besuch. Seit Wochen nicht,“ antwortete ich nach einer kurzen Pause und versuchte, die Worte sachlich klingen zu lassen.

„Okay, aber wir sollten ja schauen dürfen, wie es ihr geht! Schließlich ist sie noch einmal glimpflich davon gekommen und hat, wenn`s gut läuft, noch ein paar Lebensjahre zusätzlich gewonnen!“

„Sie will keinen Besuch, Roman.“

„…“

„Ich habe Kontakt zu der Pflegerin. Sie sagt, die Angehörigen sollen sich etwas überlegen. Anfangs hat Großmutti wohl ruhig in ihrem Zimmer gesessen, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen und sich hin und wieder mit anderen unterhalten. Nun besteht sie drauf, in ihr Haus zurückgebracht zu werden. Den Koffer packt sie jeden Tag. Die Pfleger packen ihn wieder aus.“

„Okay, klingt anstrengend.“

„Sie hat sogar schon ein paarmal das Personal angeschrien.“

„Mit ihrer Herzinsuffizienz und der fortschreitenden Demenz ist sie hochgradig pflegebedürftig. Das ist zu aufwendig für einen ambulanten Pflegedienst. Wir wohnen zu weit weg, als dass wir viel übernehmen können. Was sagen Vati und Mutti?“

„Die sagen auch, dass sie das nicht stemmen können.. . Sie soll im Pflegeheim bleiben. Aber, Roman, wir können doch nicht.. .“

„Mann, wir müssen das einfach realistisch sehen. Sie wird sich schon wieder einkriegen. – Du, ich muss jetzt weiter. Mach`s gut. Ruf mich an, wenn sich was ändert.“

Ich nahm das Handy in die Hand und wartete bis mein Bruder aufgelegt hatte. Sein Bild verschwand auf dem Display. Vor meinem inneren Auge tauchte Großmutti auf, durch ihren Garten schreitend. Sie hatte schon immer einen würdevollen Gang gehabt; langsam, bedacht, auch im Alter noch aufrecht, Rücken und Kopf gerade, als balanciere sie eine Krone auf dem schlohweißen Haar. Ihre Hände strichen sanft über die Blumen, jeder einzelnen schenkte sie Beachtung. Genauso wie sie Roman und mir Beachtung geschenkt hatte, als wir sie als Kinder an den Wochenenden besuchen kamen. Sie saß einfach da und hörte zu, fing die Bäche auf, die aus uns heraussprudelten, all die aufregenden Dinge, die wir in der Schule und mit unseren Freunden erlebten. Irgendwann hatte Roman Wichtigeres zu tun, hatte Verabredungen und Termine. So fuhr ich alleine in das kleine wunderliche Haus am Waldrand, in dessen Türrahmen Großmutti stets stand und mich erwartete. Wir entdeckten im Malen eine gemeinsame Leidenschaft, standen nebeneinander vor den Leinwänden mitten im Garten und verteilten großzügig Farben mit dem Pinsel, mit Schwämmen, Hölzern, Federn oder mit den Fingern.

  ***

„Justus, sie ist abgehauen!! Wieso hast du mir nichts davon erzählt!? Und stimmt es, dass sie nachts rumschreit? Herrjeh, die müssen das doch irgendwie in den Griff bekommen da. Wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit!“

„Mutti hat ein paarmal mit ihr telefoniert und es geschafft, sie zu beruhigen.“

„Ja super! Für zwei Minuten.. . Ich werde mal mit den Pflegern reden, bezüglich der Medikation. Will sie immer noch keinen Besuch?“

„Nein.. . Du kannst sie anrufen.“

„Ja, mach ich mal. Ciao.“

Mein Pinsel strich wie von selbst über den weißen Untergrund. Grüntöne im Hintergrund, zartrosafarbene Blütenblätter, weit offen, winzige rote Sommersprossen in der Mitte, hier und da violette Schattierungen.

„Sie ist die Königin unter den Blumen. Eleganz, Sinnlichkeit und Würde umgeben sie, wie eine Aura. Seit jeher gilt die Lilie als Symbol für Licht und Hoffnung.“

Die Farben zerflossen zu einem bunten Brei, der mir die Wangen hinunterlief. Was würde als Nächstes geschehen? Würde Großmutti vollständig den Verstand verlieren? Würde man sie mit den Medikamenten eingestellt bekommen? Würde ich sie noch einmal wiedersehen, bevor.. . Ja, bevor.. .

***

Als uns die Diagnose mitgeteilt wurde, befand sich der Krebs bereits im Endstadium. Warum hatte man uns so spät informiert? Darüber stritt sich mein Bruder lange mit den zuständigen Ärzten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie glücklich ich war, als ich Großmuttis Postkarte im Briefkasten fand, auf der mit feiner Handschrift zu lesen war, dass sie sich meinen Besuch wünschte.

Als ich ihr Zimmer betrat, saß sie mit dem Rücken zu mir auf einem Stuhl am Fenster. Sofort fiel mir auf, dass sie ihr Sonntagskleid trug, weinrot, ein dunkelblaues Baumwolltuch über den schmalen Schultern. Das weiße Haar mit Spangen locker, aber sorgfältig zusammengesteckt. Langsam drehte sie sich zu mir um, und ich erschrak. Ihr fröhliches Gesicht mit den roten Wangen, den Sonnenstrahlenfältchen – das gab es nicht mehr! Stattdessen hohle Wangen, tiefe Ringe unter den Augen, die Lippen bleich. Sie hatte ein wenig Make up aufgetragen, aber das konnte die Anstrengungen der letzten Monate nicht verbergen. Ich begann irgendetwas zu reden, um der Spannung zu entkommen, die in mir aufstieg. Ihr Mund blieb stumm. Ich sah im Raum umher, knotete meinen Blick an den Nachttisch, um mich zu sammeln und auf einen Hagel an Vorwürfen und Verwünschungen einzustellen. Vielleicht würde sie schreien, vielleicht weinen – Schreien könnte ich wohl besser aushalten.

Nach einer Weile traute ich mich wieder sie anzusehen. Und da erst sah ich den Ausdruck ihrer Augen! Friedlich, klar und voller Wärme blickten sie mich an. Sie wusste es, sie wusste, dass sie nun gehen durfte, dass niemand mehr kommen und sie zurückhalten würde. Es wurde wieder klar um mich herum, alle Schwermut fiel ab; gleichzeitig überrollte mich die Flut der Trauer mit einer solchen Wucht, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Schluchzend stand ich nun da, unfähig, etwas zu tun oder zu sagen.

Großmutti streckte mir ihre Hand entgegen und reichte mir den Schlüsselbund. Ich nahm ihn an. Unwillkürlich senkte ich meinen Kopf zu einer letzten Verneigung.

***

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