Von Manuel Fiammetta

Auf dem Bett sitzend betrachte ich die im schwarzen Erinnerungsalbum klebenden Bilder. Ich bevorzuge die Haptik von Büchern oder Zeitungen, statt die Zeilen auf einem E-Book oder Bildschirm zu lesen. So geht es mir auch beim Anschauen von Fotos.

Seite um Seite blättere ich um, während das Spinnenpapier zwischen meinen Fingern knistert.

Die Bilder glänzen. Ich sehe die Emotionen der Menschen. Ihre Augen. Die Form ihrer Münder. Die Körpersprache. Das Glücklichsein?

Fotos sind etwas Trügerisches. In den allermeisten Fällen macht man ein Foto, wenn die Stimmung gut ist, es etwas zum Feiern gibt, wie beispielsweise an Geburtstagen und an Weihnachten. Oder während eines Ausflugs bei strahlendem Sonnenschein. 

Wer etwa käme schon auf die Idee, während einer heftigen Auseinandersetzung ein gemeinsames Foto zu machen? Oder während man gerade eine fiese Erkältung durchmacht? Oder während man, eh schon zu spät dran, in einen Stau gerät? Oder morgens um fünf direkt nach dem Aufstehen?

Vermutlich niemand. 

Doch ist nicht auch das die Realität? Womöglich sogar die viel realere, als die lachenden Gesichter auf den Momentaufnahmen?

Fotos sind ein bisschen wie Werbung. Sie gaukelt dir auch diese glücklichen Familien vor, die jedes Problem mit einem Schokoriegel, einer Nuss-Nugat Creme oder einer Pizza lösen können. 

Ich sitze also da und schaue mir die fröhlich dreinschauenden Gesichter auf einem der Fotos an, die am letzten Weihnachtsfest gemacht wurden. Ich erinnere mich an die Tage, ja gar die Minuten zuvor, die alles andere als unbeschwert waren. Die im Streitgespräch versanken.

Anstatt aber eher an die negativen Momente zu denken – die Trennung erfolgte ja nicht ohne Grund – schießen mir immer wieder die schönen Begebenheiten in den Kopf. Dafür bräuchte ich auch gar nicht die bildlichen Aufnahmen. 

Am Ende des Albums angelangt, entdecke ich eine Tasche. Ich greife hinein und hole einen ganzen Stapel Papiere heraus.

Theater- und Kinokarten, Restaurantrechnungen besonderer Anlässe, kleine Briefchen und Liebesbotschaften, sonstige Erinnerungsstücke und einen zerknitterten Einkaufszettel.

 

Ich lese laut vor, was darauf steht: 

– Haarwachs

– Föhn

– Gambas

– Avocado

– Sekt

– Sprühsahne

 

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Am Wochenende endet hier der Jahrmarkt. Wenn du dich traust, können wir ´ne Runde Achterbahn fahren und uns dann am Abend das Abschlussfeuerwerk anschauen. Später machen wir es uns bei mir gemütlich. Was hältst du davon?“  

 „Oh ja, super gern. Ich liebe Feuerwerke und Achterbahn fahre ich für mein Leben gern. Außerdem würde ich mit dir alles machen. Sag mal, kannst du für unser Wochenende noch eine Kleinigkeit einkaufen? Ich habe im Internet ein leckeres Gericht gefunden. Das würde ich uns gerne am Sonntag zubereiten. Dafür bräuchte ich nur noch Gambas, Knoblauch, Basilikum, Zitrone und Avocado. Die Gewürze bringe ich mit.“

„O-o-okay. Ähm, Knoblauch, Basilikum und Zitronen hab´ ich sogar noch im Haus. Hatte mir gestern ein leckeres Basilikum-Pesto gemacht. Weißt du was, dann hole ich uns dazu einen guten Sekt.“

„Das hört sich doch alles toll an. Wäre jetzt so gerne bei dir…“

Ich blicke weiter auf den Einkaufszettel. Den Föhn brauchte ich, da meiner kürzlich kaputtgegangen war. Das Haarwachs natürlich zum Stylen. Wollte ja gut aussehen. 

Und die Sprühsahne? Man wusste ja nicht, was der Abend so bringen würde . . .

 

Komplett in der Vergangenheit versunken, kommen in mir Gefühle von Unbekümmertheit, Sorglosigkeit und des Verliebtseins hoch. Aus diesem ersten Wochenende bei mir wurde in kürzester Zeit ein Zusammenziehen.  

Ich hole mich jedoch wieder schnell in die Gegenwart zurück. Die Achterbahnfahrt meiner Gefühle blieb nicht auf dem Höhepunkt eines Loopings stehen, sondern sie befand sich im abbremsenden Einfahrtsbereich. Sehr schöne Zeiten liegen hinter uns, aber eben auch sehr viele wirklich unschöne. 

Wir hatten nie Probleme oder Streitereien wegen nicht zugedrehter Zahnpastatuben, hochgeklappter Toilettendeckel oder liegengelassener Kleidungsstücke. Auch nicht darum, wer was und wie viel im Haushalt machte.

Genauso wenig könnte man sagen, wir hätten uns auseinandergelebt. Jeder bekam vom anderen die nötigen Freiheiten, seinen Hobbies nachzugehen und wir hatten auch viele Dinge, die wir beide gemeinsam mochten. Nein, das war es alles nicht.

Es waren andere Probleme und Verhaltensweisen, die eine Trennung nach sich zogen. 

 

Liebe? Vertrauen? Ehrlichkeit?

Ich stecke den Einkaufszettel zurück in die Tasche und stelle das Album wieder in den Schrank, während sich diese salzige Flüssigkeit in meinen Augen ansammelte, von der man manchmal nicht weiß, ob sie Traurigkeit, Wut oder Freude ausdrücken will.

In Gedanken versunken laufe ich durch die Wohnung und betrachte die Zimmer. Vor meinem geistigen Auge spielen sich Szenen ab, dir wir zusammen in den Räumlichkeiten erlebt haben.

Ich sehe uns aneinander gekuschelt auf der Couch liegen; gemeinsam weinend am Tisch sitzen und über die Probleme diskutieren; in der Küche das Essen zubereiten, während wir nicht nur das Essen heiß machen; jeden, schweigend und mit Handy in der Hand, am anderen Ende der Couch sitzen.

 

Diese Gefühle zuzulassen und nicht zu verdrängen, ist ein wichtiger Prozess. So kann ich sie besser verarbeiten. 

 

Ich greife nach meinem Smartphone und sehe ein aktuelles Foto von ihr. 

Lara. 

Nur ihr Gesicht ist zu sehen.

Ich erschrecke kurz – stark geschminkt, Lippenstift, strenger Blick, neue Frisur. 

Das ist nicht „meine“ Lara. Das ist nicht die, die ich wenige Minuten zuvor noch auf anderen Fotos gesehen habe. Nicht die, die mir noch vor kurzem ihre Liebe bekundete. 

Ich möchte ehrlich gesagt gar nicht wissen, wie sie sich verändert. Ich möchte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie lieben gelernt und geliebt habe. 

Die große Emotion bleibt aus. Es scheint, als wäre eine andere Person auf dem Bild. 

Ich lege mein Handy weg und schaue aus dem Fenster. 

Es ist Winter. 

Es ist kalt. 

Doch die trüben Tage werden vorüber gehen und der Frühling wird kommen. Die Sonne wird wieder vermehrt scheinen und die Temperaturen steigen.

Die Bäume werden wieder grün und die Wiesen bunt. 

So abgedroschen es auch klingen mag, aber das Leben geht weiter. Es werden zukünftig noch viele schöne Zeiten kommen.

Was aber auch bleiben wird, sind die Erinnerungen an die vergangenen schönen Zeiten. An die tollen Gambas; die leckere, aus Avocado zubereitete Guacamole; den süßen Sekt und die klebrige Sprühsahne.

Dieses Gericht machten wir zu unserem Gericht und bereiteten es immer an unserem Jahrestag mit wechselnden Desserts, auf welchen wir die Sahne drapierten, zu. 

Ich erinnere mich an das nach Kokos duftende Haarwachs, welches meine Haare bändigte und den Föhn, den ich immer noch habe.

 

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