Von Susanne Sachs
„Was ist das denn?“
„Habe ich etwas Falsches gekauft?“ Mit routinemäßigem Schwung landet die Jacke am Haken. Kirsten wäscht sich die Hände, dann schaut sie ihrem Mann über die Schulter, lehnt sich an seinen Rücken, umschlingt ihn mit beiden Armen. Er ist bereits am Auspacken, stellt Gurkenglas und Reis so hin, dass sie mit einem Griff in den Schrank verfrachtet werden können. Zwischendrin reibt er seine Wange an ihrer, liebevoll zart.
„Nein, das ist tipptopp, aber wie kommt der Wisch zwischen unseren Kram?“ Eine Kopfbewegung deutet nach links. Tatsächlich, ein knittriger Zettel liegt auf der Küchenzeile. Oli hat ihn gut sichtbar mitten auf einer freien Fläche drapiert.
„Den sehe ich zum ersten Mal“, sagt sie. Mit vor der Brust verschränkten Fingern beugt Kirsten sich darüber. „Komische Schrift.“ Niemand aus ihrem Dunstkreis schreibt so, nicht einmal ähnlich. Viel steht nicht darauf. Sie entziffert die wenigen Zeilen einer Liste, zupft Strähnchen ihrer aschblonden Haare zurecht. „Wer notiert sich solche Dinge?“
„Zeig!“ Den Käse lässt er Käse sein, er guckt auf das Geschreibsel, kratzt sich das energisch vorstehende Kinn.
„Da will sich wohl jemand auf ein Diner vorbereiten, Styling inklusive.“ Vor ihrem geistigen Auge taucht ein Lackaffe auf, so einer mit angeklatschter Frisur und Schnurrbart.
„Nö. Ein gestandener Mann erwartet Damenbesuch, für mehr als zwei Stunden.“
„Hihi, vielleicht, aber seit wann gibt es in unserem Supermarkt Föhne?“
„Ich wüsste nicht einmal, was Gambas sind.“ Kopfschüttelnd beäugt Oli, was da geschrieben steht, verdreht die Augen.
„Krebstierchen, glaube ich. Essbar.“
„Auch das noch!“ Bei diesem Aufschrei grinst Kirsten. Außer Fisch bräuchte sie keine Meeresfrüchte anschleppen, die verschmäht er grundsätzlich. Aus Prinzip.
Gemeinsam räumen sie den Kühlschrank ein, spekulieren fortwährend, was für ein Mensch die eigenartige Liste verfasst haben könnte. Ihre Meinungen gehen mehr auseinander, sie witzeln darüber.
„Dieser Jemand hat ein Gedächtnis wie Sieb“, sagt Oli, worauf sie ihn seitlich mit der Schulter anstupst.
„Hm. Steile These. Ich tippe eher auf den Angeber, einen Möchtegern-Krösus.“
„Findest du?“ Lachend schnappt er zwei Gläser und läuft zur Couch. „Bring die Wasserflasche mit. Kaffee trinken wir nachher.“
Schön gedacht. Ein Anruf macht ihre Pläne für diesen Tag zunichte, Oli wird angefordert. Kein Abend zu zweit, bestimmt nicht nur heute. Selten ist ein Kapitalverbrechen innerhalb von sechs Stunden aufgeklärt. Es muss eines sein, meint Kirsten zu wissen, sonst würde er nicht davonspringen. Aufkommende Fragen verbeißt sie sich, er redet ungern über seine Arbeit bei der Spusi.
Was bleibt ihr übrig, als allein ihren Kaffee zu schlürfen? Schokolade schmeckt dazu und die Glückshormone helfen hoffentlich, den Frust zu verdrängen. Aus dem gleichen Grund macht sie es sich mit einem guten Buch gemütlich. Sie kuschelt sich zwischen die Sofakissen, taucht ein in die Fantasiewelt ihrer Lektüre, versucht es zumindest. Ihr fällt der Zettel ein. Wie konnte der in ihrer Tasche landen? Angerempelt hat sie niemand. An Fremde, die ihr ungebührlich auf die Pelle gerückt sind, erinnert sie sich ebenfalls nicht. Die Zeiger der Uhr rücken weiter, stetig, unbemerkt. Nicht einmal die sacht einsetzende Dämmerung registriert sie gleich.
Ratsch. Klirren. Kirstens Kopf schnellt hoch. Schlüssel? Jetzt? Ihr Blick wandert zur Tür, klebt förmlich daran fest, als diese sich einen Spalt öffnet. Wie automatisch schwenken die Beine aus der Liegeposition.
„Hallo Schatz!“ Olis Stimme. Sie atmet lange aus, er erspäht sie. „Ah! Da bist du.“
„So schnell warst du noch nie zurück.“
„Ich brauche die Einkaufsliste!“ Warum brüllt er so? „Hast du sie noch?“
Im ersten Moment versteht Kirsten Bahnhof. „Wir haben doch alles.“
„Quatsch“, schreit er. „Nicht deine, die mit der Klaue und dem ulkigen Bedarf.“
„Ach so.“ Die reale Gegenwart hat sie wieder. Kann Oli nicht leiser reden? „Liegt noch dort. Ich hab den Zettel nicht angerührt.“
„Er ist weg.“
Blödsinn, der kann nicht verschwunden sein. Auf der Suche robben oder krabbeln sie durch das Zimmer. Nicht zu finden, das Mistding.
„Was willst du mit dem dämlichen Stück Papier?“ Indessen liegt sie bäuchlings vorm Schrank. „Hab ihn!“ Mit ausgestreckten Fingern erwischt sie den Zettel. Kaum hat sie ihn, greift er danach und verstaut ihn in einer Tüte.
„Danke. Die Schrift …“ Weg ist er, der Oli, die Tür knallt ins Schloss.
Sprachlos steht Kirsten im Raum, eine lebende Skulptur. Grummelnd zieht sie sich zurück, putzt sich die Zähne, legt sich ins Bett. Irgendwann in der Nacht fühlt sie warmen Atem auf ihrem Mund, danach einen Kuss, frühmorgens noch einmal. Ihre Augen hält sie geschlossen. Wozu sehen, dass niemand da ist? Es ist fast neun, als sie aufsteht. Das Grau des Regentages ergänzt wunderbar ihre Stimmung, ist genauso trist. Den schwarzen Muntermacher in ihrer Lieblingstasse vor sich, ignoriert sie den Summton des Handys. Sie saugt den aromatischen Duft ein, genießt Schluck für Schluck das heiße Getränk. Wieder vibriert ihr Smartphone. „Grmpf. Also gut.“ Widerwillig ruft sie die Chats auf, liest Olis Nachricht. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Vielleicht wird der Sonntag doch nicht so öde. Diesmal hüpft Kirsten beim Schlüsselklappern auf, lacht leise, rennt ihrem Mann entgegen.
„Na, Täter überführt?“
„Ja.“ So wortkarg? Das ist nicht sein Ernst. Wo sie doch diesen aufreibenden Job toleriert. Oft schlägt sie allein die Zeit tot, an freien Tagen, die sie genießen wollte. Eigentlich.
„Komm schon, ein bisschen mehr kannst du mir erzählen.“
„Die Handschrift kam mir bekannt vor, glich der in einem Brief an das Opfer.“ Oli nickt, länger als nötig. „Ohne Absender.“ In den Augen schimmert feucht ein dunkler Glanz. Allmählich rücken seine Brauen über der Nasenwurzel zusammen. „Der junge Mensch hat vor drei Wochen seinen neunzehnten Geburtstag gefeiert.“
„Wie traurig.“ Ein ganzes Leben verschenkt, ausgelöscht. Schmerzhaft durchbohrt die Erkenntnis ihre Seele. Regen pocht gleichmäßig an die Fensterscheiben. Tropfen verbinden sich zu Rinnsalen. Der Himmel weint mit. Kirsten erträgt die geräuschvolle Stille nicht, sie erhebt sich und stellt die Kaffeemaschine an. Neugierde bauscht auf, wächst wie Gewitterwolken, vereinnahmt sie. Kirsten muss fragen, obwohl er nichts sagen darf.
„Weißt du, wem der Zettel gehört?“
„Ja.“
„Hat ihn ein Mörder geschrieben?“
„So ähnlich.“
„Mensch, rede! Oder ist etwas nicht gut?“ Sie setzt sich zu ihm, streicht tröstend vom Nacken aus seinen Rücken hinab. Normalerweise ist Oli besser drauf, wenn ein Fall gelöst ist. Heute verharrt er in Schwermut, bleibt in sich gekehrt. Er nimmt Kirstens Hand.
„Ach, Schatz. Da war kein Vorsatz. Eine demente alte Dame hat diese Dinge notiert. Sie ist reizend – wenn sie nicht von wahnsinniger Angst getrieben ist.“
„Aus Versehen getötet?“ Kirsten bringt keinen vernünftigen Satz zustande, fühlt stattdessen das Blut aus den Wangen weichen.
„Erschlagen hat sie ihn, ihren Enkel.“ Wieder nickt Oli, flüstert nur. „Nicht erkannt …“
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