Von Sylvia Frank
Nicki packte schnell ihre Sachen zusammen. Wasserflasche und Smartphone verschwanden in der großen Sporttasche, schnell noch ein Blick über ihren Schreibtisch, dann ging es ins Wochenende. Heute war Freitag; freitags hatte sie schon um 13 Uhr Feierabend und verbrachte in den Sommermonaten die Nachmittage im Freibad.
Als Nicki ein paar Stunden später in den Hausflur trat, sah sie schon den überquellenden Briefkasten: Heute morgen noch unschuldig leer, heute abend brechend voll mit Prospekten, Rechnungen, Werbung. Ah, ihr Terra Mater – Magazin war auch da, wunderbar, da konnte sie heute Abend gleich schmökern. Was lugte denn da fliederfarben hervor? Ein Briefumschlag – wer schickte ihr fliederfarbene Briefe?
Der Umschlag entpuppte sich als Brief der Nachbarin im dritten Stock über ihr. Frau Wilhelmi fragte an, ob Nicki wohl morgen ein paar Besorgungen machen und ihr bringen könne, Kaffee und Kuchen würden ab 16 Uhr als Entschädigung warten. Sie hoffe, sie könne den Zettel lesen, reichlich Geld habe sie dazugetan.
Ach, das war ja spannend! Natürlich würde Nicki das gerne machen; ehrlich gesagt, war sie auch etwas neugierig auf die Nachbarin. Sie kannte Frau Wilhelmi kaum: Grüße im Treppenhaus, ein bißchen Small Talk, einmal hatte sie der alten Dame ihren schweren Koffer nach oben getragen, als diese von einer Reise zurückkam – wie das eben in einem Mietshaus war.
Nicki las den Einkaufszettel:
-Haarwachs
-Fön
-Gambas
-Avocado
-Sekt
-Sprühsahne
Okay, das sollte bis auf die Gambas, die Sprühsahne und den Sekt kein Problem geben. Nicki war Veganerin, sie kaufte keine tierischen Produkte, auch für Nachbarinnen nicht. Das würde sie Frau Wilhelmi dann morgen erklären müssen; am besten gleich, bevor sie losging. Bis auf den Fön konnte sie alles im großen Einkaufszentrum besorgen. Bei Elektrogeräten war Frau Wilhelmi allerdings sehr eigen, das hatte sie zufällig mal bei einem Gespräch im Treppenhaus mitgehört. Elektrogeräte mussten im Fachhandel gekauft werden, da konnte man lieber 10 Euro mehr ausgeben für ein Markenprodukt, da gab es Qualität, da gab es Sicherheit – zumindest in den Augen der alten Dame. Der erste Weg wäre also zu Elektro Ludwig in der Altstadt.
Am nächsten Morgen machte Nicki sich nach einem ausgiebigen Frühstück auf den Weg. Zuerst klingelte sie aber bei Frau Wilhelmi, doch die alte Dame war nicht Zuhause. Dann würde sie es nachmittags erklären, natürlich auch den Betrag von der Rechnung abziehen.
Der Fön war dank Fachberatung beim Ludwig schnell gekauft. Das Einkaufszentrum war am Samstagmorgen entsprechend voll, Nicki stürzte sich ins Getümmel.
Der Supermarkt war gut sortiert, hier fand man immer alles, was man brauchte. Beim Haarwachs gab es auch eine vegane Marke, Avocados kaufte Nicki nie, die hinterließen ja auch nicht den besten ökoligischen Fußabdruck, aber okay, sie suchte eine schöne aus. Nun ab in die vegane Abteilung, hier kaufte Nicki auch für sich selbst ein und kannte sich aus. Schon war alles besorgt: das vegane Sortiment war wirklich sehr umfangreich, da waren auch Sprühsahne und Sekt kein Problem. Jetzt ging nach Hause, beziehungsweise zu Frau Wilhelmi. Sie war sehr neugierig, wie die Nachbarin wohnte, denn sie hatte eine der großen Wohnungen: das Haus war ein Altbau vom Anfang des 20. Jahrhunderts, und erst bei einer Renovierung vor ungefähr fünfzig Jahren waren – bis auf die im dritten und vierten Stock – die großen Wohnungen in zwei eigenständige geteilt worden.
Der Türöffner summte bereits, als Nicki am Haus ankam: Frau Wilhelmi erwartete sie schon an der Wohnungstür.
„Hallo Frau Guter, guten Tag. Habe gerade die Blumen gegossen und Sie vom Fenster aus gesehen. Schnell rein mit Ihnen, ich freu´ mich, dass Sie da sind.“
„Hallo Frau Wilhelmi, ich freu´ mich auch! Wie geht’s Ihnen?“
Nicki übergab die Tasche mit den Einkäufen. „Soll ich beim Auspacken helfen?“ Sie wollte ja die Nicht- Gambas, die vegane Sahne und den veganen Sekt erklären.
„Mir geht es gut, vielen Dank. Nein, Sie brauchen nicht beim Auspacken helfen, dankeschön. Ich muß mich zunächst entschuldigen, dass ich Sie belästigt habe. Das ist sonst nicht meine Art, aber ich wußte mir gestern keinen Rat. Meine Freundin rief mich nachmittags an, ach, sie war so aufgeregt, ob ich schnell kommen könne, auch über Nacht bleiben. Das wollte ich natürlich. Ich hatte bei Ihnen geklingelt, aber Sie waren sicher noch nicht von der Arbeit zuhause. Ein Brief war dann die Alternative.“
„Kein Problem, das habe ich doch gerne gemacht! Äh – ich wollte da noch was erklären.“
„ Ach, der Fön und das Haarwachs – wunderbar, da wird sich Tobias aber freuen! Das ist mein Enkel, da hat er was für seine verrückten Frisuren.“
„Äh … ich muss Ihnen etwas sagen. Ich bin Veganerin, also ich kann da einfach nichts Tierisches kaufen. Ich habe vegane Alternativen, aber wenn Sie die nicht probieren möchten, verstehe ich das. Sie brauchen die natürlich nicht bezahlen.“
Hatte die Nachbarin ihr überhaupt zugehört? Frau Wilhelmi war eine ätherische alte Dame; Nicki hatte das Gefühl, sie am Arm packen und zum nächsten Sessel bringen zu müssen. Vielleicht war sie ja auch schwerhörig? Doch weit gefehlt: Ihre Nachbarin war mit ihren 86 Jahren rüstig wie eh und je, benötigte nicht mal einen Rollator, und konnte auch noch ausgezeichnet hören. Daher schob sie Nicki mit den Worten „Sie sind Veganerin, das müssen Sie mir gleich erzählen, davon habe ich schon oft gehört“ ins Wohnzimmer.
„Setzen Sie sich mal erst. Ich packe schnell aus, dann machen wir es uns gemütlich, und Sie klären mich auf, was das genau ist.“
Das Wohnzimmer! Nicki hatte ja Vorstellungen von Gelsenkirchener Barock, und so sah es auch aus: dunkle, schwere Möbel, Eiche oder was auch immer, ein Riesenschrank, bestimmt drei Kommoden, Beistelltische, große Sessel, ein noch größeres Sofa – alles bedeckt mit diesen kleinen Spitzendeckchen. Kein Nippfigürchen kam ohne entsprechende Decke aus, auf dem ausladenden Couchtisch fand sich ein besonders großes Exemplar. Allerdings war hier alles sehr edel, auch einige Antiquitäten, soweit Nicki das beurteilen konnte – und sie musste zugeben: es war ausgesprochen geschmackvoll! Sie fühlte sich gleich wohl. Ob sie sich umschauen durfte? Hier gab es wirklich viel zu entdecken.
„So, da kommt der Kaffee. Was machen wir denn mit dem Kuchen? Ich habe Nußkuchen gebacken, aber der ist ja nicht vegan mit den Eiern drin, oder? Aber vegane Sprühsahne haben wir ja! Wie wäre es da mit einer schönen Schale Obst? Da habe ich einiges da.“
Nicki war überwältigt von der Liebenswürdigkeit ihrer Nachbarin.
„Obst ist eine gute Idee! Macht es nicht zuviel Mühe?“
„Nein, gar nicht. „
Kurz darauf stand alles bereit: Obst, Kuchen und Sahne warteten darauf, verspeist zu werden. Die beiden Frauen kamen schnell ins Gespräch.
„Frau Guter, ich bin neugierig: Sie sagten, Sie seien Veganerin. Also gehört habe ich davon natürlich schon oft, es gibt ja viele, die diese schrecklichen Sachen, die mit den Tieren passieren, nicht mehr mitmachen möchten. Ich finde das auch sehr schlimm, kann kaum die Berichte im Fernsehen anschauen. Aber so konsequent … Das ist doch schwer. Erzählen Sie doch mal, wie man denn da so kocht.“
Das ließ Nicki sich nicht zweimal sagen; sie schilderte ihr Schlüsselerlebnis, das sie endgültig überzeugt hatte, nicht nur vegetarisch, sondern vegan zu leben. Sie beschrieb auch genau, dass nicht nur die Ernährung, sondern viele andere Bereiche wie Reinigungsmittel und Kosmetik auch dazu gehörten. Natürlich kam sie so auch auf den Tierschutz zu sprechen, der für sie ein großer Teil ihres Lebens war. In Frau Wilhelmi hatte sie eine aufmerksame Zuhörerin; nicht nur aus Höflichkeit, wie sich zeigen sollte.
„Also da haben Sie mir wirklich viel zu denken gegeben. Rezepte müssen Sie mir aufschreiben, da möchte ich mal einiges ausprobieren. Und im Tierschutz engagieren Sie sich: was machen Sie denn da genau? Ich kenne eigentlich nur den Basar am Samstagnachmittag in unserem Tierheim zugunsten der Tiere dort, den ich oft besuche. Umweltschutz, das gehört dann schon irgendwie auch alles zusammen, nicht? Da sind Sie auch aktiv? Und was kann man da so machen?“
Das Interesse der alten Dame war wirklich geweckt. Sie stellte viele Fragen, war begeistert von dem Gedanken, mit Nickis Hilfe sozusagen „aus der Praxis“ lernen zu können. Auch, dass sie in ihrem fortgeschrittenen Alter noch soviel machen konnte, beispielsweise auch, in dem sie Petitionen unterschrieb, gefiel ihr.
Frau Wilhelmi überraschte Nicki mit ihrer Agilität und ihren modernen Ansichten; die Zeit flog nur so dahin. So gute Gespräche hatte sie schon lange nicht geführt! Außer mit ihren Kolleginnen von der Tierschutzorganisation konnte Nicki kaum über Artensterben, Klimawandel und Umweltschutz diskutieren; ihre Freundinnen waren da doch eher oberflächlich. Nicki fühlte sich unglaublich wohl, und auch Frau Wilhelmi schien den Nachmittag zu genießen. Freundschaft schlich sich an und machte sich zwischen den so unterschiedlichen Frauen breit.
„Wissen Sie was? Jetzt hol´ich mal den Sekt, und dann trinken wir auf „du und du“, Brüderschaft nannte man das früher. Bei uns ist es dann eine Schwesternschaft“, Frau Wilhelmi strahlte Nicki an.
„Dann machen wir so tolle Nachmittage öfter, und den nächsten Nußkuchen backe ich vegan, was meinen Sie, würde Ihnen das gefallen?“
Ja, und ob Nicki das gefallen würde!
Was so ein Einkaufszettel doch alles anrichten kann, dachte sie, als sie mit Frau Wilhelmi anstieß.
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