Von Marianne Apfelstedt
Der lange Rock schmiegt sich bei jedem Schritt um meine nackten Beine. Die schwüle Luft der Sommernacht kringelt meine Nackenhärchen. Jetzt bin ich wirklich froh, das Haar hochgesteckt zu tragen. Alles ist besser als Schaflöckchen. Ein Schweißtropfen rinnt mir vorwitzig den Hals hinunter, um im Dekolleté zwischen den Brüsten zu verschwinden. Bei jedem Schritt, den ich mit den neuen Sandaletten zurücklege, reibt es schmerzhaft an meinen Fersen. Kurzentschlossen schlüpfe ich aus den Schuhen und stecke sie in die geräumige Handtasche. Der Asphalt unter meinen Zehen ist sommersonnenwarm und mit flotten Schritten setze ich meinen Weg fort.
Vor dem Eingang krame ich das Einladungsschreiben aus meiner Tasche. Seltsam, ich habe mindestens 10 Jahre nichts mehr von Natalie gehört und beinahe hätte ich die Einladung einer Nova zur Vernissage im Hotel Steglitz achtlos im Papiermüll entsorgt, bis mir die Unterschrift „Deine Freundin Natalie“ auffiel. Natalie Blum war jetzt Nova B., ein aufsteigender Stern an der Künstlerszene in Süddeutschland. Sie hat es geschafft. Ihr Mädchentraum ist wahr geworden. Meine Träume vom Reisen hatte mein Alltag zerschlissen, bis sie nur noch dünne Fädchen waren, als Mutter nach einem Schlaganfall ein Pflegefall wurde und Vater kurz darauf verstarb. So sitze ich bis heute hier fest.
Nova ist nicht zu übersehen. Rosa Haare, die in weichen Wellen über ihre Schultern fallen. Sie kommt mir entgegen und ich entdecke die silbern glitzernden Wimpern, die perfekt mit ihren Nägeln und dem silbernen Minikleid harmonieren. Als sie vor mir steht, überragt sie mich dank der Plateauabsätze um mindestens 20 Zentimeter. Dabei sind wir genau gleich groß. Mir wird bewusst, dass ich immer noch schuhlos vor ihr stehe. Zum Glück sind meine Zehen unter dem weißen Stoff des Kleides versteckt.
„Amber, meine Liebe. Du hast dich gar nicht verändert. Prima, dass du kommen konntest, vielleicht können wir später ein wenig plaudern. Ich muss erst noch weitere Gäste begrüßen.“
„Hallo Natalie, ich habe mich sehr über deine Einladung gefreut.“ Sie wedelt mit der Hand, wie um eine Fliege zu verscheuchen.
„Nicht doch! Nenn mich NOVA. Misch dich unters Volk.“ Sie zieht mich in eine kurze Umarmung und der blumig, frische Duft von Chanel Nr. 5 bleibt zurück, als sie davon schreitet, direkt auf eine bunte Schar Gäste. Ein Hauch von Rose und Jasmin legt sich um mich und hebt meine Stimmung ein wenig. Ich fühle mich wie ein Kakadu in meinem weißen Sommerkleid unter all den Papageien mit ihren Farben, die auch vor den Haaren nicht haltmachen. Eine junge Frau mit kahlem Schädel und schlichtem Shirt in Schwarz streckt mir ein Tablett mit Gläsern entgegen. Ich greife mir ein Sektglas und schlendere zu einem der deckenhohen Gemälde. Auf der Tafel lese ich „Sonnenuntergang in Mallorca“. Zu sehen gibt es nur breite Streifen in verschiedenen Rot- und Gelbtönen, die wie liegende C auf der Leinwand prangen. Nova steht bei einem anderen Kunstwerk. Sie ist von einer Gruppe Menschen und einem Filmteam umringt und erklärt, wie sie ihre überdimensionalen Werke gestaltet.
„Ihre Pinselführung ist wirklich außergewöhnlich.“
„Meine Kunstwerke werden ausschließlich mit Kleisterpinseln gemalt, genau das macht sie so einzigartig in ihrer Wirkung.“
Das erklärt die breiten Pinselstriche, die auf mich so abstrakt wirken. Beim Gedanken, wie Natalie einen Kleisterpinsel schwingt, muss ich schmunzeln. Also clever ist sie. Wenn ich mir die Preise an ihren Arbeiten ansehe, scheint sie eine Goldgrube gefunden zu haben.
Ich stelle mein leeres Glas auf einem Tischchen ab. In einem Seitengang, in dem ich die Toiletten vermute, entdecke ich ein Kunstwerk ganz anderer Natur. Ein schlichter Rahmen aus dunklem Holz umgibt eine Leinwand, die in verschiedenen Grautönen grundiert ist. Vom oberen Drittel des Bildes blicken mir drei Augenpaare entgegen, mit einer Intensität, die mich frösteln lässt. Augen, die ohne das restliche Gesicht oder Brauen surreal wirken. Fast habe ich den Eindruck, wenn ich mich bewege, folgt mir ihr Blick. Ich schüttle den Kopf, um mein Kopfkino zu beenden, und gehe weiter den Gang entlang.
Auf dem Rückweg vermeide ich, das Bild noch einmal anzusehen und doch fühle ich mich von Blicken verfolgt. Ich schaue mich überall um, kann aber keine weiteren Kunstwerke entdecken, die nicht von den breiten Pinselstrichen eines Kleisterpinsels bedeckt sind. Enttäuscht setze ich mich auf einen Hocker an die Bar und bestelle mir einen Negroni. Mein Lieblingscocktail. Ich rieche die Orangenschale, die im Cocktail schwimmt. Bitterer Campari, harziger Gin und prickelnder Sekt umspülen meinen Gaumen. Mein perfekter Begleiter für Sommernächte. Da gönne ich mir doch gerne einen Zweiten.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Ich drehe mich auf meinem Barhocker zu der Stimme um und schaue mir den Fragesteller genauer an. Ein schlanker Mann in Jeans und schwarzem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, steht lächelnd an der Bar. Seine Augen sind von Fältchen umringt und strahlend grau, genau wie sein graues Haar.
„Welch nüchterne Aufmachung unter all den Papageien“, erwidere ich, bevor ich nachdenken kann. Ein herzliches Lachen belohnt meinen unbedarften Scherz. Er sieht sich um.
„Ich glaube, mit Papageien liegen Sie richtig. Und welcher Vogel sind Sie?“
„Ich denke, ein Kakadu.“ Ich gehe auf sein Spiel ein und schenke ihm einen tiefen Blick. „Sie dagegen geben mir noch ein Rätsel auf. Vielleicht eine Krähe?“, frage ich neckisch.
„Dann wohl eine Nebelkrähe.“ Er streicht sich durch das kurze graue Haar und lächelt mich an, dass sich in meinem Bauch Hitze ausbreitet und durch meine Adern wälzt.
„Wenn Sie mir Ihren Namen verraten, lade ich Sie zu einem Drink ein.“
„Amber.“
„Dieser Name passt perfekt zu deinen Bernsteinaugen. Die mir sofort aufgefallen sind.“
„Wenn wir beim du sind, möchte ich deinen Namen auch wissen“, fordere ich.
„Elijah.“ Der Klang seiner Stimme lässt einen Schauer meinen Rücken hinunterrieseln.
„Bringen Sie mir einen Glendalough ohne Eis und der Lady noch einmal den gleichen Cocktail.“
Die Luft zwischen uns gleicht einem Saunaaufguss und heizt sich beständig auf. Er nimmt meine Hand und haucht einen zarten Kuss in die Handfläche und mein Verlangen wächst. Im Aufzug zu seiner Suite spüre ich seine Lippen zart auf meinen. Seine Hand streicht eine meiner Haarsträhnen hinter mein Ohr. Der Fahrstuhl stoppt und unsere Lippen trennen sich. Er nimmt meine Hand und führt mich direkt in ein Schlafzimmer mit gedämmtem Licht und einer Staffelei, auf der ein Stab liegt.
„Bist du Maler?“
„Nein, ich halte nur gerne besondere Augenblicke des Lebens fest“, haucht er unter Küssen in meinen Nacken.
Ich schließe die Augen und genieße seine Nähe. Spüre, wie die Träger vom Kleid über meine Schultern gleiten und seine Finger wie mit feinen Pinselstrichen meine Haut liebkosen, als wären sie eine Leinwand. Sein Mund findet den Weg zu meinen Lippen und ich drücke mich an ihn. Die Stunden und unsere Körper zerfließen, wie Acrylfarbe, die sich beim Rühren der Pinsel im Sog verliert.
***
„War alles zu Ihrer Zufriedenheit, Mr. Smith?“
„Ja, alles war perfekt. Bitte packen Sie mein Gemälde, das im Seitengang hängt, für die Reise ein. Ich werde in 30 Minuten mit meinem Frühstück fertig sein. Der Chauffeur soll das Bild dann gleich zusammen mit meinem Gepäck in den Wagen bringen.“
Elijah Smith zieht seine Karte durch das Lesegerät und drückt dem Rezeptionisten noch einen Schein in die Hand. Der Geldschein verschwindet in der Jackentasche des Portiers, der den Schlüssel mit der 666 wieder einsortiert. Beim Weggehen streicht sich Mr. Smith durch sein rabenschwarzes Haar, um Jahre verjüngt.
Sein Gehilfe nimmt das Gemälde mit den vier Augenpaaren von der Wand und bemerkt nicht, dass in den bernsteinfarbenen Augen Tränen schimmern.
© Marianne Apfelstedt, Version 2 / 7804