Von Patrick Brauner
Erster Teil
Ein Freund fragte ihn mal:
„Und es ist nie wieder aufgetaucht, sagst du?“
„Nie wieder. Man hält es sogar für möglich, dass es zerstört wurde oder sich in der privaten Sammlung eines Warlords befindet. Alles ist praktisch möglich.“
Es ließ ihn nicht los – das Verschwinden dieses, sagen wir, weniger schönen Gemäldes, das etwa die Größe zweier nebeneinander gelegter Reisepässe hatte. In seinen Gedanken spielte er jeden Tag aufs Neue durch, wo sich ein Kunstwerk dieser Größe befinden könnte. Wo würde ein Otto Normalverbraucher es aufbewahren? Ja, es könnte auch ein Otto Normalverbraucher sein. Es muss kein Dieb oder Sammler sein.
Aber er war ein schlechter Mensch. Besitztum ist Besitztum. Und wenn etwas leicht zu stehlen ist, muss man nicht die Verwirrtheit besitzen, es stehlen zu müssen.
Tamin kannte Bacon nicht. Er kannte Lucian Freud nicht. Er kannte nur den anderen Freud – den weltbekannten. Aus Büchern. Aus dem Internet. Ein Podcast brachte Tamin auf diesen Namen.
Er wusste nicht, warum dieses schrumpelige, alte Gemälde ihn so fesselte. Aber der Umstand, dass es als verschollen galt, entfachte in ihm eine ungewohnte Obsession, sich zumindest damit zu beschäftigen.
Einmal rief ihn ein alter Geschäftspartner an, eher beiläufig. Ob Tamin noch im Geschäft sei, wollte er wissen. Tamin erzählte immer dieselbe Geschichte: von seiner Liebe zur Kunst. Und zu Bacon.
„Du spinnst doch“, hatte der Geschäftspartner gesagt.
Tamin machte sich aus solchen Äußerungen nichts mehr. Er bekam die Aufmerksamkeit nicht, weil er spinnte – sondern weil er besonders war.
Es war früh am Morgen, Tamin trank gerade seinen Kaffee, da machte es Krach. Als er genauer hinsah, wurde ihm klar: Etwas war gegen die Fensterscheibe geflogen.
Er stand auf, ging zur Tür – und tatsächlich: Eine Taube lag unter dem Fenstersims. Sie bewegte sich nicht mehr.
Na hoffentlich ging es schnell, dachte er.
Die Scheibe war unbeschädigt. Nur etwas Blut – die Taube hatte sie beschmiert. Aber statt es abzuwischen, nahm Tamin sein Handy heraus und machte ein Foto. Wer weiß, wofür das noch gut war.
Es war zu spät, um noch jemanden bei der Stadt zu erreichen, der den armen Kerl „entsorgen“ würde.
Noch einen Moment stand er da und betrachtete das Tier, das wohl nicht alt geworden war. Dann ging er wieder hinein. Der Kaffee dampfte noch. Tamin nahm einen Schluck.
Es war wieder Zeit, sich Francis Bacon anzusehen.
Meine Güte – er war nicht ansehnlich, dachte sich Tamin. Und doch musste er ihn mindestens dreimal in der Woche zur Hand nehmen und betrachten.
Er wusste, dass die Nichte von Francis Bacon ihn immer noch suchte. Doch sie war schon vor vielen Jahren gescheitert. Alle waren gescheitert. Niemand schien zu wissen, wo sich der Kopf des Bacon befand.
Es war etwas Persönliches geworden.
Dass sich nicht der kleinste Hinweis auftat – das war deprimierend.
„Verdammt, wo bist du?“ hatte Tamin einmal in einem Ton gesagt, der ihn selbst erschreckte.
Da bekam er einen Anruf.
„Tamin am Apparat.“
„Vielleicht habe ich etwas, das Sie interessieren könnte“, sagte eine unbekannte Stimme.
„Bitte?“ Tamin wollte gerade auflegen.
„Er ist hier. Der Bacon. Er ist bei mir.“
Zweiter Teil
Seine Kehle wurde trocken. Er war nicht in der Lage zu schlucken. Dann – ein Klacken. Aufgelegt.
Den Hörer noch am Ohr, sank Tamin in den Stuhl. Es war gerade vierzehn Uhr. Eine Ausstellung verlangte seine Anwesenheit. Aber er konnte jetzt nicht gehen – nicht nach dem, was er gehört hatte.
Er wusste zwar nicht, ob es wahr war, aber er wusste, dass es Menschen gab, die sich einen Spaß daraus machten, ihn zu quälen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Tamin wie ein Verrückter nach Bacon suchte. Es war nicht der erste Anruf dieser Art gewesen.
Tamin besah den Kopf des Bacon erneut. Ihm fiel auf, dass er sich nicht bewegte. Er freute sich nicht. Der Kopf war still in seiner Existenz.
Zerrüttet. Zerfallen. Der Stil.
Er drehte das Bild auf den Kopf – in der Hoffnung, es würde sich etwas ändern.
Jetzt wirkte es tatsächlich so, als wäre etwas verloren gegangen, das sich aber gleich wieder fand. Auch das Licht, in dem er das Bild betrachtete, machte keinen Unterschied in seiner Wirkung.
Tamin wählte die Nummer seiner Schwester. Sie hatte Kunstgeschichte studiert. Zwar hatte sie nie in dem Beruf gearbeitet, aber immer ein offenes Ohr für ihn gehabt.
Ist es vielleicht genau das, liebe Schwester? Ist es vielleicht genau diese Monotonie, die ihn so unvergleichlich machte?
„Es ist immer noch das, was du daraus machst“, sagte sie nüchtern.
Bacons Kopf hatte nicht so viele Leute auf dem Zettel, wie man vielleicht erwarten würde. Er war wie ein berühmter Gast – damit irgendwie gesellig, zumindest damals wohl – aber deshalb zwangsläufig nicht immer eingeladen.
„Bruderherz, du solltest loslassen. Merkst du nicht, dass es nichts ändert? Bacon ist fort. Verstehst du?“
„Aber alles ist doch irgendwo, oder? Nichts ist für immer weg?“
„Ich sagte es dir schon mehrmals, lieber Bruder – und ich sage es jetzt wieder: Wenn Bacons Kopf noch da ist, dann ist er an einem Ort, wo er nie gefunden wird. Sonst wären doch längst Spuren aufgetaucht.“
„Ja. Ich verrenne mich schon wieder. Ich liebe dich.“ Dann legte er auf.
Einen Moment saß er nur da. Ein Klassiker aus den Achtzigern hallte in seinem Kopf nach.
Stille war es nicht, was er brauchte. Es hätte ihn buchstäblich zerrissen.
Dritter Teil
Freud und Bacon kannten sich. Sie waren sogar befreundet.
Aber in den Siebzigern kühlte die Freundschaft ab – und das war’s.
Egal waren sie sich wohl nie gewesen.
Nichts ist für immer. Gemälde aber schon. Und Bacons Kopf – ja wohl auch.
Am nächsten Morgen lag Tamin noch eine Weile im Bett, bevor er sich aufraffte. Er machte sich einen Kaffee. Die Ausstellung am Tag zuvor hatte ohne ihn stattgefunden – wie so oft.
Er traute sich manchmal nicht mehr aus dem Haus.
Es gab Tage, an denen sein Körper schwer war. Als würde er die Last der letzten Jahre mit sich herumtragen.
Dazu kam ein Kopf, überfordert von der Gesellschaft, vom Trott, von sich selbst.
Sein Blick wanderte nach links. Das Kalkwerk lag in Sichtweite.
„Den Francis Bacon verkauf ich nicht. Den Francis Bacon verkauf ich nicht.“
Eindringlich hallte diese Passage in seinem Kopf.
In sein Hirn geschossen.
Eine Langwaffe, die langsam an den Kopf gedrückt wurde – nur um dann kaum hörbar abzudrücken.
Bacon – er kann nicht weg sein. Es kann unmöglich sein, dass etwas Derartiges einfach aus der Welt verschwindet.
Tamin stand auf, nahm sich eine Staffelei und malte drauflos.
Ein Sommernachtstraum – wie klischeehaft, aber eindrucksvoll.
Heraus kam eine morgendliche Landschaft, aus dem Jahr 1910.
Keine Porträts. Keine Gesichter. Kein Close-up.
Er wollte nicht unter Beobachtung stehen.
Würde er etwas malen, das Aufmerksamkeit fände – das wäre ihm zutiefst unangenehm.
Zum Beispiel der Kopf, den er einst gemalt hatte: ein alter Mann, gezeichnet von Hungersnot und Elend. Aber wie er da stand – seine Schultern nicht herabgesunken, sondern nach oben gezogen. Vom Willen zu leben gezeichnet.
Ein Impuls ließ ihn in die abendliche Tristesse blicken.
Und da stand Clara. Auf der anderen Straßenseite.
Der Regen plätscherte, durchnässte ihren beigefarbenen Trenchcoat.
Sie hob den Kopf gen Himmel.
Warum, Gott, warum hast du mir das angetan?
Tamin wagte nicht, den Blick abzuwenden.
Dann sah sie ihn an – und lächelte verschmitzt.
Clara, liebe Clara. Wenn du doch eines Tages bei mir klingeln würdest…
Dann lief sie weiter. Sie ging schneller – wohl, um dem Regen zu entkommen.
Es war siebzehn Uhr.
Tamin merkte, wie seine Gedanken wieder ins Monologisieren abdrifteten.
Für einen Moment stellte er sich vor, Clara würde jetzt anrufen.
Das Vibrieren seines Handys riss ihn heraus. „Unterdrückt“, stand auf dem Display.
Er musste wohl rangehen.
„Ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich Bacon habe. Sie könnten derjenige sein, der ihn findet.“
Dann – Rauschen. Kein Klacken wie beim letzten Mal.
„Wer ist da?“
„Das ist ein übler Scherz. Sie können sich die Mühe sparen.“
„Ich kenne die Person, die Bacons Kopf 1988 aus Berlin stahl. Einfach mitgenommen hat.
Es war zu leicht, sagte er mir mal. Zu leicht. Er musste ihn einfach mitnehmen.“
Dann – Klack.
„Hallo! Was sagen Sie da! Es reic—“
Vierter Teil
Clara. Bacon. Schwester. Taube.
Das alles war passiert. Und er war tatsächlich anwesend gewesen.
Eine Liste mit Dingen, die er abarbeiten musste, hatte er zur Hand:
– Clara ansprechen.
– Bacon finden.
– Schwester sagen, wie sehr er sie liebte und vermisste.
– Die Taube auf eigene Faust vergraben.
Schräg? Sicher. Aber vieles andere war es auch.
Er suchte Claras Nummer heraus. Rief kurzerhand an.
„Clara, meine Liebe. Ich beobachte dich immer, wenn – ich meine, ich würde dich gerne öfter sehen. Vielleicht mal auf einen Kaffee. Ja, das wäre doch was.“
„Wer spricht da? Bist du’s, Tamin? Also sag mal. Ich schätze diese direkte Art, das weißt du. Aber…“
„Clara, ich bin’s. Tamin. Es tut mir leid, dass ich dich so offen störe. Aber ich mag dich.“
„Tamin, ich rufe dich in Kürze zurück. Es passt gerade nicht.“
Ein kurzer Dialog. Ein kurzer Hoffnungsschimmer.
Das erleuchtet den Tag, dachte sich Tamin.
Und jetzt zu dir,
Bacon, du gemeiner Schuft – wo versteckst du dich?
Das schrieb Tamin auf einen Zettel.
Als würde er eine Geschichte beginnen, die damit endet, dass er den Kopf des Bacon tatsächlich gefunden hätte.
Und die Welt wäre ein Stück besser.
Das glaubte er.
Die Familie würde sich bedanken. Und er hätte ein Kapitel seines Lebens abgeschlossen.
Liebe Schwester,
hier ist dein Bruder Tamin.
Seit unsere Eltern vor vielen Jahren gingen – und nie wieder kamen – waren wir zusammen. Wir passten auf. Wir passten sehr gut auf.
Ich rief dich oft an. Und du riefst mich des Öfteren zurück.
Du konntest nicht so oft anrufen, ich weiß – du hast Familie.
Aber deine Liebe erreichte mich in den dunkelsten Stunden.
Dafür danke ich dir.
In ewiger Liebe und Treue
Tamin
Diese verdammte Taube.
Tamin hatte sie noch am selben Tag selbst vom Boden aufgehoben und luftdicht verpackt.
Klar, es war seltsam. Aber er wollte es richtig machen.
Und keinen Dreck wollte er auch.
Er vergrub sie wie auf einem Friedhof. Bereitete alles wie ein Ehrengrab.
Schließlich war die Taube ein Opfer. Ein Opfer des Fortschritts.
Dann nahm er einen Revolver, den er sehr mochte. Sie hatten Stil.
Er hielt ihn sich an die Schläfe –
und drückte ab.
V1 10322 Zeichen