Von Ingo Pietsch

Die letzten Sonnenstrahlen erhellten die Galerie durch Panoramafenster von außen.
Innen leuchteten LED-Strahler die Kunstwerke aus.
Die Ausstellung war recht großzügig gestaltet, dass man genügend Freiraum fand, um sich zu bewegen und auch zu verweilen.
Für die Auswahl eines der Gemälde sollte man sich ruhig Zeit nehmen, denn es war eine Anschaffung, die man nicht so leichtfertig treffen sollte.
Es waren keine einfachen Gemälde, die hier zu sehen und auch käuflich zu erwerben waren: Nicht auf Leinwand hatte sich der Künstler verewigt, sondern auf schwarzen, Schiefertafeln mit unebener Fläche. Weiß auf Schwarz. Ausschließlich Landschaften von überall auf der Welt. Dabei waren die Unebenheiten der Oberfläche gekonnt in die Aussichten mit eingebunden worden.
Schon fast fotorealistisch muteten sie in der Negativ-Optik an.
Sie waren nicht jedermanns Sache, aber immer ein Hingucker, der Seinesgleichen suchte.
Auf einer der bequemen Bänke in der Mitte der Ausstellung saß ein junger Mann in dunkler Lederkleidung. Nicht so dicke Motorradklamotten, sondern leicht und leger. Er trug auch Handschuhe, was ihm einen etwas exzentrischen Touch verlieh.
Schon seit gut einer Viertelstunde starrte er auf die Cote d`Azur.
Obwohl es nur Schwarz-Weiß war, konnte er die Farben des blauen Meeres, die grünen Wiesen und die bunten Segelschiffe förmlich sehen. Das Bild hätte auch eine Fotografie sein können.
Das Kunstwerk hatte natürlich auch seinen Preis. Es war laut dem Schild ein Einfamilienhaus wert.
Der junge Mann konnte seinen Blick nicht abwenden, hatte die Hände gefaltet und die Stirn in Falten gelegt.
Was ihn umso mehr faszinierte, waren die Details, die nicht sofort ins Augen sprangen: Ein knorriger, alter Baum, der Wanderer erschreckte, ein Boot schien ein Geisterschiff mit zerfledderten Segeln zu sein und über einem Felsen baumelte ein Gehängter, vor dem ein Pfarrer nebst Bibel stand.
Und diese unterschwelligen, aber trotzdem aufdringlichen Kleinigkeiten zogen sich durch die gesamte Kollektion. Diese morbiden Feinheiten, die so gar nicht in die lebendigen, leidenschaftlichen Momentaufnahmen passten, reizten den Betrachter umso mehr.
Ein graumelierter Herr mit Zwirbelbart im Tweed-Anzug näherte sich auf leisen Sohlen, um den Beobachter nicht zu stören.
Als er herangetreten war, räusperte er sich leise und sprach nasal: „Eines meiner besten Werke. Es hat mich eine Menge Schweiß und Blut gekostet. Die Hitze war zu dieser Zeit unerträglich. Gar nicht zu sprechen von den Mücken, die allgegenwärtig waren.“ Er lachte verhalten.
Der junge Mann sah zu ihm auf: „Sie waren an all den Orten, die Sie gemalt haben?“
„Natürlich! Nichts geht über Authentizität.“
„Ich war als kleiner Junge zusammen mit meiner Mutter in Frankreich. Dieses Bild ist so lebendig, es scheint so, als bewegten sich die Grashalme und die Schiffe würden davonsegeln.“
„Ah, ein Kenner! Darf ich mich vorstellen? Gregor Kreutzinger.“ Damit schlug er die Hacken zusammen und reichte seinem Gegenüber die Hand.
„Jean Zinklär“, erwiderte Jean, wobei er seinen Vornamen Französisch aussprach.
„Sehr ungewöhnlich. Der Name kommt mir irgendwoher bekannt vor.“
„Das höre ich öfter. Mein Vater ist Franzose, meine Mutter Deutsche. Lange Geschichte.“
„Ich liebe Geschichten!“, freute sich Kreutzinger wie ein kleines Kind und klatschte in die Hände.
„Ein andermal vielleicht“, wechselte Zinklär das Thema.
„Von Berufs wegen komme ich viel herum, wie Sie ja unschwer an meinen Bildern sehen können. Und dann schnappt man ja das eine oder andere auf. Aber, was genau hat Sie zu mir geführt?“
„Es mag vielleicht klischeehaft daherkommen, aber ich brauche etwas Außergewöhnliches für mein Wohnzimmer“, Zinklär wies auf eines der Gemälde.
„In welche Richtung soll es denn gehen? Welcher ist ihr Lieblingsort?“
Zinklär kratzte sich am Kinn: „Ich mag Strände und Palmen.“
„Oh, da hätte ich etwas für Sie, ist gerade letzte Woche fertig geworden. Ganz frisch aus dem Urlaub, sozusagen. Folgen Sie mir bitte.“
Zinklär ging hinter Kreutzinger her.
Sie durchquerten die Halle und kamen in einen Raum, der das Atelier sein musste.
Überall lagerten Schiefertafeln in verschiedenen Größen. Eine metallene Staffelei, die einiges an Gewicht aushielt, stand inmitten der Rohlinge. Des Weiteren gab es jede Art von Pinseln und unzählige Gläser mit weißer Farbe, auf denen Etiketten mit den Namen von Ländern und Städten angebracht waren.
Zinklär war verblüfft. „Sie kommen wirklich viel herum. Aber nehmen Sie nicht immer die gleiche Farbe? Warum sind sie sortiert?“
„Eine sehr gute Frage! Wenn ich am Zielort bin, mache ich Fotos und Skizzen. Und dann mische ich die Farbe immer neu an. Sie ist nicht sonderlich lange haltbar, trocknen schnell aus“, Kreuzinger zuckte mit den Schultern.
Zinklär rümpfte die Nase: „Der Geruch ist etwas gewöhnungsbedürftig.“
„Ja, am Anfang schon“, Kreutzinger sog den Gestank, man konnte es nicht anders nennen, wie Rosenduft ein. „Aber jetzt möchte ich ihn nicht mehr missen. Außerdem verflüchtigt er sich schnell. Sonst könnte ich meine Bilder nur sehr schlecht verkaufen.“
„Was genau ist da drinnen?“ Zinklär hatte ein Glas in die Hand genommen.
Behutsam nahm Kreutzinger es ihm wieder ab und stellte es an seinen vorherigen Platz.
„Kreide – für den Kontrast, Essigessenz – damit die Farbe sich mit dem Schiefer verbinden kann und eine geheime Zutat“, zählte Kreutzinger schwärmerisch auf.
„Ist es vielleicht Moschus?“, riet Zinklär.
Kreutzinger verengte seine Augen: „Woher wissen Sie das?“
„Ich habe eine sehr feine Nase.“
„Nun gut. Hier ist das Bild, was ich meinte.“ Er zog das Tuch von der Staffelei. „Acapulco.“
Es war ein sehr großes Bild.
„Dafür braucht man sicher viel Farbe?“
„Oh ja“, raunte Kreutzinger geradezu berauscht mit geschlossen Augen.
Zinklär nutzte den Moment, schraubte blitzschnell den Deckel des Glases mit der Farbe aus Acapulco auf und zog einen Handschuh aus, um den Finger hineinzustecken.
„Was tun Sie da! Sie verunreinigen die Farbe!“
Zinklär fiel hintenüber. Was er gerade vor seinem geistigen Auge gesehen hatte, brachte einen Würgreiz hervor, der seinesgleichen suchte. Wenn er Personen und Objekte berührte, konnte er spüren, und sogar sehen, was zuletzt mit ihnen geschehen war.
„Zugriff“, krächzte er in ein verstecktes Mikro.
Ein SEK stürmte ins das Atelier und versuchte Kreutzinger zu überwältigen. Der wehrte sich mit Händen und Füßen, warf Farbgläser um sich und trat schwere Schieferplatten um, die die Einsatzkräfte behinderten. Aber innerhalb weniger Augenblicke lag er gefesselt am Boden.
Kommissar Gerhard Otto, Zinklärs Vorgesetzter, tauchte im Hintergrund auf und futterte gesalzene Erdnüsse.
„Ich glaube, das ist etwas unpassend“, meinte Zinklär, der sich wieder gefasst hatte.
„Was geht hier vor? Ich bin ein unbescholtener Bürger und Künstler. Das können Sie mit mir nicht machen!“, rief Kreutzinger, den man wieder auf die Füße gestellt hatte.
„Sie stehen im Verdacht, Touristen ermordet zu haben, die Sie dann haben verschwinden lassen“, zitierte Otto auswendig.
„Das ist doch lächerlich“, pikierte sich der Künstler.  „Ich male und sammle Impressionen“, empörte er sich regelrecht.
„Wir haben Videoaufnahmen, die Sie zusammen mit den verschwundenen Person zeigen, kurz bevor sie nicht mehr auffindbar waren. An mehreren Orten“, ergänzte Otto.
„Weil ich zufällig jemanden getroffen habe, der vermisst wird, bin ich noch lange kein Mörder. Ist das alles, was Sie haben?“ Geifer tropfte aus Kreutzingers Mundwinkel, denn er hatte sich Rage geredet.
„Zinklär, was haben Sie gesehen?“, wollte Otto wissen.
Zinklär zuckte zusammen: „Die letzten Opfer in Acapluco waren ein junges Pärchen.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie waren in einer Sauna. Kreutzinger hat irgendein Brennmaterial unter die Kohlen gemischt, was die Temperatur in die Höhe trieb. Der Raum war verschlossen. Sie konnten nicht fliehen. Sie schwitzten sich zu Tode, bis sie ihre gesamte Körperflüssigkeit verloren hatten.“ Zinklär wischte sich mehrfach seinen Finger ab, den er in die Farbe getaucht hatte. „Tatsächlich Moschus. Oder eher Schweiß. Wenn ihr DNS-Proben nehmt und sie vergleicht, werden sie wahrscheinlich übereinstimmen.“
„Das beweist gar nichts. Ihr habt keine handfesten Beweise gegen mich, nur Spekulationen!“
„Vorerst, aber die bekommen wir noch. Ups!“ Otto tat absichtlich unbeholfen und rempelte das Acapulco-Gemälde an, dass es ins Schwanken gerieten, herunterfiel und zerbrach.
„Nein, hören Sie auf! Das tut mir in der Seele weh. Ich gebe alles zu, aber tun Sie meinen Kindern nicht an!“ Kreutzinger hatte sich selbst verraten und lachte irr.
„Wo wir schon bei dem Punkt angekommen sind: Was haben Sie mit dem Rest der Leichen angestellt, der nicht verdampft war?“, Otto war neugierig geworden.
„Erst einmal habe ich mich an den Todesqualen ergötzt, die mir immer neuen Antrieb geben. Das Flehen, Schreien die fassbare Angst geben mir den Flow um mich zu verwirklichen. Mein Vater hat mich in seiner Trunksucht immer den Heizungskeller gesperrt, wenn der Ofen am heißesten brannte und mich dann erst wieder herausgeholt, wenn ich kurz vor dem Erstickungstod war. Diese Todesangst von damals gibt mir das Verlangen, dass andere es auch spüren sollen. Das ist mein Antrieb. Meine Genugtuung. Wenn dann von meinen  Begünstigten nicht mehr viel übrig ist und ich die Flüssigkeit aus einem Filter extrahiert hatte, fand ich immer einen armen Schlucker, der die Skelette gegen einen geringen Obolus in einem anonymen Grab verscharrte. Aber da könnt ihr lange suchen, nicht mal ich weiß, wo die Toten begraben liegen.“ Kreutzinger zappelte, als man ihn abführte.
„Alles OK, Zinklär? Die Fälle wären gelöst.“
„Wieviele es wohl gewesen waren?“, fragte Zinklär still vor sich hin.
Zinklär war ganz blass geworden, bei dem, was er gesehen und gehört hatte. „Ich werde die Sauna in nächster Zeit wohl meiden.“
„Und ich erst!“, da Otto die Sauna nie nutzte, schlug sich auf seinen dicken Bauch und warf sich noch ein paar Nüsse in den Mund.

 

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