Von Angelika Brox
Langsam nähert sich Christoph dem Grab. Neben ihm geht mit tapsigen Schritten sein kleiner Sohn. Die warme Kinderhand, vertrauensvoll in seine große gelegt, schenkt ihm ein wenig Trost.
Henry versteht noch nicht, dass dort in der Erde seine Mutter und seine große Schwester liegen. Christoph hat ihm erzählt, dass sie jetzt im Himmel wohnen. Hier unten ist ihr Garten, den Christoph und Henry für die beiden hübsch machen, damit sie sich freuen, wenn sie ihn von oben sehen.
Vor der Grabstelle bleiben sie stehen. Christoph ist dem Steinbildhauer von Herzen dankbar, denn der Meister hat zum Andenken an Nadine und Lilly ein wahres Kunstwerk geschaffen. So, wie sie es verdient haben. Schöner hätte er es sich nicht wünschen können.
In den Naturstein ist an jeder Seite der schlanke Stamm einer Birke gemeißelt. Am oberen Rand, über der Inschrift, berühren sich die Äste. Auf den höchsten Zweigen sitzen zwei weiße Tauben. Ihre Körper ragen über den Stein hinaus und heben sich vom Himmel ab … als könnten sie jederzeit in die Freiheit fliegen.
*
Zur Sicherheit nimmt Dennis gleich zwei Tabletten. Seit dem Unfall kann er ohne Chemie nicht mehr schlafen. Sobald er die Augen schließt, spürt er wieder, wie sein Auto in der Kurve ausbricht, sieht den Kleinwagen auf sich zukommen, sieht, wie er versucht auszuweichen, wie er über den Straßenrand hinausschießt und sich auf dem Acker überschlägt.
Er selbst kam mit leichten Verletzungen davon. Die junge Frau und das kleine Mädchen sind im Krankenhaus gestorben.
Könnte er doch nur die Zeit zurückdrehen! Nach der Übung der Freiwilligen Feuerwehr wollte er mit den Kameraden auf den erfolgreichen Abschluss anstoßen. Aber statt Bier hätte er Wasser trinken sollen. Oder das Auto stehen lassen.
Eigentlich hatte er sich noch nüchtern genug gefühlt. Dennoch ist er zu schnell in die Kurve gefahren, weil er dachte, er würde die Strecke auswendig kennen.
Was gäbe er nicht alles dafür, das Unglück ungeschehen zu machen! Könnte er doch mit den Opfern tauschen und an ihrer Stelle sterben!
Der arme Ehemann und Vater! Dennis hat es bisher nicht gewagt, sich bei ihm zu melden. Vergebung kann er sowieso nicht erhoffen. Der Schmerz dieses Mannes muss unermesslich sein.
Allmählich beginnen die Tabletten zu wirken. Dennis legt sich aufs Sofa und zieht sich die Decke über den Kopf. Seine Frau hat ihn aus dem Ehebett verbannt.
*
Christoph liegt im Bett und starrt in die Dunkelheit. Seit diesem schrecklichen Tag schläft er kaum noch. Wie soll er weiterleben ohne Nadine? Ohne die süße kleine Lilly? Wenn sein Sohn nicht wäre, hätte er sich schon längst umgebracht. Aber vorher würde er Dennis Bultemeier umbringen. Dessen Name hat sich in seinem Innersten eingegraben wie eine tiefe Wunde. Warum darf dieser Mensch weiterleben, nachdem er zwei seiner Liebsten aus dem Leben gerissen hat? Nadine war mit Lilly auf dem Weg vom Ballettunterricht nach Hause. Kann man sich etwas Harmloseres und Unschuldigeres vorstellen? Zu viert wollten sie einen schönen Abend verbringen.
Niemals hätte Christoph geglaubt, dass er jemanden so abgrundtief hassen kann.
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Dennis schreckt hoch. Natürlich hat er wieder vom Unfall geträumt. Wie jede Nacht. Doch dieses Mal hat ihn etwas anderes geweckt. Ein unregelmäßiges Klopfen am Fenster, als würde jemand Steinchen an die Scheibe werfen.
Er steht auf und öffnet die Terrassentür. Der Vollmond taucht den Garten in silbriges Licht. Es ist niemand zu sehen. Trotzdem spürt er eine unbestimmte Gegenwart, irgendetwas ist da. Seine Kopfhaut beginnt zu kribbeln.
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„Papa, bist du wach?“
Henry ist auf bloßen Füßen hereingetappt und steht vor ihm.
„Mama und Lilly waren in meinem Zimmer“, erzählt er.
Christoph richtet sich auf und streicht seinem Sohn übers Haar.
„Das war ein schöner Traum“, sagt er. „Möchtest du in meinem Bett weiterschlafen?“
„Nein, sie waren wirklich da. Ich will sie besuchen.“
Eine unerklärliche Unruhe erfasst Christophs Körper. Vor seinem inneren Auge erscheint das Denkmal für Nadine und Lilly. Die beiden Bäume, die zwei Vögel und die Inschrift: „Einmal sehen wir uns wieder.“
Auf einmal verspürt er den heftigen Wunsch, zum Friedhof zu fahren.
„Gut“, sagt er, „wir ziehen uns schnell an.“
*
Dennis steht auf dem Rasen, sucht mit den Augen den Garten ab und lauscht angestrengt.
Plötzlich raschelt es rechts von ihm. Sein Kopf fährt herum.
In den dunklen Zweigen des Flieders schimmert etwas Weißes. Sieht er schon Gespenster?
„Wer ist da?“, fragt er halblaut.
Als Antwort hört er das Schlagen von Flügeln im Gebüsch. Zwei weiße Tauben flattern vor seine Füße und stoßen lockende Rufe aus.
Wie unter einem magischen Zwang geht er ins Haus, zieht sich eine Jogginghose und eine Jacke über, nimmt die Autoschlüssel und fährt los.
Die beiden Vögel fliegen vor ihm her. Er folgt ihnen. An der Unfallstelle sind die Spuren, die der Kleinwagen in den Acker gepflügt hat, im Mondlicht deutlich zu erkennen.
Wider Erwarten fliegen die Tauben daran vorbei. Nach einer Weile versteht Dennis, wohin sie ihn führen wollen: zum Friedhof.
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Hand in Hand gehen Christoph und Henry über den verlassenen Friedhof. Grabsteine und Statuen werfen Schatten. Auf einigen Gräbern brennen Lichter.
„Lilly hat gesagt, sie findet ihren Garten schön“, erzählt Henry.
„Das freut mich“, antwortet Christoph.
„Mama hat gesagt, sie passt immer auf mich auf.“
„Das tut sie, ganz bestimmt. Und ich passe auch auf dich auf.“
*
Dennis drückt die Klinke des eisernen Tores herunter. Es ist nicht verschlossen.
Die beiden Tauben führen ihn zu einem Grab, auf dessen Grabstein zwei Birken eingemeißelt sind. Am oberen Rand berühren sich die Äste, darunter steht: „Einmal sehen wir uns wieder.“
Die Vögel setzen sich links und rechts auf seine Schultern und gurren ihm leise in die Ohren. Friedlich klingt es und unendlich beruhigend.
Endlich kann er weinen.
*
Abrupt hält Christoph an und drückt Henrys Hand.
Vor Nadines und Lillys Grab steht eine dunkle Gestalt!
Ungläubig reißt Christoph die Augen auf. Hocken die weißen Tauben vom Grabmal auf den Schultern des Fremden? Wie ist das möglich? Täuscht ihn das Mondlicht?
Er schüttelt den Kopf und blinzelt. Als er wieder hinschaut, sitzen die Tauben auf den steinernen Zweigen, als wären sie nie fortgewesen.
Christoph kann sich denken, wer dieser Mann ist. Er ballt die freie Hand zur Faust. Der Typ hat Glück, dass Henry dabei ist, sonst …
Sein Sohn reißt sich los und läuft auf den Fremden zu.
„Besuchst du auch den Garten von Mama und Lilly?“, fragt er.
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