Von Christiane Labusga
Ich war immer gern bei Oma. Und ich war oft bei Oma. Weil meine Mutter keinen Mann hatte und darum selbst auf Arbeit musste.
Oma hatte eine gemütliche Einzimmerwohnung, aber hinten, über den Hof, noch eine Garage, die ihr Atelier war. Sie hatte ja kein Auto, nur ein Fahrrad.
Wenn ich bei ihr im Atelier saß, zwischen all den Blumen, die sie sich immer wieder neu für ihre Stillleben arrangierte, bis sie verdorben waren (verwelkt nicht, denn Verwelken brachte unglaublich spirituelle Effekte hervor), durfte ich mich auch an Papieren und Stiften, die sie mir gab, auslassen. Natürlich kopierte ich sie, versuchte mich in den Blumen, verlor mich darin, sah nur noch den Farbrausch.
Oma sah mehr: „Du bist meine auserwählte Enkelin“, sagte sie eines Tages, „ ich werde dir mein Geheimnis zeigen!“
Sie winkte mich in eine dunkle Ecke in dieser Garage, wies auf ein mit schwarzem Stoff verhängtes Bild.
Sie streckte den Zeigefinger, ich streckte die Brust: Hier war etwas Wichtiges im Gange. Sie hob den Stoff. Darunter der Stich einer jungen Frau.
„ Ist deine Ur-Ur-Ur- und so weiter Großmutter. Dürer hat sie gestochen. In mehr als einem Sinn. Du bist seine Nachfahrin. Daher dein Talent!“
Ich rieb mir die Augen. Das war meine Oma. Nur viel, viel jünger. Ich schaute zu ihr auf: Aber ich sehe dir gar nicht ähnlich?
„Ach, Kind, das ist nicht schlimm, die Ähnlichkeit kommt und geht, ich bin nur gesegnet damit. Wenn du mal ein Kind hast, wird es sicher wieder ein „Dürer“. Ich werde dir den Stich vermachen, du bist die rechtmäßige Erbin. Denke daran, nur von der Großmutter zur Enkelin, erzähle deiner Mutter nichts davon!“
Ich erzählte niemandem davon. Eifrig verbrachte ich meine Zeit mit dem Anfertigen von Zeichnungen, Aquarellen und billigen Acrylbildern und landete schließlich, wie Oma damals, in der Städel-Schule. Niemand feierte die Aufnahme so wie sie. Und Sie nannte mich fortan: Mein Kind! (Immer mit Ausrufezeichen, natürlich, eine exaltierte Dame, meine Großmutter.)
Wie sie brachte ich es nicht weit. Hin und wieder eine Ausstellung und ein Kunsthändler, der sich nicht wirklich für mich interessierte. Ich lief mit. War immer irgendwie in Geldnot. Konnte froh sein, wenn jemand aus der Nachbarschaft ein noch feuchtes Bild abkaufte. Blumenstilleben. Gingen immer noch, irgendwie.
Wie meine Großmutter verbrachte ich viel Zeit auf Oster- und Weihnachts-Märkten ganz lokal, wurde auch mal, wie sie, aufgefordert, etwas für die Mitgliederausstellung des Kunstvereins beizusteuern und war im Ranking der jährlichen Ausstellung der Künstler vor Ort im Museum.
Meine Oma applaudierte. Ich war ihre Nachfolgerin, sagte sie immer, ich würde ihr Atelier erben und auch den Dürer-Stich. Ich sei das Dürer-Kind, auf das die Welt wartete.
Die Welt wartete nicht, jedenfalls bemerkte ich nichts davon. Stattdessen bemerkte ich heillos zerrüttete Finanzen. Ich konnte nicht einmal mehr meine Miete zahlen.
Dann starb Oma. Ich hatte kein Geld für die Fahrkarte.
Als ich es endlich zu Omas Wohnung geschafft hatte, hatten meine Geschwister schon alles ausgeräumt.
„Wart ihr auch in der Garage? Habt ihr den Stich eingepackt? Der gehört mir, Oma hat mir den vermacht!“
„Ja, wir haben alles ausgeräumt. Welchen Stich?“
„Den von Dürer!“
„Hahaha, ein Dürer! Das wäre sogar uns Kunstbanausen aufgefallen!“
Ja, genau. Der ist ihnen sicher aufgefallen. Und sie wollen ihn für sich behalten.
Trotzdem mache ich mich über den mit einem Tuch überhängten Bilderstapel auf dem Anhänger her, alles wird einmal bewegt, ich sehe noch einmal all die Blumen, die Freude, dann das kleine Format, immer noch abgedeckt. Ich reiße den Dürer an meine Brust, krabbel mit nur einer Hand aus dem Anhänger.
„Das hat sie mir geschenkt, schon vor Jahren. Es zeigt ein Bild unserer Ahnin, die mit Dürer ein Kind hatte. Ein Mädchen.“
Markus, mein großer Bruder, nimmt mir das Bild aus der Hand: „Was für ein Quatsch!“
Vorsichtig öffnet er den Rahmen, nimmt den Druck heraus, liest einen Text auf der Rückseite und lacht: „Diesen Dürer darfst du gern für dich allein beanspruchen. Wir verzichten großzügig!“
Verwirrt nehme ich den Kupferdruck in Empfang, lese auch auf der Rückseite den Vermerk:
„Ulrike Trabert, Selbstbildnis nach Dürer, Abschlussarbeit 1961, Kupferstich-Kurs Burkart.“
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