Von Irmi Feldman

 

Eines Tages tauchte er einfach auf. Kleinwüchsig, ja fast zwergenhaft, stand er in der Burghalle. Mit rötlichem Bart, braunem Wams, und schwarz-blau gestreifter Zipfelmütze, schräg über den Kopf gestülpt, der, betrachtete man die Kleinwüchsigkeit des Körpers, viel zu groß zu sein schien.

 

Mit einem Stock hatte er an das Burgtor geklopft, genau dreimal, und war sogleich, ohne dass ihm einer die Pforte geöffnet hätte, hindurchgetreten. Breit lächelnd stand er nun in der Großen Halle. In der linken Hand hielt er den schon erwähnten Stock. Unter dem rechten Arm klemmte ein in schmutziges Leinen gewickeltes flaches Paket.

 

Der Hofmeister war der Erste, der ihn in der Halle entdeckte. Stirnrunzelnd fragte er sich, wie dieser Alte unbemerkt in die Burg eindringen konnte. Die war doch, gerade jetzt, streng bewacht. Sofort eilte der Hofmeister davon, um dem König Bescheid zu geben. Und natürlich auch all den anderen Burginsassen. Nicht oft kam in diesen unruhigen Zeiten Besuch, und schon gar nicht solch Sonderbarer.  

 

„Mein König“, begann das Männlein, das sich als Kalodrian vorstellte. „Ich habe Euch ein Geschenk gebracht, von dem man noch lange reden werde.“

 

„Ein Geschenk?“, rief der König aus. „Von wem?“

 

Der König schaute Kalodrian misstrauisch an. Dies waren unruhige Zeiten. Sie standen im Krieg. Und überhaupt. Er kenne ihn nicht. Wer ihn schicke? Woher er komme? Ein Geschenk erwarte er nicht.

 

Keiner schicke ihn. Er sei auf eigenes Ansinnen gekommen, versicherte ihm Kalodrian. Er bringe ihm ein besonderes Geschenk. Ein Gemälde. Der König wisse es noch nicht, doch er brauche es dringend.

 

„So packe er es endlich aus“, befahl der König.

 

Kalodrian setzte das Paket auf einem Tisch ab. Bevor er es auspacke, müsse er Anweisungen geben, wie das Bild zu betrachten sei, erklärte er.

 

Anweisungen? Um ein Bild zu betrachten? Wie das?

 

Dieses Bild besitze die besondere Fähigkeit Dumme von Klugen zu unterscheiden. Die Dummen sähen nichts. Nur eine leere Leinwand. Die Klugen, allerdings, sähen ein wunderschönes Kunstwerk, so einzigartig, so delikat, so mysteriös, wie es kein Zweites in der Welt gebe.

 

Man bedenke nur die Auswirkungen für einen königlichen Hof wie diesen. Endlich könne man die klugen Berater von den Dummen unterscheiden. Kriege werde man gewinnen, wenn einem die klügsten Köpfe des Landes zur Verfügung stünden. Man bedenke nur die Macht eines Herrschers, der dieses Bild besitze.

 

„Mein König, seid ihr bereit es zu betrachten?“, fragte Kalodrian.

 

Der König schwieg. Ihm war plötzlich unwohl. Die Sache schien ihm nicht geheuer. Wollte er wirklich dieses Bild im Beisein seiner Untertanen betrachten? Was, wenn er, der König, nichts darauf sähe? Was, wenn die Leinwand unbemalt bliebe und sich die großartige Darbietung ihm nicht erschließen würde. Dann wäre er der Dumme. Diese Blamage. Das ging doch nicht an.

 

Gerade jetzt, mitten im Krieg. Seine Untertanen waren sowieso schon aufmüpfig. Wollten ihm nicht mehr folgen. Kriegsmüde waren sie. Ausgemergelt und verarmt.

 

Der König schickte seine Untertanen vor die Tür. Das Bild, erklärte er, wolle er zuerst allein betrachten. Zur Sicherheit. Man wisse ja nie.

 

Mürrisch machten sich die Burginsassen davon. Ungerecht sei das, flüsterten sie sich gegenseitig zu. Hinterhältig. Sie hätten ein Recht zu erfahren, ob ihr König zu den Klugen oder zu den Dummen zählte.

 

Doch der König blieb unbarmherzig. Er ließ sogar Wachen aufstellen, damit kein Unbefugter die Halle betreten konnte. Sogleich führte er Kalodrian in die am weitesten entfernte Ecke der Großen Halle und hieß ihn das schmutzige Leinentuch zu entfernen.

 

Des Königs Herz pochte zum Zerspringen. Die Spannung war kaum auszuhalten.

 

Schweißtropfen rannten über sein Gesicht. Nun mache er schon, trieb er Kalodrian an. Man habe schließlich nicht ewig Zeit.

 

Mit einem Ruck zog Kalodrian am Leinentuch und legte das Bild frei. Der König wurde blass. Da war nichts. Gar nichts. Nur die unbemalte Leinwand. Der meisterhaft geschnitzte Holzrahmen war edel, kunstvoll mit Blattgold unterlegt, aber in der Mitte war nichts zu sehen. Keine Spur dieses wunderbaren Anblickes von dem Kalodrian gesprochen hatte. Der König bekam weiche Knie. Er musste sich am Tisch abstützen, um nicht umzufallen.

 

„Ist es nicht umwerfend?“, schwärmte Kalodrian. Hingerissen starrte er auf die Leinwand. Deutete hierhin und dorthin, hob diese oder jene Besonderheit hervor, bewunderte den Pinselstrich, die eloquente Anwendung von Tupfen, die, betrachtete man sie aus der Ferne, ein himmlisches Gebilde darstellten. Beeindruckend. Bezaubernd. Betäubend. Man könne sich gar nicht sattsehen an diesem Kunstwerk.

 

Der König schluckte. Nickte. Sagte ah und oh und wie bemerkenswert. Wie es so etwas nur geben könne? Dass ein Bild fähig sei, Kluge von Dummen zu unterscheiden. Doch sosehr er auch auf das Bild starrte, von der Seite, von oben, von unten, blinzelnd oder die Augen zukneifend, er sah nur die weiße Leinwand. Ein bisschen angeschmutzt, das schon, aber ansonsten war da nichts. Ein schrecklicher Gedanke befiel ihn. Gehörte er etwa zu den Dummen? Er, der König? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Und wenn es so wäre, dann dürfe das nie jemand erfahren.

 

Aber was, wenn das Ganze nur ein Schwindel war? Was, wenn da wirklich nichts auf der Leinwand zu sehen ist, weil nie jemand etwas darauf gemalt hatte? Nun schwitzte der König noch mehr. Gab er zu, dass er was sah, was nicht da war, hielt man ihn für verrückt. Gab er zu, dass er nichts sah, wenn alle anderen vorgaben, was zu sehen, dann war er der Dumme. Das war gehupft wie gesprungen. Er konnte nicht gewinnen. Entweder würde man ihn für verrückt halten oder für dumm. Er wusste nicht, was schlimmer war. Für einen König, im Krieg oder nicht, sei beides jedenfalls eine Katastrophe.

 

Der König zermarterte sich den Kopf. Wen könnte er nur um Rat fragen? Seine Minister? Den Hofmeister? Die Pfaffen? Doch die könnten vorgeben, dass sie was sehen, auch wenn sie nichts sahen, weil sie eben auch nicht als dumm gelten wollten.

 

Die Situation war äußerst heikel.

 

Wie ihm das Bild gefalle, fragte Kalodrian.

 

Er habe sich noch keine Meinung bilden können, gab der König vor. Die ganze Situation sei zu ungewöhnlich.

 

„Ich verstehe“, sagte Kalodrian grinsend.

 

So ein Bild kann weitreichende Auswirkungen haben, warf der König ein. Man bedenke nur, wie schrecklich es wäre, wenn sich herausstellte, dass sein Hofstaat allesamt dumm war. Wo führe das nur hin? Der Ruf des Landes wäre dahin, wenn die Bürger herausfänden, dass der König von dummen Ministern umgeben war. Gerade jetzt, in Kriegszeiten. Zu Mord und Totschlag könne das führen. Außerdem wolle er seine Untergebenen nicht in zwei Gruppen einteilen, in Kluge und Dumme. Das sei nicht gut für die Moral. Die einen könnten die anderen verachten. Gar nicht auszudenken, was für Folgen das auf das ganze Land haben könnte.

 

Er stimme ihm zu, warf Kalodrian ein. Doch es biete ja auch Vorteile. Man könne die Dummen von den Klugen trennen. Wie bei den Erbsen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, sozusagen.

 

Der König nickte nachdenklich. Er sei sich nicht sicher, ob er das Bild behalten wolle, sagte er schließlich. Die Gefahr für das Königreich sei zu groß. Woher er das Bild überhaupt habe?

 

Fragend drehte sich der König nach Kalodrian um, doch der hatte sich schon aus dem Staub gemacht.  

 

Der König starrte wieder auf das Bild. Da wollte und wollte sich einfach kein Gemälde offenbaren. Sosehr er sich auch bemühte. Der Kopf tat ihm weh. Ihm war schwindelig. Er konnte sich kaum aufrecht halten.

 

Er fuhr mit dem Finger über die Leinwand. Vielleicht musste man ja was abkratzen, um das volle Ausmaß des Bildes zu erkennen. Doch auch nach eifrigem Kratzen, zeigte sich, außer dreckigen Kratzspuren und schwitzigen Fingerabdrücken absolut nichts.

 

„Dieses Geschenk ist ein Fluch“, stieß der König hervor.

 

Aber da es nun schon mal da war, und seine Untertanen davon wussten, werde er es ihnen auch zeigen müssen. Hastig bedeckte er das Bild, und ließ es in einer kleinen Kammer aufhängen, zu der nur er den Schlüssel hatte.

 

Dann rief er nach seinen Untertanen.

 

„Das Bild“, begann er, „offenbare sich den Klugen. Doch den Dummen verweigere es sich. Dumme würden nichts darauf erkennen.“

 

Jeder solle das Bild anschauen, doch auf gar keinen Fall, und er betone, auf gar keinen Fall, nie und nimmer, unter Androhung der Todesstrafe, verraten, ob er was sehe oder nicht. Dies sei notwendig, um die Allgemeinheit zu schützen, und um das Land nicht in zwei Gruppen zu spalten.

 

Einer nach dem anderen zog am Bild vorbei. Manche kicherten, ein paar schmunzelten, nicht wenige schluckten oder zogen hörbar die Luft ein. Viele erblassten. Doch keiner sagte etwas.

 

Der König war zufrieden. Das ging ja besser als befürchtet. Er beschloss, seine Untergebenen draußen im Lande ebenfalls in die Burg einzuladen, um ihnen das Bild zu zeigen. Das würde die Bevölkerung, die, wie er wusste, kurz vor einem Aufruhr stand, wieder enger an den König binden. Boten wurden hinaus ins Land geschickt, um die Nachricht zu verbreiten. Und alle kamen. In einer Schlange, die sich durch die Große Halle, hinaus aus dem Tor, über den Burghof, die Straße entlang, hinunter ins Tal und weit hinaus ins Land zog, warteten seine Untertanen geduldig auf Einlass.

 

Einer nach dem anderen besah sich das Bild, befingerte es, kratzte oder strich darüber, was dem König gerade recht war. Ja, er ermunterte seine Untertanen sogar, das Gemälde genau zu untersuchen. Da die Hände der Untertanen, die zum Teil wochenlang unterwegs gewesen waren, alles andere als sauber waren, entstand mit der Zeit ein ganz besonderes Gemälde. Jeder konnte nun etwas darauf erkennen. Die Fantasievollen mehr als die nüchternen Gemüter.

 

Der König war hocherfreut. Vielleicht sollte er seinen Kriegsgegner einladen und ihm das Gemälde zeigen. Er hatte da so eine Idee.

 

© Irmi Feldman, 2025, 9870z